[280] DER HERR, welcher im Zwischengang hinausgeworfen wurde, oder wenigstens ein ihm auffallend ähnlicher Herr, ist während des Aktes langsam wieder eingetreten. Sowie der Vorhang herniederrollt, ruft er ganz laut. Das ist eine Schändung der Bühne! das ist eine Profanierung der Kunst!
RUFE von allen Seiten. Da ist der verrückte Doktor schon wieder! ... Haut ihn doch! ...
DAS VORSTANDSMITGLIED eilt in höchster Entrüstung auf ihn zu und will ihn am Kragen packen. Sie sind ein Unverschämter! Wie können Sie sich hier einschleichen! Sie sind nicht mehr Mitglied des Vereins ... machen Sie augenblicklich ... Er will ihn am Kragen packen und hinausbringen – da geschieht aber etwas Unerwartetes, der Herr springt plötzlich gegen die Bühne zu – in einigen Sätzen hat er das Proszenium erklommen und steht jetzt auf der Rampe. Mit einem Male reißt er den Vollbart vom Antlitz, der nur angeklebt war, wirft den Rock ab, reckt sich gewaltig empor und steht vor den Augen des halb erstaunten, halb entsetzten Vereins da als der Geist Gotthold Ephraim Lessings. Indes Vorstand und Verein vor Schreck und Überraschung noch stumm sind, donnert er als Chorus diese Parabase ins Parkett nieder.
Hanswurste! Schellenlaute Fastnachtsgecken!
Das also, das ist eure neue Bühne?
Das ist die Dichtung eurer »großen Zeit«,
Das ist die Kunst des neuen deutschen Reichs?
Ein Haus habt ihr gebaut auf meinen Namen,
Ein Denkmal wollt ihr meinem Wirken setzen –
Und so verhöhnt ihr alles was ich schuf,
Vernichtet alles so, was ich euch lehrte?
Das ist die Treue, drin ihr mein gedenkt.
Das ist die Frucht, die euch mein Geist gezeugt?
Oh, Heuchelei! o grenzenlose Lüge!
Ist's nicht genug, daß hier, in diesem Hause,
Als dessen Schutzgeist ich nach langem Sträuben,
Auf großes Drängen endlich nur mich hergab,
Tagaus, tagein der widerlichste Kram,
Aus Frankreich eingebracht, frivol und lüstern,
Sich breitmacht? Mischen sich jetzt in die Düfte[281]
Des Patschuli auch die des Fusels noch
Und die des Kots? zum Kitzel noch der Ekel? ...
O großer Brite, göttergleicher Shakespeare!
Dazu hab ich den Deutschen dich gebracht
Und sie gelehrt, dich mehr als mich zu lieben!
Daß ich vergessen in der stillen Gruft
Dich ruhig doch gelassen, nie ins Volk
Der Dichter und der Denker dich geschleppt,
Das – wohl erkenn ich's – niemals dich verstand!
Dann wär die große Schmach dir nie geschehn,
Daß ein betrunkner Kerl dich lallend grüßte,
Die Hand dir bietend: »Na, wie geht's, Kollege?«
Dazu schrieb ich euch Minna und Emilia,
Um hundert Jahre später zu erfahren,
Daß Poesie allein im Schmutz sich findet!
Und daß zu dem Vandalenwerk man gar
Noch meinen Namen frech und frank mißbraucht!
Wahrheit ist eure Losung?! ... Ah, sehr gut! ...
Auch meine war es, und ich sprach zum Dichter:
»Sei wahr, sei grausam wahr, bis zum Entsetzen!
Sei schrecklich wahr – so wahr wie die Natur!
Sei wahr wie sie – und sei wie sie so groß!
Sei groß und fürchterlich und wahr, wie Richard,
Wie Jago, Lear, Macbeth, Coriolan!« –
Ja, freilich! ihr – und in der Seele Tiefen,
Ins Labyrinth der Leidenschaften steigen,
Und malen, was gewaltig drinnen gärt!
Ihr Zwerge, ihr Pygmäengeschlecht, ihr Lügner!
Die Süffel, das betrunkne Bauernvieh
Woll'n meinen Tellheim von der Bühne drängen,
Den Odoardo und den Tempelherrn?
Ihr und Natur! Geht! aus dem Kindbettwinseln
Eurer Gebärenden heult nicht Natur,
Heult eure eigne Kläglichkeit allein! ...
Das soll der Menschheit einzig würdig sein,
Zu sehn, wie Trunkne sich im Kote wälzen,
Ein Mann ein braves Mädchen sitzenläßt,
Und nichts als dies der Menschen Geist beschäft'gen?
Zu solchem Schauspiel zieht man tausend Menschen
An einen Ort aus Nord, Süd, Ost und West,[282]
Raubt ihnen Stunden ihrer besten Zeit,
Setzt hundert Hände lange in Bewegung
Zu all den Mühen eines Bühnenspiels?
Wahr wollt ihr sein! – dies schmutz'ge Bild der Welt,
Kot, nichts als Kot ... das war die ganze Wahrheit?
Blödsinnige! So wenig dieses Bild,
Das eben jetzt an euch vorbeigerauscht,
Ein wahr' Gesicht der Charité gezeigt,
Nein, alles übertrieben, schief, verzerrt –
So wenig wahr sind eure Bauern, eure
Kleinbürger: nicht in Schlesien, nicht in Rußland,
Nicht in Berlin, und nirgends in der Welt!
Hohlspiegelfratzen aber keine Menschen! ...
Ihr – Dichter? Kündiger des Menschenherzens?
Ein Haufen wüster Schreier seid ihr, lüstern
Nach Rauch und Schaum des eitlen Tagesruhms,
Und glücklich, wenn der Börsenjobber Leibblatt
In fetten Lettern eure Namen druckt;
Das ist der ganze Preis, nach dem Ihr strebt,
Und den ihr bill'ger nicht erkaufen könnt.
Ihr Knaben wagt auf meinen Namen euch
Im Kampf zu stützen gegen fränk'sche Kunst?
Was gebt ihr Besseres denn als sie? Die Lüge
Habt beide ihr gemein, nur daß sie jene
Mit Grazie umkleidet und Geschick, –
Und ihr – aus Ungeschick – sie offen zeigt.
Beide sind sie gemein – doch ihr noch plump!
Was ist denn eure neue Kunst, die so
Verächtlich sieht herab auf Dummkopf Shakespeare,
Auf alle, die gedichtet je vor euch? –
Wo andre »Herrgott!« sagten – sagt ihr »Hurrjott!«
Und statt »da hierher!« schreit ihr »do hiehäh!«
Das lohnte wahrlich all des lauten Lärms!
Der Menschheit solche Botschaft zu verkünd'gen,
Tat freilich eine neue Bühne not,
Galt's, jedem täglich in die Ohren schrein:
»Hier! seht, bei uns allein ist Kunst und Wahrheit!«
Weil ihr gehört, was schon Millionen vor euch
Gehört – geseh'n, was längst Millionen sah'n
Und achselzuckend drüber weggeblickt,[283]
Da keiner noch Verdienst darin erfand,
Zu Wienern und zu Schlesiern zu sprechen,
Und unverständlich sein dabei den Deutschen!
Laßt reden euren Bauern, wie er mag;
Wir woll'n den Menschen, aber nicht sein Kleid –
Zeigt uns, wie Menschen fühlen, denken, handeln:
Das zeigt uns wahr in seiner ganzen Stärke!
Wie euere – fühlen, handeln Menschen so?
Das ist die Art von Schweinen – oder Engeln:
Doch Menschen, so mit Blut und Herz und Nerven,
Mit Leidenschaften, die sie ganz erfüll'n,
Halb gut, halb bös', so ganze, wahre Menschen –
Die haben eure »Dichter« nie gesehn! ...
Denn so verlogen eure Trunkenbolde
So grenzenlos sind's eure edlen Mädchen,
So voll Entsagung, frei von jeder Selbstsucht:
Auch von der Selbstsucht, die die Liebe gibt!
Den Mist verjaucht ihr noch und schminkt die Rose!
Ihr wollt das Leben malen eurer Zeit?
Vortrefflich! ... Zeigt das eherne Jahrhundert,
Das größer ist, als alle je vor ihm!
Gebt seine Kämpfe uns und seine Leiden!
Stellt uns der Forscher dar, aus stiller Klause,
Die Welt beherrschend, umgestaltend, der
Natur abzwingend die geheimsten Kräfte!
Zeigt uns den einz'len machtgewalt'gen Geist
Allein im Kampf mit der gemeinen Masse,
Die zäh und roh am alten Wahnwitz hängt –
Zeigt uns den Blusenmann die schwiel'ge Hand
Empor bis nach den höchsten Sternen strecken –
Laßt vor der neuen Legionen Tritt
Die Reichen blassen und die Throne zittern;
Laßt Völker aufstehn und im heißen Kampf
Um langgeraubte Daseinsrechte ringen! ...
Ja, Ihr – ihr seid die Wahren nie dazu!
Besoff'ne Bauern und verrückte Streber –
Der »Freien Bühne« neunzehntes Jahrhundert! ...
Viel ärger seid ihr als die ändern Lügner,
Die zu bekämpfen ihr erklärt. Denn ihr
Beschimpft in häm'scher Bosheit jeden, der[284]
Abseits von eurer kleinen lauten Gruppe
Die eig'nen Wege sich zu bahnen liebt,
Der ernst und treu für Kunst und Wahrheit kämpft!
Ihr, die ihr andres, Beßres nie getan,
Als ein'ger Professoren Zopf und Rockschoß
Zu fassen, um daran euch anzuklammern:
Geht hin, denn ihr seid eurer Meister wert –
Wie ihnen stets der Dichtkunst goldnes Buch
Mit sieben Siegeln streng verschlossen war,
Und sie der Dichter wahre Kunst und Größe
Allein in ihren Wäschezetteln suchten,
So fandet ihr, der Lehrer würd'ge Schüler,
Die Poesie, der Menschen Wesen nur,
An ihrem Husten, Spucken, Räuspern! geht! ...
Ihr seid die ärgsten aller Bühnenschänder,
Denn aller Welt brüllt laut ihr in das Ohr:
»Wir haben ganz allein die Wahrheit!« und
Seid ärgere Lügner als die ändern alle! – –
Wißt und erzittert! Auferstanden bin ich,
Den Stall der Musen neu zu reinigen,
Denn wahrlich hohe Zeit zur Säuberung ist's.
Ja, rein'gen will ich ihn vom argen Schmutz
Des Frankentums, der Zote, der Gemeinheit,
Vom Gift der Spekulation, von all
Der Frechheit, von dem schalen Bettelwitz,
Von blöder Langweil des Philistertums,
Von der Verschwendung bunter Leinwandfetzen,
Vom Kehricht widerwärt'ger Heuchelei –
Und hier den Anfang mache ich – mit euch!
Vor seinen Rettern schütz' ich ihn zuerst!
Hinaus aus meinem Haus! ... Nicht mit der Peitsche
Vertreib ich euch – die wär' für euch zu vornehm! ...
Nein, mit dem Instrument, das euch gebührt,
Das eure Kunst erst bühnenfähig machte ...
Er zieht eine riesige Geburtszange hervor.
Fort aus dem Haus, das meinen Namen trägt!
Mein Haus – die Bühne – ist ein Haus der Weihe:
Zur Düngergrube habt ihr es gemacht!
Die Kunst beschmutzen, heißt nicht sie befrei'n.
Hinweg ihr Helden von der »Freien Bühne« –
Die Bühne mach' ich frei zuerst von euch! ...
[285] Bei den letzten Worten ist er in den Zuschauerraum hinabgesprungen. Die ganze Versammlung war schon bei Beginn seiner Rede wie von einem unfaßbaren Zauber ergriffen; mit offnen Lippen und großen Augen lauschte sie seinem Vortrag, starr, ohne ein Glied zu rühren, unter dämonischem Bann. Jetzt schlägt er mit der Geburtszange auf die Köpfe der Anwesenden los, welche in furchtbarer Verwirrung heulend entfliehen.
Ende.
Berlin, Karneval 1890
[286]
Buchempfehlung
Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Prinzipiellen zum Indiviudellen ist der Kern der naturphilosophischen Lehrschrift über die Grundlagen unserer Begrifflichkeit von Raum, Zeit, Bewegung und Ursache. »Nennen doch die Kinder zunächst alle Männer Vater und alle Frauen Mutter und lernen erst später zu unterscheiden.«
158 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro