Die Abenteuer Sindbads des Seefahrers

[377] In der Stadt Bagdad lebte unter der Herrschaft des Beherrschers der Gläubigen Harun al-Raschid ein Mann namens Sindbad der Lastträger, ein armer Mann, der gegen Lohn Lasten auf dem Kopfe trug. Nun begegnete es ihm eines Tages, als er bei großer Hitze eine schwere Last trug, daß er äußerst müde wurde und reichlich schwitzte, denn die Hitze und die Last bedrückten ihn in gleicher Weise. Da kam er am Hause eines Kaufmanns vorbei, vor dem der Boden gefegt und besprengt war, und die Luft dort war kühl; und neben der Tür fiel ihm eine breite Bank ins Auge,[377] auf die er die Last niedersetzte, um sich auszuruhen und die Luft zu riechen. Er setzte sich auf den Rand der Bank und hörte alsbald von drinnen her melodischen Klang von Lauten und anderen Saiteninstrumenten; und aufheiternde Stimmen sangen und sprachen Verse, während zugleich Vögel wirbelten und den allmächtigen Allah in mancherlei Melodien und Sprachen priesen: Turteltauben, Spottdrosseln, Amseln, Nachtigallen, Holztauben und Steinwälzer, so daß er bei sich selber staunte und Freude und Heiterkeit in sich spürte. Und er trat an das Tor und sah darin einen großen Blumengarten, worin Knaben und schwarze Sklaven und eine solche Dienerschar zu sehen waren, wie man sie nur bei Königen und Sultanen findet; und seine Nase grüßte der würzige Duft von allerlei reichen und leckeren Speisen und von köstlichen, feurigen Weinen. Da hob er die Augen himmelwärts und sprach: ›Ruhm sei dir, o Herr, o Schöpfer und Versorger, der du versorgst, wen immer du willst, und nicht rechnest noch geizest! O mein Heiliger, ich flehe dich an um Vergebung für alle Sünden, und ich wende mich zu dir, reuig ob jeglicher Missetat! O mein Herr, es gibt keinen Widerspruch wider dich in deinen Befehlen und deinem Walten, noch auch lässest du dich erforschen in dem, was du tust, denn siehe, du bist über alle Dinge allmächtig. Erhöht sei deine Vollkommenheit; wen du willst, den machest du arm, und wen du willst, den machst du reich! Wen du willst, den erhöhest du, und wen du willst, den erniedrigst du, und es gibt keinen Gott außer dir!‹ Und er sprach die Verse:


Wie viele freuen sich, da meine Mühsal dauert – Der Güter dieser Welt, im Schatten hingelehnt?

An jedem Morgen wach in Qual und Mühn ich auf – Mich beugt herab die Last, da meine Not sich dehnt;

Und andre stehn im Glück, frei von Beschwer und Not – Da sie das Schicksal nicht mit solcher Last belehnt;

Sie leben glücklich hin in Freuden ihren Tag – An ihrer Tafel sie ein jeder edel wähnt.


Und als Sindbad der Lastträger seine Verse gesprochen hatte, hob er seine Last wieder auf, und eben wollte er weitergehen, als ein kleiner Page aus dem Tore zu ihm trat, ein Knabe, schön von Angesicht[378] und zierlichen Wuchses und fein gekleidet; der faßte ihn bei der Hand und sprach: ›Komm herein und sprich mit meinem Herrn, denn er ruft nach dir.‹ Der Träger wollte sich bei dem Knaben entschuldigen, aber der nahm keine Entschuldigung an; da ließ er seine Last bei dem Türhüter in der Vorhalle und folgte dem Knaben ins Haus hinein; und es war ein schöner Bau, strahlend und voller Majestät; und er kam in einen Wohnsaal, darin er eine Gesellschaft von vornehmen und großen Herren erblickte, die an Tischen saßen, darauf allerlei Blumen und süßduftende Kräuter standen, und ferner viel leckere Speisen, getrocknete und frische Früchte, Kompotte und Weine erlesensten Wachstums. Auch heitere Musikinstrumente waren vorhanden, und liebliche Sklavinnen, die spielten und sangen. Und die ganze Gesellschaft war ihrem Range nach geordnet; am höchsten Platz aber saß ein Mann von ehrwürdiger und vornehmer Erscheinung, dem der Backenbart schon grau gefärbt war; und der Mann war stattlichen Wuchses und schön von Angesicht, angenehm anzuschauen und voller Ernst und Würde und Majestät. Sindbad, den Lastträger, aber machte, was er sah, verlegen, und er sprach bei sich selber: ›Bei Allah, dies muß entweder ein Stück vom Paradiese sein oder der Palast eines Königs!‹ Und er grüßte die Versammlung mit vieler Ehrfurcht, indem er betete für ihr Gedeihen und vor ihnen den Boden küßte; dann blieb er mit gesenktem Kopfe in demütiger Haltung stehen. Da befahl ihm der Herr des Hauses, näherzutreten und sich zu setzen; und er sprach freundlich zu ihm, indem er ihn willkommen hieß. Dann setzte er ihm allerlei leckere, reiche und köstliche Gerichte vor, und der Träger ließ es sich nach seinem Bismillah schmecken; und als er sich satt gegessen hatte, rief er aus: ›Preis sei Allah, wie es uns auch ergehe!‹ Und er wusch sich die Hände und sagte der Versammlung Dank für die Bewirtung. Sprach der Wirt: ›Du bist willkommen, und dein Tag ist ein gesegneter. Welches aber ist dein Name und dein Gewerbe?‹ Sprach der andere: ›Mein Name ist Sindbad der Lastträger, und ich trage gegen Lohn die Lasten der Leute auf meinem Kopfe.‹ Der Hausherr lächelte und versetzte: ›Wisse, o Träger, dein Name ist dem meinen gleich, denn ich bin Sindbad der Seefahrer;[379] und jetzt, o Träger, möchte ich, daß du mir die Verse wiederholst, die du eben am Tore sprachest.‹ Der Lastträger wurde verlegen und erwiderte: ›Allah sei mit dir! Entschuldige mich, denn Mühsal und Beschwerden und Unglück lehren den Menschen, wenn die Hand leer ist, schlechte Manieren und bäurische Art.‹ Sprach der Wirt: ›Schäme dich nicht; du bist mein Bruder geworden; doch wiederhole mir die Verse, denn sie gefielen mir, als ich sie dich am Tore sprechen hörte.‹ Da wiederholte der Träger die Verse, und sie entzückten den Kaufmann, der zu ihm sprach: ›Wisse, o Lastträger, meine Geschichte ist wunderbar, und du sollst alles vernehmen, was ich durchmachen mußte, ehe ich emporstieg zu dieser Höhe des Wohlstands und zum Herrn dieses Hauses wurde, darin du mich siehst; denn nicht ohne Mühsal die Hülle und Gefahren die Fülle kam ich zu solchem Reichtum; und wie viel der Mühsal und Beschwerde habe ich nicht erduldet in alten Tagen! Ich habe sieben Reisen gemacht, und an einer jeden hängt eine wunderbare Geschichte, wie sie den Verstand verwirrt; und all das kam zustande durch das Verhängnis und Schicksal; denn von dem, was das Schicksal schreibt, keinem Flucht und Ausweg bleibt. Und so wisset denn, ihr meine guten Herren (also fuhr er fort), daß ich jetzt berichten will.

Quelle:
Die schönsten Geschichten aus 1001 Nacht. Leipzig [1914], S. 377-380.
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