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[131] Im Winter des Lebens, wo der kalte Nebel in eins verhüllt, was fern und nah, wo der Schnee der Vergessenheit still herunterfällt und mich bedecken will, mache ich diese Aufzeichnungen von meinem Lebenslauf,[131] mit dem ich nun bald am Schlusse bin. Ich sitze in meinem Waldhäuschen Marxzell, wo wir gerade noch, es ist Ende August 1918, von ferne die Fliegerabwehrkanonen von Karlsruhe her hören. Bei meinem jammer erlebt, daß es nicht erst dieses mörderischen Krieges bedurft hätte, um zu wissen, daß unser Dasein Leiden ist, nicht der Mühe wert, es abzuspinnen. Der Krieg ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie die Menschen selbst ihr irdisches Dasein so gering einschätzen, wie wenig Wert die Menschenknochen haben. Im fünften Jahre schon erzählen die Tagesberichte der Völker sich gegenseitig, wieviel Menschenkörper durch ihre Mordmaschinen vernichtet worden sind, sie rühmen sich, wieviel Herzeleid sie sich angetan haben. Sie freuen sich daran, wenn sie es summieren, und triumphieren, wenn dabei Millionen herauskommen. Die Geringschätzung des Körpers ist geradezu großartig geworden, es ist, als ob sie dadurch die Meinung und Behauptung derjenigen, welche die Macht der Seele verkündigen, beglaubigen wollten. Was liegt denn daran, wenn die Menschheit Hunderttausende von Menschenkörpern hinschlachtet. Man möchte sagen, sie sündiget in dem Vertrauen auf die ewig schaffende Seele. Die Menschheit steht freilich mit Grausen vor ihrem eignen entsetzlichen Tun, dem keine Verstandestätigkeit Einhalt gebieten kann. Ebenso wie gegen den persönlichen Tod sind wir gegen den Massenmord, den die Völker selbst an sich zu vollziehen für nötig halten, machtlos. So können wir diese Zerstörungswut auch als tatsächliche Anerkennung der Geringwertigkeit des vergänglichen Daseins, von der Gleichgültigkeit, welche die Seele für die verlassenen Knochen hat, ansehen, damit wir nicht verzweifeln. Das schreckliche Wort: »Was liegt denn daran« kann sich uns wie ein Trostwort auf die Lippen drängen, man beruhigt sich mit den Worten des Psalmes Moses: »Der du die Menschen lässest sterben, und sprichst: kommt wieder, Menschenkinder.«

Vor dem Throne Gottes und seiner Herrlichkeit, welche die Welt erfüllt, und vor der still waltenden Macht der Menschenseele, welche wir an Jesus dem Auferstandenen, dem ewig Gegenwärtigen erkennen und gläubig erfassen, ist alles Menschentreiben, wenn es auch so gewaltig wie dieser Krieg erscheint, doch nur ein sich abhaspelndes Spielwerk,[132] vorübergehend, versinkend in die unergründliche Ewigkeit, vielleicht noch von der Zukunft einige Zeit im Gedächtnis aufbewahrt, in den Gerümpelkammern der Historie, diesem Herbarium des blühenden Lebens. Das Uhrwerk Gottes, dessen Regelmäßigkeit wir erkennen, geht seinen ruhigen, großen Gang weiter, wie wir annehmen müssen, in zeitloser Wiederkehr.

»Vater vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!« Dies vom Kreuz gesprochene Wort wird am Gerichtstage der Seelen für viele eine Entschuldigung sein sollen: »Herr, vergib uns, wir haben nicht gewußt, was wir getan haben.« Wir armen Menschen! Wie selten wissen wir, was wir tun! Eigentlich wissen wir es nie, von unbekannter Macht getrieben tappen wir wie Blinde am Faden des Schicksals, wir wissen nicht, wohin wir gestoßen werden, wie viele Blumen des Lebens unser tappiger Fuß zertritt, welche Folgen aus unserm Tun entspringen. Auch das großartige Tappen, mit dem Völker sich vernichten wollen, ist doch nichtig und wird wie alle Narrenschiffe der Zeit zerschellen an dem Fels der Seele, den wir Christus nennen gelernt haben, der zeitlos und raumlos die ganze Welt in sich schließt.

Erkenne dich selbst! Dies könnte so eine Art von Schlagwort sein, von dem man die Berechtigung ableiten könnte, seinen Lebenslauf zu schreiben! Aber je mehr man zu diesem Selbsterkennen, diesem Eindringen in das verschlossene Geheimnis seines Selbst kommt, desto unheimlicher kann es einem dabei werden. Je mehr man, um ganz aufrichtig zu sein, aus dem Obenhinkommen in die Tiefe forschen will, desto lieber möchte man den Schleier, den man aufheben zu müssen glaubte, wieder zuziehen. In den Tiefen, wo Gut und Böse sich bilden, wo die Tugenden neben den Lastern Wand an Wand hausen, ist es unheimlich finster, und wer jenseits von diesen sehen will, kann der Verwirrung verfallen, im Irrwahn aus Angst vor sich selber. Man sieht nun wie gut, ja wie notwendig es ist, daß die gute Mutter Erde unsre Unruhe einstens deckt, daß sie in milder Art alle Lebensläufe in ihren Schoß der Vergessenheit, der Versöhnung aufnimmt, in den ewigen Kreislauf der Wiederkehr, aus dem immer wieder Erneuerung hervorgeht.

Ein Lebenslaufschreiber kann und darf nicht zu den verschlossenen[133] Tiefen seines Selbst gehen, noch weniger ist er berechtigt, über andre, die mit ihm des Weges gewandert sind, in Freundschaft und Liebe oder auch in Gleichgültigkeit und feindlicher Gesinnung tiefer suchende Urteile und Aussagen zu machen. Er kann andre doch kaum soweit kennen, als er sich selbst kennengelernt hat. Je weiter man aber in der Selbsterkenntnis vorschreitet, desto unsicherer, aber auch desto milder wird man in seiner Meinung über andre. Ja wenn auf einer Wegstrecke auch der leibhaftige Teufel einmal mitgewandert sein sollte und man sich mit ihm ganz gut unterhalten hat, so sollte man höchstens von ihm sagen, daß einem sein Geruch widerlich war. Das mag aber wohl gegenseitig gewesen sein.


Wohl und Weh, zwei inhaltreiche Worte,

Weihen an des Lebens Pforte

Die Seele, leiten die zur Welt gekommen

Wachsam auf den Weg, den sie genommen.

Treue Wächter, die nie von ihr weichen,

Geben sie zum Wechseln sich die Zeichen.

Es wandern mit ihr bis zum Ruheorte

Wohl und Weh, der Seele Schicksalsworte.


Wir Menschen gehen durch das Leben mit gar viel Leiden und Schwächen; wir glauben aber an eine Weiterentwicklung, an die Möglichkeit einer Läuterung zu einem höhern Dasein hinaus. Wie der »reine Tor« durch Mitleid wissend, geht unser geistiges Streben zu einem Gral der brüderlichen Liebe, zu einem Übermenschentum, welches sich auf Selbstverleugnung gründet. Wir erkennen unsre Schwachheit und Sündennot, in die wir verstrickt sind, wir wollen hinauf zu einem Standpunkt der Versöhnung, zum großen Willen allgemeiner Sündenvergebung, wie sie sich im Gebete des Herrn ausdrückt: »Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.« Dies könnte die Inschrift sein an dem Gralstempel eines neuen Übermenschentums, zu einem Zustand, wo nicht mehr abgerechnet wird, sondern vergeben, wo die Gerechtigkeit ihre Rechte an die Barmherzigkeit abtritt, wo der Mensch so hoch von sich und seiner Herkunft denkt, daß er mit fromm freudiger Demut durch das Erdenleben gehen kann,[134] so hoch von sich denkt, daß er sich nichts vergibt, wenn er auch die andre Backe zum Schlage hinhält, wo der Spruch vom Splitter und Balken im Auge in seiner ganzen Tiefe verstanden wird und das milde Mahnwort zur Geltung kommt: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!« Wo wir uns nicht mehr vor dem Schicksal krümmen, sondern betend unsre Knie beugen vor der Barmherzigkeit, die als Gottes Engel durch die Menschheit schreitet.

Quelle:
Thoma, Hans: Im Winter des Lebens. Aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen, Jena 1919, S. 131-135.
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