XVIII

[290] So war der Spätherbst herangekommen. Seine Stürme hatten die Haine entblättert, seine Regengüsse die Spuren der letzten Blumen hinweggetilgt, und öde und winterlich, wie in Alexander's Herzen, sah es ringsumher in der Natur aus.

Ohne Zweck und Ziel, nur um der inneren Angst zu entrinnen, oder vielmehr um sie zu betäuben, rannte er zuweilen stundenlang durch die Straßen, und so führte ihn der Zufall auch einst an ein Gewächshaus vorüber, hinter dessen hohen Glasfenstern sich die bunteste Blüthenfülle des Sommers vor dem zerstörenden Einfluß des Frostes geflüchtet zu haben schien.

Wehmüthig, wie die Träume einer längst verschwundenen Kindheit, begrüßte ihn bei diesem Anblick seine alte Neigung zu der Pflanzenwelt wieder, und er trat hinein, durch die Magie der Unschuld, die unsichtbar im zarten Duft der Blumen weht, die schwarzen Geister der Schwermuth in seiner Seele zu beschwören.

Wirklich erheiterte es ihn für Momente, wie durch die Berührung eines Zauberstabs, der rauhen Jahrszeit entrückt und mitten in den reichsten Ueberfluß einer wärmeren Zone sich versetzt zu sehen.[290]

Gleich alten, ihm lange aus den Augen entschwundenen Bekannten lächelte er dem reichen Kranze zu, der von blühenden Stauden und Blumen sich um ihn schloß, und wie jeder seiner Gedanken mit dem an Erna verschmolzen war, und selbst die heterogensten Gegenstände ihn an sie erinnerten, so gedachte er auch hier bei dem frischen, kraftvollen Leben, das rings um ihn her grünte und duftete, an sie, die Früh-Verwelkende, der vielleicht eine sorgsam getroffene Auswahl unter diesen Blumen eine momentane Freude auf ihrem Krankenbette gewähren könne.

Wie gern hätte er, da er auf andere Weise gezwungen war, gegen sie zu verstummen, die Blumensprache des Orients jetzt benutzen mögen, um in dem Strauß, den er für sie band, seinen Schmerz und seine Sehnsucht auszusprechen, aber zartere Rücksichten, als die gegen sich selbst, ließen ihn unter der Menge nur die wählen, deren milderer Duft nicht narcotisch auf ihre ergriffenen Nerven zu wirken drohte. Einige so schöne Rosen, wie sie kaum der reichste Sommer erzieht, verbunden mit Erna's Lieblingsblume, der unscheinbaren, aber Erquickung ausströmenden Reseda, waren am Ende alles, was seine Vorsicht nach einer strengen Prüfung nicht verwarf.

Er trug seine Gabe zur Gräfin, die die einzige Vermittlerin war, durch deren Hülfe er[291] hoffen durfte, sie in Erna's Hände zu bringen, und er fand sie – gerührt durch die beklommene Angst seines Herzens, die sich in jedem Worte, in jedem Seufzer verrieth – sogleich willig, seinen Auftrag zu übernehmen. Er küßte die Blumen zum Abschied, die nun bald an ihrem Busen duften sollten, und schämte sich der männlichen Thräne nicht, die auf sie herabrollte. Bewegt nahm die Gräfin sie aus seiner Hand. Sie geben Ihren Rosen, was ihnen noch fehlte, sagte sie, auf die Thränen deutend; das ist der Morgenthau, den kein Treibhaus erzeugt. Ja, versetzte er dumpf und leise, der Morgenthau, der der Verkündiger eines ewigen Schmerzes ist.

Nicht mehr erschüttert von dem Wechselfieber banger Furcht und tröstender Hoffnung, wie früher, erwartete er die Zurückkunft der treuen Freundin; denn er wußte wohl, sie hatte ihm nur die Bestätigung seiner bangen Ahnung, nur die traurigste Gewißheit des nahenden Verlustes, der ihm drohte, zu bringen.

Gleichwohl konnte seine Phantasie, durch inneres Grauen vor diesem Schreckenbilde geschützt, sich Erna's Tod nicht, als so bald erfolgend, ausmalen, daß nicht noch manche Kunde von ihr die letzten Lichtstrahlen in sein dann verdunkeltes Leben zu werfen vermöchte.

Als daher die Gräfin, in Thränen gebadet, zurückkehrte,[292] und durch die lakonischen Worte: nun hab ich Erna zum letztenmal gesehen! die Wurzel so wie den Gipfel alles Seyns in ihm tödtend zerschnitt, da war ihm, als habe er zum erstenmal in die Ruinen seiner Zukunft geblickt – als sei die dürre Wüste seines Lebens ohne sie jetzt erst in ihrer ganzen schrecklichen Einsamkeit vor ihm geöffnet worden.

Theilnehmend suchte die Gräfin ihn zurückzuhalten, als er hinwegstrebte, aber umsonst. Mußte sie selbst doch sich eingestehen, daß keine Besänftigung seines Kummers, keine Linderung seiner Angst in ihrer Macht stehe. Auch bedurfte ihr eigenes Gemüth der Ruhe, um sich von dem erschütternden Anblick der Leiden ihrer nun von den Aerzten aufgegebenen Freundin zu erholen. Daher ließ sie ihn gehen, und er stürzte hinaus, und rannte, von den Furien eines wüthenden Schmerzes gegeißelt, zweck- und sinnlos im Freien umher.

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 290-293.
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