69 [64] Brief an Wassily Kandinsky

Berlin, 16. (?) 1.1912


L.K., Dank für Ihren ausführlichen Brief. Über die Berliner werden wir uns, wie es scheint, nicht so bald einigen. Bei mir überwiegt die alte tiefe Sehnsucht, wirklichen Künstlern die Hand zu drücken, und die Freude, dies nun auch in Berlin zu erleben, jedes Bedenken und jedes Geschmacksvorurteil, das sich eventuell vordrängen will. Künstlerisches ist immer rein. In der Sendung, die Ihnen von Pechstein, Kirchner und Heckel zugehen wird, sind auch ausgesprochene Erotikas und manches andere, was ich nicht für die Bl. Reiterausstellung mitnahm, sondern nur für andere Zwecke mitnahm. Ich möchte mir in München über dies alles noch einmal Rechenschaft geben. Heute geht ein Paket mit Zeichnungen von dem 20jährigen Morgner (Soest, Westphalen) ab, interessante Sachen; etwas stört mich hier die vor allem für sein Alter fabelhafte Geschicklichkeit. Dazu einige Sachen von Tappert, von denen ich nicht besonders viel halte; aber seine Persönlichkeit und auch seine rührende Hingabe für das Fortkommen von Morgner, die ich herausfühlte (– beide sind blutarm) bewog mich; vielleicht kann ich ihm was verkaufen. Seine Bilder sind für uns unmöglich.

Der Besuch von Braune war fein. Wir haben zwei Tage lang (vor seinem Kommen) die ganze Galerie neu gehängt, vieles ausgeschieden. Braune war vor diesen wunderbaren Sachen sichtlich – platt; das hatte er nicht erwartet. Ich hab ja noch ein paar wunderbare Byzantiner für Koehler aufgetrieben und z.B. neben Cézanne gehängt. Braune macht in diesen Tagen die große Gedächtnisausstellung für Tschudi, die nun eventuell nach Köln in den Sonderbund wandern soll durch Augusts Vermittlung. Lange Besprechungen über den Bl. Reiter, Ihre Bilder etc. Braune wurde immer kleiner, aber in demselben Maße sympathischer und netter. August tuen Sie unrecht. Er reist Donnerstag zurück, hängt dann den Bl. Reiter, Samstag ist dann die besagte Sitzung. Sollten Sie sich nicht getäuscht haben und[64] die Sitzung vergangenen Samstag gewesen sein, so hätte man ihn (von seiten Reiches) gröblich und absichtlich über den Termin der Sitzung getäuscht, was August kaum für denkbar hält. Wir haben sofort an Reiche telegrafiert. Koehler fährt vielleicht mit nach Köln. Der Druck, den wir alle damit auf den Sonderbund ausüben, wird immer stärker.

Besuchen Sie mal Braune (er ist jetzt wieder in München) und die Tschudiausstellung – Pinakothek (nur für geladene Gäste, worunter wir natürlich zählen). Schönen Dank an Mme Gontscharowa für das Aquarell. Natürlich bekommt sie was von mir. Heute nachmittag sind wir bei Schönberg.

Von mir folgt für den Bl. Reiter noch ein post-scriptum zu dem Tschudi-Artikel, – in zwei Tagen. Ich komme immer nicht zum ruhigen Schreiben; im Entwurf hab ich beides: Subskription und post scriptum; ich hoffe sie morgen abschicken zu können. Gehen Sie damit zu Goltz und fragen Sie ihn um sein Urteil betreff der geschäftlichen Formulierung; dann erst zu Piper.

Mein Brief über Skrjabin haben Sie erhalten? Gratulier Hartmann! Einliegend Taschentuch für Frl. Münter, von meiner Frau; schönen Dank! Herzlich im


Ihr F.M.


P.S.

Sind Sie so gut, die Photos von Pechstein, Kirchner etc. (bitte zählen, wieviel und mir schreiben) an Dr. Hausenstein, München, Victor-Scheffelstraße 18, zu senden, in meinem Auftrage. Ich schlug ihm vor, von den Bildern dieser Leute etwas in sein Werk ›Der nackte Mensch‹ (große Ausgabe) zu bringen. Sie gehören unbedingt hinein. Wenn ein paar Landschaften unter den Photos sind, macht es nichts. Hausenstein soll sie dann an mich – Sindelsdorf, zurückschicken, nach cc. 14 Tagen, wenn er sie eben nicht mehr braucht. Wenn Sie etwas wissen, aus alter oder neuer Kunst (Russen?), was für das Werk paßt (und dem Bl. Reiter nicht dadurch entgeht), schicken Sie es ihm doch. Er ist sehr dankbar um eine solche Unterstützung und schreibt immer sehr sympathisch.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 64-65.
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