|
Sindelsdorf, 14.1.1911
Lieber August, ich bin glücklich aus Berlin zurück; Maria geht es leidlich; eine Blinddarmreizung, zum Glück im Anfangsstadium, so daß sie durch eine strenge Hungerkur bei langem Stilliegen ohne Operation geheilt wird. Die Eltern haben mich dringend zu dieser Reise eingeladen, um ihrer Tochter eine Freude zu machen, und benahmen sich äußerst freundlich und nett, so daß die Tage recht gemütlich verliefen. Ich besuchte Nauen, der viel von seinen Sachen (zu Hause und bei H. Talbot) zeigte. Seine Kalkreuth-Zeit ist mir direkt[39] unsympathisch (wie mir selbst meine eigenen früheren Sachen, mit dem Unterschied, daß ich die meinen nach Möglichkeit sämtlich zerschnitten habe). Was er aber im letzten Jahr gemacht hat, ist glänzend. Er steuert damit geradenwegs der Vereinigung in die Arme, (was er selbst nicht ganz so zu empfinden scheint; er wehrt sich, glaube ich, innerlich dagegen; es wird ihm aber nichts helfen!) Er denkt sehr, nach München zu kommen, was mich ungeheuer freuen würde.
Bei Koehler war ich natürlich auch; ich frug ganz harmlos nach dem Bronzekopf, den Du ihm im Sommer geschickt haben sollst. Er wußte von nichts, so daß ich gleich sagte, ich müsse Dich darin mißverstanden haben, – Kreuzelement! Du hast uns doch erzählt, Du habest einen Kopf modelliert, gießen lassen und ihn ihm geschickt oder hab ich das geträumt? Koehler kommt nächstens nach München.
Ich war sehr ausgiebig im Völkermuseum, um die Kunstmittel ›primitiver Völker‹ (wie sich Koehler und die meisten Kritiker von heute ausdrücken, wenn sie unsere Bestrebungen charakterisieren wollen) zu studieren. Ich blieb schließlich staunend und erschüttert an den Schnitzereien der Kameruner hängen, die vielleicht nur noch von den erhabenen Werken der Inkas überboten werden. Ich finde es so selbstverständlich, daß wir in diesem kalten Frührot künstlerischer Intelligenz die Wiedergeburt unseres Kunstfühlens suchen und nicht in Kulturen, die schon eine tausendjährige Bahn durchlaufen haben, wie die Japaner oder die italienische Renaissance. Ich bin in diesem kurzen Winter schon ein ganz anderer Mensch geworden. Ich glaube allmählich wirklich zu begreifen, auf was es für uns ankommt, wenn wir uns überhaupt Künstler nennen wollen; wir müssen Asketen werden, – erschrick nicht; ich meine dies nur in geistigen Beziehungen. Wir müssen tapfer fast auf alles verzichten, was uns als guten Mitteleuropäern bisher teuer und unentbehrlich war: unsere Ideen und Ideale müssen ein härenes Gewand tragen, wir müssen sie mit Heuschrecken und wildem Honig nähren und nicht mit Historie, um aus der Müdigkeit unseres europäischen Ungeschmacks herauszukommen. Lächle nur über den komischen Sermon, den ich nicht Dir, sondern mir halte.
Ein musikalisches Ereignis in München hat mir einen starken Ruck gegeben; ein Kammermusikabend von Arnold Schönberg (Wien). Zwei Quartette, Klavierstücke und Lieder. Es war das einzige Konzert, das ich diesen Winter besuchte, – ich roch den Braten und bewog die Vereinigung, mitzukommen; sie hatten übrigens auch schon einen Duft davon in der Nase. Das Publikum benahm sich pöbelhaft wie Schulfratzen, nieste und räusperte sich unter Kichern und Stuhlrücken, so daß es sehr schwer war, der Musik immer zu folgen. Kannst Du dir eine Musik denken, in der die Tonalität[40] (also das Einhalten irgend einer Tonart) völlig aufgehoben ist? Ich mußte stets an Kandinskys große Komposition denken, der auch keine Spur von Tonart zuläßt (im Gegensatz zu Bechtejeff und Erbslöh) und auch an Kandinskys ›springende Flecken‹ bei Anhören dieser Musik, die jeden angeschlagenen Ton für sich stehen läßt (eine Art weißer Leinwand zwischen den Farbflecken!). Schönberg geht von dem Prinzip aus, daß die Begriffe Konsonanz und Dissonanz überhaupt nicht existieren. Eine sogenannte Dissonanz ist nur eine weiter ausein anderliegende Konsonanz. – Eine Idee, die mich heute beim Malen unaufhörlich beschäftigt und die ich in der Malerei so anwende: Es ist durchaus nicht erforderlich, daß man die Komplementärfarben wie im Prisma nebeneinander auftauchen läßt, sondern man kann sie so weit man will ›auseinanderlegen‹. Die partiellen Dissonanzen, die dadurch entstehen, werden in der Erscheinung des ganzen Bildes wieder aufgehoben, wirken konsonant (harmonisch), sofern sie in ihrer Ausbreitung und Stärkegehalt komplementär sind. Ich male z.B. ein Waldinterieur. Statt nun die Bäume komplementär in Licht-, Kern- und Schatten-Seite und in ihrem Verhältnis zum Boden und Hintergrund zu malen, male ich den einen rein blau, den nächsten rein gelb, grün, rot, violett usw. (soviel Farben mir im Naturbilde, hier aber gemischt und nebeneinander erscheinen). Desgleichen trenne ich die Farben des Terrains und der Laubpartien in einzelne, abgegrenzte reine Farbpartien, die ich mit künstlerischem Geschmack und Instinkt (aber ohne genaue Rücksichtnahme auf das Nebeneinander der Komplementärfarben) über das ganze Bild verteile. Den Beweis, ob ich die Farben in einem richtigen Wertverhältnis angewendet habe, liefert das Prisma, das im letzteren Falle ein ganz reines Bild spiegelt. Das Prisma verlangt meiner Erfahrung nach durchaus nicht das Nebeneinander der Komplementärfarben im Bild.
Das Ziel, ›auf's innigste zu wünschen‹, ist nun natürlich, so etwas ohne theoretische Überlegung herauszubringen, rein aus einem gesunden Farbeninstinkt, wie es die primitiven Völker alle hatten. Daß wir daraus ›Bilder‹ machen wollen und nicht nur bunte Säulen und Kapitale und Strohhüte und Tongefäße, – ist unser Vorzug, unser ›Europäertum‹.
Schönberg scheint, wie die Vereinigung, von der unaufhaltsamen Auflösung der europäischen Kunst- und Harmoniegesetze überzeugt und greift zu den musikalischen Kunstmitteln des (bis heute) primitiv gebliebenen Orients. Ich bin leider musikalisch zu ungebildet, um diese Musik näher zu erläutern und Dir vorstellbar zu machen; aber vielleicht weiß man in Euren Kreisen etwas darüber; (kaum da, wo immer Beethoven gespielt wird, wie bekommt er Dir?) Nach dem Konzert tranken wir mit Kandinsky, Jawlensky, Münter und Werefkin einige Fläschlein im Ratskeller. Werefkin[41] ließ sich eine Artischocke servieren. Helmuth, der diese Blüte nicht kannte, frug ganz unschuldig, ob das ein Lotos sei, – tableau!!!
Ich hab mit Maria viel über die musikalischen Dinge beraten, zeigte ihr auch Deinen Brief; sie kann sich unter Deinen Analogien von Farben und Tönen nichts denken; sie hat sehr andere Ideen darüber, die sie jetzt in ihrem Klausnerleben etwas ordnen und befestigen will. Sie verfolgte anfangs die Idee, die Ton arten (und deren Mischung) mit den Tönen zu vergleichen, kam aber dabei auch zu keinen praktischen Resultaten, auf die es doch ankommt. Sie vergleicht aber viel und sehr glücklich moll und dur mit Bildern, moll – warm und dur – kalt, aber nicht so sehr auf die einzelne Farbe anzuwenden, als auf die Haltung eines ganzen Bildes; Kandinsky ist dur, Bechtejeff moll (in seiner ›Amazonenschlacht‹ und auch den ›Hesperiden‹) mit einigen Durklängen, die sich bei ihm nicht farbig, sondern formal zeigen (die scharfen Winkel; die ›kalte Linie‹ in den ›Hesperiden‹). Jawlenskys ›Weiße Feder‹ ist moll, die meisten seiner Sachen sonst dur, Erbslöh rein moll. Dagegen hängt bei Erbslöh ein Aktbild von ihm, das nicht sehr glücklich wirkt, obwohl man anfangs gar nicht weiß, was man dagegen einwenden soll. Es scheint Maria in dur gemalt, statt wie es sollte, in moll. Dasselbe Experiment kann man ja in Musikstücken machen. Es existieren sogar solche falsch gegriffene Stücke.
Wenn wir einmal nach Bonn kommen, wollen wir uns an's Experimentieren machen!
Hast Du erfahren, daß Cassirer, nachdem er sich die Kollektion per Expreß aus Hagen ausdrücklich hat schicken lassen, um sie, gemäß unterzeichnetem Vertrage, im Januar bei sich auszustellen, plötzlich nach Ankunft der Sachen sich weigert, sie auszustellen? Grund: es seien nicht, wie im Vertrag steht, ›Werke Münchener Künstler‹!! Erbslöh hat natürlich sofort einen Prozeß angestrengt, der nun läuft. Ich bin sehr neugierig, wie die Sache ausgeht. Es stecken ohne Zweifel Liebermann und Corinth dahinter, die ihm das Messer auf die Brust gesetzt haben.
Es soll übrigens ein neuer Kunsthändler [Herwarth Walden, d. Hrsg.] für die moderne Kunst nach Berlin kommen; das Unternehmen scheint finanziell schon gesichert zu sein; quod dii bene vertant!
Dein Stöhnen angesichts dieser langen Schreiberei geschieht Dir ganz recht. Du wirst für Deine Faulheit im Schreiben gestraft. Der gute Helmuth ist ganz bös, daß Du ihm kein Sterbenswörtchen über seinen Watteau schreibst; Du könntest doch wenigstens schimpfen (was ihm gar nicht schaden würde), aber gar nichts ist ein bissel wenig, hörst Du?
Was treibt Ihr? Wie steht's mit dem Atelier? Malst Du überhaupt? Oder läßt Du Dir nun allerorts Beethoven vorspielen, um Dich für[42] mein besagtes Asketentum langsam vorzubereiten; es ist vielleicht ein ganz gutes Mittel.
Nun adio, grüße Deine Frau herzlichst und schreibe einmal wieder, und wenn's ein Furzbrief ist, Dein
Fz. Marc
Buchempfehlung
In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.
138 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro