Geburt.

[128] Feierliche Ruhe im Haus. Alles schleicht auf Zehen und dämpft die Stimme zu flüsterndem Ton. Die Thürangeln werden frisch geölt, damit jedes knarrende Geräusch vermieden, und auch in der musikbeflissensten Familie sind Übungen und alle Musikvorträge verstummt. Im Schlafzimmer die Fenster dicht verhängt, und feuchte Wärme, durchsetzt von Theegeruch, durchzieht den Raum.

Was ist geschehen – ein Unglück? Welch mächt'ger Bann hält das Haus gefangen und in Schweigen?

Trauervolles gewiß nicht! Denn auf allen Gesichtern liegt's wie Freude und Erfüllung froher Verheißung. Ein Wunder ist geschehen und dies Wunder stellt sich dar als ein kleines, rosiges Menschenwesen – ein Kindlein ward geboren!

Noch immer erklingt bei der Geburt des Menschen leise oder lauter das jubelnde Hosianna, das einst frommer Überlieferung nach Engelscharen bei Geburt[128] des Heilandes anstimmten. Und liegen die Verhältnisse noch so ernst und traurig, wird der Eintritt ins Leben nicht von einer ganzen Familie als frohes Ereignis begrüßt? – ein Hosianna erklingt doch, wenn auch vielleicht aus gramzerrissenem, schmerzdurchwühlten Herzen – das der Mutter. Und kann sie als machtlose Sterbliche auch nicht wie die Fee im Märchen dem jungen Weltbürger glückbringende Verheißung mit auf den Lebensweg geben – ein glückwünschendes Gebet von Mutterlippen empfängt auch das arm und niedrig geborne Kindlein bei erstem Erscheinen auf dem meist so dornigen Pfade, Leben genannt!

Wieviel mehr aber Grund zur Freude, wenn Verhältnisse und Familienleben glücklich und befriedigend und durch des Kindes Geburt vielleicht langgehegte Wünsche Erfüllung fanden – ja, es wohl gar ein erstes ist, das den Eltern ans Herz gelegt wird. Wie hat da die junge Mutter seit Monaten in Furcht und Hoffen der Verheißung entgegengebangt, die sich auch an ihr erfüllen sollte, wie hat sie gesorgt und geschafft lange vorher, um alles zum Empfang des kleinen Wesens vorzubereiten, und gewiß, selbst in des Reichtums Fülle, hier und da selbst mit Hand angelegt, die kleine Aussteuer herzurichten.

Gewöhnlich erhält die junge Frau letztere ja von der Mutter, falls ihr diese lebt. Aber ein Übriges zu thun und das eine oder andre Stück selbst anzufertigen, wird sich selten die deutsche Frau nehmen lassen, die sich mit Mutterhoffnungen trägt. Auch[129] wenn liebe Freunde und Verwandte, ihre Freude teilend, sie durch einen sinnig gewählten Gegenstand zur Ergänzung der kleinen Aussteuer überraschen, wird sie das dankbar hinnehmen, denn wie wollte sie der Liebe wehren, die ihrem Kinde gilt?

Die Vergnügungen der Welt existieren für sie in diesen Monaten der Erwartung nicht, wenigstens soweit solche große Toilette oder Zwang erfordern, der ihrer Gesundheit schaden könnte. Tägliche Spaziergänge sind allerdings bis zuletzt fortzusetzen doch wird die Dame der guten Gesellschaft in dieser Zeit alles Auffällige in ihrer Kleidung vermeiden und diese möglichst einfach und angemessen wählen, ebenso recht lange und einhüllende Straßenumhänge vorziehen. In der letzten Zeit wird der Verkehr ausschließlich auf die Familie beschränkt; aber auch im vertrautesten Kreise wird es die feinfühlige Frau vermeiden, ihren Zustand und das bevorstehende Ereignis zum Gegenstand von Erörterungen zu machen, besonders wenn größere Kinder oder gar junge Mädchen zugegen. Es ist für letztere äußerst peinlich, Andeutungen dieser Art mit anhören zu müssen, oder aber es erweckt ihre Neugier und regt sie an, über Dinge nachzugrübeln, die ihnen vorläufig besser fern bleiben. Ohne der Prüderie irgendwie das Wort zu reden, möchten wir doch dafür eintreten, jungen Mädchen so lange als möglich ihre Unbefangenheit und das Gefühl keuscher Schamhaftigkeit – die erste Bedingung edler Weiblichkeit – zu erhalten. Wenn die Zeit für sie gekommen sein wird,[130] in die Geheimnisse des ehelichen Lebens und der Mutterschaft eingeweiht zu werden, übernimmt die Mutter oder eine ältere Verwandte gewiß rechtzeitig diese Pflicht, vorher soll man jedoch alles vermeiden, was ihr jungfräuliches Gefühl verletzen könnte. Freilich ist die naturalistische Richtung unsrer modernen Litteratur in dieser Beziehung andrer Meinung und fordert geradezu die Aufklärung der jungen Mädchen in allen Dingen, welche man ihnen bisher schamhaft zu verhüllen trachtete. In Schrift und Wort, durch Bücher und dramatische Vorführungen suchen die Vertreter dieser Richtung nicht nur die Nachtseiten des menschlischen Lebens, alles Häßliche, Gemeine und Krankhafte als getreues Abbild der Wirklichkeit darzustellen, sondern sie schildern mit besonderer Vorliebe Szenen des intimen ehelichen Lebens und der Wochenstuben bis in alle Einzelheiten hinein. Es haben sich freie Bühnen und freie litterarische Vereinigungen gebildet, welche als vornehmsten Zweck solche Veröffentlichungen anzustreben scheinen, während es doch ihre Hauptaufgabe sein sollte, für alles Anerkennenswerte und Berechtigte der modernen litterarischen Richtung Propaganda zu machen. Man mag das damit ja nun halten, wie man für gut findet und all diese Bestrebungen haben ihre Existenzberechtigung wie alle anderen eben auch. Wenn aber eine Gruppe moderner Schriftsteller es für notwendig hält, über die Geheimnisse der Wochenstube und alles, was vorher und nachher damit zusammenhängt, zu schreiben und zu sprechen, sollten[131] doch Frauen oder wenigstens junge und jüngste Mädchen solchen Veröffentlichungen fern bleiben. Jeder, der einmal der Darstellung einer freien Bühne oder Vortragsabenden freier litterarischer Vereinigungen beigewohnt weiß, welch peinvollen Eindruck es macht, dort junge Mädchen in großer Zahl anzutreffen, welche obenein ohne Erröten die unverhüllte Besprechung mancher Dinge, deren Erwähnung älteren Frauen das Blut in die Wangen treibt, mit anhören. Und schmerzlich fragt man sich da: Ist keusche Schamhaftigkeit erstorben in unsrer Zeit? Dies ist nun. Gott sei Dank, nicht der Fall. Wenn sie aber nicht mehr überall so sorglich gehütet wird, als dies im Interesse echter Weiblichkeit zu wünschen wäre, so ist das allerdings ein Erfolg den naturalistische Schriftsteller auf ihre Fahne schreiben können; Grund, darauf stolz zu sein, liegt wahrlich nicht vor und sie selbst dürften einst durch die Weiblichkeit abgestoßen werden, welche sie sich durch Schrift und Wort herangezogen oder vielmehr alles Schmucks und Schmelzes beraubt haben. –

Auch hier ist es ernste Aufgabe der Mütter, ihren Töchtern nach Kräften keusche Unberührtheit zu erhalten und deshalb


1. die Bücher zu überwachen, welche in deren Hände gelangen,

2. sie nicht in Theater oder Gesellschaft zu führen, in denen schlüpfrige oder sexuelle Dinge zu Erörterung kommen,[132]

3. im eigenen Hause jede Andeutung auf solche wie überhaupt jede Zweideutigkeit streng zu verpönen.


Und somit wären wir nach dieser Abschweifung wieder im Familienkreis und bei der jungen Mutter angelangt, die eben ihr Neugebornes begrüßte. In größeren Verhältnissen wird für das zu erwartende Ereignis wohl in liebender Fürsorge eine besondere Wochenstube hergerichtet, so ein lauschiges Nest, in dem Mutter und Kind möglichst ungestört ruhen können. Es empfiehlt sich auch, vorher wiederholt einen Arzt zu Rate zu ziehen, welcher die nötigen sanitären Verhaltungsregeln geben wird. Falls nicht die Mutter oder eine ältere Verwandte die Pflege der Wöchnerin übernehmen kann, ist es durchaus anzuraten, eine erfahrene weibliche Person für dieselbe zu gewinnen. Vernachlässigung, oft nur durch Unerfahrenheit hervorgerufen, rächt sich bitter.

Wer fragt freilich nach den zahllosen armen Wöchnerinnen, die keine sorglich eingerichtete Wochenstube, keine Ruhe und Pflege und oft nicht einmal das Nötigste zum Leben haben! Und da möchten wir in diesem Buch, das voraussichtlich doch nur von solchen, die des Lebens Not nicht kennen, gelesen werden wird, die herzliche Mahnung aussprechen: Gedenket, wie immer und überall, hier noch besonders der Armen! Jede Frau, die sich mit Mutterhoffnungen trägt und aus mehr oder minder reichlichen Mitteln die Aussteuer für das erwartete Kindlein herrichtet,[133] sollte den übrigen Ausgabeposten von vorn herein ein Scherflein beifügen, das für arme Wöchnerinnen bestimmt ist. Zum Unsegen wird ihr solch Thun wahrlich nicht gereichen!

Aber auch andere Pflichten als geeignete Pflege von Mutter und Kind treten an den Gatten und Vater heran. Da heißt's dem jungen Weltbürger einen Namen geben – meist hat man darüber ja schon vorher entschieden.

Einem Knaben wird gewöhnlich der Name des Großvaters und Vaters, oft auch desjenigen Paten beigelegt, den man besonders zu ehren wünscht. Den Rufnamen wählen Eltern meist nach Neigung und Geschmack, doch ist es besser zu vermeiden, sich für allzu hochtrabende oder ungewöhnliche Namen zu entscheiden, da solche das Kind leicht – in der Schule sowohl als auch im späteren Leben – der Lächerlichkeit preisgeben könnten. Eine Waschfrau, die viel in adligen Häusern beschäftigt wurde, hatte z.B. ihrer zahlreichen Kinderschar Namen wie Kunibert, Feodora, Wolf u.s.w. beigelegt, was den armen Kindern unglaublichen Spott von den Spielgefährten eintrug. Aber auch in gebildeten, gut bürgerlichen Kreisen sollte man auf allzu romantische oder fantastische Namen verzichten. Wir gedenken noch des unverlöschlichen Gelächters in der ersten Klasse einer höheren Töchterschule, wenn eine, unglücklicherweise noch sehr häßliche Schülerin vom Lehrer feierlich »Desdemona Schulze« angeredet wurde![134]

Ferner ist das Kindlein in die staatliche Gemeinschaft einzureihen, indem man die betreffende Meldung beim Standesamt macht. Die gesetzlichen Vorschriften über diese Formalität wird jeder Hausvorstand kennen oder sich doch gegebenen Falls darüber unterrichten. Sodann heißt's, falls Mittel und Neigung dafür vorhanden, der jungen Mutter ein erfreuendes Geschenk oder sonst irgend eine liebevolle Aufmerksamkeit zu Teil werden lassen – kein zärtlicher oder auch nur einsichtsvoller Gatte wird das versäumen! Die nächste Pflicht ist, den Verwandten und Freunden des Hauses von dem frohen Ereignis Mitteilung zu machen. Leben die Eltern des Paares in derselben Stadt, können sie wohl erwarten, daß der Sohn oder Schwiegersohn ihnen persönlich die Nachricht überbringt; näheren Angehörigen sendet man kurzen brieflichen Bericht und für den weiteren Freundes- und Bekanntenkreis kommen dann die bestellten, lithographierten oder gedruckten Anzeigen, die auch dort anzuraten sind, wo eine officielle Mitteilung in der Zeitung von dem frohen Ereignis Kunde giebt. Da man aber in allen Zeitungen nicht inserieren kann und es höchst fraglich, ob unsere Bekannten gerade diejenigen lesen, welche wir zur Veröffentlichung wählten, sind besondere Anzeigen unerläßlich. Der Wortlaut derselben – man läßt ihn gewöhnlich mit dem Zeitungsinserat übereinstimmen – muß so kurz und allgemein als irgend möglich gehalten sein. Es genügt völlig, wenn man sagt: »Heute wurde uns ein Knabe geboren« oder:[135] »Durch die Geburt einer Tochter wurden erfreut« – sowie Datum und Name der Eltern, denen Familienname der Mutter beizufügen ist. Es ist weder hübsch noch sein, in der Anzeige der besonderen Freude über das Ereignis – denn sie ist selbstverständlich – oder seinem Dank gegen Gott Ausdruck zu geben, noch weniger schickt es sich, über den Akt der Geburt auch nur andeutend zu sprechen. Auch von der Beschaffenheit des Neugebornen zu berichten (»derber Junge, kräftiges Mädchen«) ist durchaus entbehrlich, weil nicht schön. Geben doch die Eltern mit der Geburtsanzeige eigentlich nur die Visitenkarte des Kindes ab und wer hätte auf seiner Karte außer Namen und Titel noch irgend welchen, das Persönliche betreffenden Vermerk?

Gedruckt vorrätige Karten, denen nur Name und Datum beizufügen, gelten längst nicht mehr als passend und werden nur von Leuten niedern Standes benutzt. Am besten sind und bleiben geschriebene Anzeigen, doch verbieten sich solche bei ausgedehntem Freundeskreise ja von selber.

Diejenigen nun, welche eine derartige Mitteilung empfangen, haben baldmöglichst, jedenfalls aber innerhalb von acht Tagen schriftlich ihren Glückwunsch zu dem frohen Ereignis auszusprechen, dem wohl auch eine Anfrage nach dem Befinden der Mutter beizufügen ist. Lebt man am selben Ort, ist es geboten, alle zwei oder drei Tage durch persönlichen Boten Nachricht hierüber einziehen zu lassen. Nimmt die Genesung ihren normalen Verlauf, kann man vom[136] zehnten Tage ab selbst seinen Besuch machen, um die schriftlich ausgesprochenen Glückwünsche persönlich zu wiederholen, nach dem Ergehen der Mutter zu sehen und – den neuen Ankömmling zu bewundern! Denn bewundert muß das Neugeborne in jedem Falle werden, auch wenn es ein Ausbund von Häßlichkeit. Für die Mutter ist es jedenfalls das schönste und liebste Kind vor allen anderen und es würde sie bitter kränken, wollte man das Gegenteil behaupten, selbst wenn dies Gegenteil die Wahrheit. Wie wir nun aber bei aller Wahrheitsliebe doch im gesellschaftlichen Verkehr der conventionellen Lügen nicht entraten können, so mag auch diese Lüge, wohl der frömmsten eine, unser Gewissen nicht weiter beschweren. Und nicht nur mit schönen Worten sollen wir uns der Wöchnerin nahen und ihr den ersten Besuch machen, sondern unserer freundschaftlichen Gesinnung auch durch andere Beweise Ausdruck geben. Blumen, ob nun zum Strauß geeint oder als Topfgewächs, sind unerläßlich und eine stets willkommene Gabe; Näherstehende können auch wohl noch irgend etwas zur Pflege und Erquickung der Genesenden, als Näscherei, seltene Früchte oder edle Weine beifügen, gleichsam als Ersatz für die sonst üblichen Wochensuppen. In der Großstadt verbietet es sich der weiten Entfernung wegen ja von selbst, solche zu senden, aber auch in kleinen Städten kommt diese hübsche, alte Sitte allmählich in Wegfall. Gutes Geflügel oder ähnliche Sendungen werden ja immer willkommen sein, auch im reichsten Haushalt,[137] da den Wert der Gabe doch stets die freundliche Gesinnung bestimmt oder, je nachdem, das materielle Gewicht desselben abschwächt.

Ob nun aber der erste Wochenbesuch mit leerer oder gefüllter Hand unternommen wird, kurz muß er unter allen Umständen bemessen werden, um auf die Genesende nicht schädlich zu wirken und die zu gedachte Freundlichkeit in Unheil zu verkehren. Aufregende Gespräche jeder Art sind zu vermeiden und Bemerkungen über ein auffallend angegriffenes Aussehen der jungen Mutter ebenso zu unterdrücken wie die vorhin berührten abfälligen Äußerungen über das Neugeborene. Freunde werden diese Besuche von Zeit zu Zeit wiederholen, bis die Wöchnerin wieder ganz gesund, diese aber wird, sobald ihr Befinden das Ausgehen erlaubt, nicht versäumen, für alle empfangenen Freundlichkeiten durch Gegenbesuch zu danken. Daß der erste Ausgang dem Besuch des Gotteshauses gelte, ist eine alte, schöne Sitte, die leider, wie so viele andere fromme und gemütvolle Gebräuche aus früherer Zeit, allmählich in Verfall gerät. Derselben auch heute noch zu folgen, ist Sache des Gefühls. Wer nicht zu den Freigeistern gehört, der Trauung auf dem Standesamt die kirchliche Einsegnung folgen läßt, ebenso für sein Kind die geistliche Gemeinschaft durch die heilige Taufe zu erlangen sucht, der oder die Gläubige wird es auch nicht entbehren wollen, an geheiligter Stätte für alle empfangene Gnade zu danken und das junge Menschenleben dem Schutze des Höchsten zu empfehlen.[138]

Daß es gleiche Pflicht der Höflichkeit ist, die von auswärtigen Freunden empfangenen Glückwunschschreiben zu beantworten als die persönlichen Besuche zu erwiedern, ist selbstverständlich. Sobald aber alles dies erledigt, werden christliche Eltern an


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 128-139.
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