Krankheit

[277] Wer »begründet« krank ist, ist gut daran. D.h. er kennt, er erinnert sich wenigstens der Sünden, die er eventuell seiner unschuldigen genialen, ewig fürsorglichen, ewig hilfsbereiten Lebens-Maschinerie durch Jahre zugefügt hat. Wenn es auch nur in ihm halb unbewußt nun dämmert, aber es dämmert!

Aber Der, der unbegründet scheinbar, plötzlich erkrankt und sich keinerlei Sündhaftigkeiten gegen[277] seine arme heilige Lebens-Maschinerie bewußt ist, und dennoch stockt es irgendwo, Der ist unrettbar verloren!

Er kann in die Geheimnisse dieses körperlichen »Leckes« nicht mehr eindringen, kann die lecke Maschinerie seiner Selbst weder selbst wiederherstellen, noch schon gar nicht durch irgend Jemanden (Sanatorien, Heil-Bäder) wiederherstellen lassen!

Infolge seines noch gesunden Selbsterhaltungstriebes steht er daher verzweifelt vor seinem eigenen Abgrunde! Nur unenträtselbare Schicksals-Fügungen können ihn noch erretten, und die Hoffnung auf Diese allein kann ihm noch die Kraft spenden, die Geheimnisse seines Leidens durch einen merkwürdigen Zufall zu überwinden! Wer in bezug auf sich »ergeben« ist, ist ganz verloren, Wer falsch ankämpft, ist ebenso verloren, nur das Mysterium der Natur, das wir vorläufig noch nicht durchforscht haben, kann ihn da erretten. Irgendwo schlummern tiefste Geheimnisse über uns selbst!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 277-278.
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