XXII

[254] Monate verstrichen, der alte Sternsteinhofer und die junge Sternsteinhoferin liefen einander, sich nicht suchend noch meidend, ungezählte Male über den Weg; wohl bemerkte er den mißgünstigen Blick, der ihn bei jeder Begegnung seitwärts streifte, ohne daß es ihn zum Nachdenken brachte, wie derselbe stets gleich und unverändert blieb, selbst als er offen ein immer höhnischeres Gesicht dagegen kehrte. Hat sich halt ein bissel im Reden übernommen, die Neue, und dafür, daß es bei leeren Worten bleibt, ist er der – alte!

Es war an einem heiteren Abende, als er auf dem ihm eigenen Wägelchen von Schwenkdorf, wo er den Käsbiermartel besucht hatte, heimfuhr; er ließ das Rößlein nach Gefallen des Weges trotten, schmauchte sein Pfeifchen und sah[254] behaglich auf die langsam vorbeistreichenden Hütten und Bäume und Hügel. Als er in Zwischenbühel über die Brücke lenkte, rappelte sich unter einem Busche etwas empor, und obwohl er gar nicht abergläubisch war, so erschrak er doch, als er im Dämmer die Gestalt eines alten Weibes, die hagern Arme mit ausdeutenden Gebärden gegen ihn reckend, auf sein Gefährt zueilen sah; laut auf lachte er aber, als er in der Herzukommenden die alte Kathel erkannte.

»Halt auf!« rief sie halblaut. »Halt auf, Bauer!«

»Öh, Braun! No, was is denn los? Gebärdst dich ja völlig wie a Luftzauberin!«

»Sagn muß ich dir was. Heilige Maria und Josef!«

»No, ruf nit erst alle Heiligen an. Was gibt's?«

»O Bauer, dächt ich nit, daß ich a Unglück verhüt, wann d' so unvorbereit dahinterkämst –«

»Hinter was, alte Hex? Schneid nit hrum lang.«

»'n Geduldengel ruf an, 'n Geduldengel, daß dich der Zornteufl nit unterkriegt.«

»Bei dir braucht mer schon a Legion Geduldengel. Na, ich sieh, dich hat was ganz ausm Häusel gbracht, also nimm dich zsamm, fang amal an z' reden.«

»'s wird dir was abgehn, wann d' heimkommst.«

»So?«

»Aber gstohln is's dir nit.«

»Was denn, in drei Teufelsnam?!«

»Jesses, fluch nit, nit jetzt schon, eh d' noch was weißt.«

»Red du, so erspar ich 's Schelten.«

»Dein eiserne Geldtruhn – sie is dir nit gstohln –«

»Mein's, dö steckt keiner in Sack.«

»Aber weggführt is s' wordn.«

»Bist überhirnt? Wer sollt mer an die grührt habn?«

»Die Bäuerin –.«

»Himmelherrgottssakkerment«, brüllte der Alte, »die Einschleicherin, die Diebin, an 'n Meinm vergreift sie sich, die –«

Kathel faltete die Hände. »Um Gottes willen, Bauer, schrei nit so hrum, sonst rennen d' Leut ausm Ort herzu, oder[255] mer hört's obn afm Hof, und 's kommen welche nachschauen; zutragn is mein Sach nit, und wann mer mich da findt, werd ich af meine alten Täg noch davongjagt. Laß dir lieber sagn, wie's zugangen is.«

»Red«, keuchte er.

»Du warst kaum fort, so ruft die Bäuerin 'n Michl, 'n Wastl, 'n Heiner und 'n Seff und tragt ihnen auf, die eisern Geldtruhn aus dein Ausgedinghäusel z' schaffen.«

»Wohin? Wohin?«

»In d' schöne Stubn, wo 's ehnder gwest is und wo s' hinghört, wie d' Bäuerin sich hat verlauten lassen.«

»Hat sie sich?« lachte der alte Sternsteinhofer grimmig. »Und hitzt steht s' dort?«

Kathel nickte.

»Soll a kurze Freud gwest sein. Wie ich hnaufkomm, werd ich der saubern Bäuerin mein Meinung sagn, und heut noch, hitzt, gleich an der Stell, muß mer alls wieder in alten Stand! Und dö vier Deppen, was blindlings an fremds Eigen d' Hand anlegn, dö will ich orndlich schuhriegeln, daß s' an mich denken solln, wie können sie sich unterstehn –?! –«

»Mein, was wollten s' machen? Denselben war's gschafft. Hat eh a Gschlepp und Rackern dabei abgsetzt, daß ihnen der helle Schwiz übern Körper gloffen is.«

»Hehehe! Glaub's schon. Gschieht ihnen recht, und dasselb nämliche können s' gleich wieder zun verkosten anhebn, denn ehnder ruh ich nit – und sollten s' d' halbe Nacht dazu brauchn –, bis d' Kassa an ihrm alten Ort steht.«

»Schau, hab a Einsehn, 'm Wastl, dem armen Hascher, is s' mit der ganz Eisenschwern afm Fuß gfalln, brüllt hat er wie a Ochs, und einbeinlet habn s' 'n vom Fleck gführt.«

»Hehehe! Hat einer dabei was abkriegt? Das is mer lieb, und leid, daß's nur der eine war! Hehehe, der wird sich's dermerken! Mein schon auch, wann einer mitm Läufel unter paar Zentner grat, daß er alle Engeln singen hört und nachplärrt, wann's auch nit so schön ausfallt. Hehehe! Schadt nix, so a Denkzettel! Geh krump, Lump. Hehehe!«[256]

Mitten in dem lauten Jubel über den Unfall des Knechtes besann sich aber der Alte, wie ganz kindisch und aus seiner eigenen Weis das sei, er legte das Gesicht in ernste Falten. »Teufl«, murmelte er, »so weit wird's doch nit schon sein mit dir – du, Sternsteinhofer –, daß d' deppisch wurdst?! Kam 'n andern recht, dir Herr z' werdn. Ah, nein, fein gscheit!« Er rückte ein wenig auf dem Kutschbocke zur Seite und sagte zur alten Schaffnerin: »Steig auf! Wolln mer gleich der Bäuerin unter d' Augen!«

»Wo denkst hin?« fragte erschreckt Kathel. »Der hab ich ja gsagt, ich wollt af a paar Stündeln zur alten Matznerin, 's selb hab ich mir ausgebeten und schon a schöne Weil mitm Warten af dich verpaßt! Zeugschaft leist ich dir keine und brauchst doch auch keine. Hitzt muß ich mich nur schleunen, daß ich zu der ins Ort triff, damit ich sagn kann, ich wär dort gwest, wann d' Red drauf käm. Gut Nacht, Bauer, sieh dich für und tu nit unüberlegt.« Sie eilte an dem Wagen vorbei, über die Brücke, dem Dorfe zu.

Der alte Sternsteinhofer schwang die Peitsche und hieb auf das Pferd ein, dieses jagte in Sprüngen den Hang hinan und riß das Wägelchen hinter sich her. Im Gehöft angelangt, fuhr er geradzu auf das Haus los und fast in die Gruppe dreier Bursche hinein, die vor der Türe plaudernd standen. Zwei nahmen lachend Reißaus, der dritte, der, die Hände in den Hosensäcken, einen Sprung hinter sich getan, um den Rädern auszuweichen, blieb lässig und gleichmütig stehen.

»Was laufen denn dö?« höhnte der Alte, mit der Peitsche nach den Wegeilenden deutend.

»Weil s' Letfeign sein«, sagte der Bursche.

»Und du, Lump, bhaltst vielleicht a gut Gwissen, wann d' an einer Dieberei teilnimmst, und traust dich noch, mir ins Gsicht z' trutzen!?«

Der Knecht zuckte die Achseln.

»Kein Red bin ich dir wert? Na, wart, dafür lehr ich dich Sprüng machen!«

Schon hatte der Alte mit der Peitsche zum Schlage ausgeholt[257] und der Knecht die Arme abwehrend vorgestreckt, da trat die Bäuerin aus dem Flur. »Wie er dich schlagt, Heiner«, rief sie, »schlag du nur zruck! Das brauchst dir nit gfallen z' lassen. Du hast nur getan, was dir is aufgtragn gwest.«

Da ließ der alte Bauer die Geißel hinter sich ins Grät fallen und kletterte mit vor Wut bebenden Gliedern mühsam vom Wagensitze herab. »Du – du –«, stöhnte er mit versagender Stimme, »hetztest 's Gsind auf, sich an deins Manns leiblichem Vadern zu vergreifen?! – Wo is der Toni?!«

»Obn af seiner Stubn, durchs offene Fenster hört er jeds Wort, was wir da reden, und wann er mir was wehren oder verweisen will, braucht er nur 'n Kopf hrauszstecken. Den Respekt, der dir als meins Manns leiblichem Vater zukäm, gäbet ich dir gern, wollst nur du da afm Ghöft nit mehr wie ein solcher bedeuten, aber ein Nebnherrn kenn ich nit, und daß du von unserm Gsind züchtigen willst, wer ghorsamt, das leid ich nit!«

»Kenn ich nit – leid ich nit –«, spottete der Alte nach. »O du –! Hast aber recht, was brauch ich dem Kerl da erst übern Grind z' fahren? Ledig an dich hab ich mich z halten. Und nit als Nebnherr, als mein eigner und als Herr auf und von meinm Eignem frag ich, was hast du dadrauf zu suchen, was hast du mir davon z' verschleppen?!«

»Schau, schau, du weißt das schon, bevor d' noch d' Augen in deiner Stubn hast hrumgehen lassen? No, das Ratsel is nit schwer z' raten; den Weg, den d' kommst, is keins gangen wie d' alt Kathel, dö Zutragerin.«

»Dös is a Ehrnweib und da afm Hof alt wordn!«

»Und wann ich will, wird s' auch kein Tag älter drauf!«

»Du jagest s' fort?!« knirschte der Alte.

»Wann s' dir gsagt hätt, was du nit erfahren durftst, bsinnet ich mich kein Augenblick, weil s' dir aber nur gsagt hat, was ganz unverborgen bleibt, is mer d' Sach nit soviel Aufhebens wert. Ghörig rüffeln werd ich mir s' wegn ihrer Hinterhaltigkeit, weiter nix.«

»Ja, hab d' Gnad, und dann sei auch so gut und laß mer[258] nur gleich morgn wieder mein eisern Schrein dorthin schaffen, von wo d', 'n heut hast wegschleppen lassen.«

»Dös weniger. Der bleibt, wo er is.«

»Vorenthalten tätst mir's, Diebin?!« brüllte der alte Bauer, die Faust gegen das Weib erhebend, das einen Schritt zurückwich, nicht vor der Bedrohung, sondern vor dem Schimpf. Er ließ den Arm sinken und knurrte höhnisch: »Meinst, hast was davon, dumme Mirl? Fehlt dir nit der Schlüssel? Den folg ich dir nit aus!«

»Den bhalt nur«, sagte trotzig Helene. »Ich will a Ordnung, nit das Deine! Der Schrein is bei uns gut aufghobn und der Schlüssel bei dir. Du bist a alter Mann, wie leicht versperrest amal nit, verstreuest selbn was, oder a fremde Hand greifet zu, dann müßt 's Oberste z' unterst kehrt werdn, mer hätt d' Standari afm Hof und 's ganz Gsind im unbschaffenen Verdacht. Besser bewahrt wie beklagt! Wir langen dir nit hnein, aber 's is nit mehr als billig, daß wir wissen, wozu du hneinlangst; du könntst auch aus Vergessen ohne Gschrift Käuf und Gschäften abschließen, dich betrügen lassen, und am End wüßt mer nit, wo 's Geld hinkämma is, ob d' Gläubiger, die sich melden, auch rechte sein und wo mer d' Schuldner z' suchen hat, drum ghört der Schrein hin, dort wo er hitzt steht, und er is nit 's letzte, was mer in Obhut nehmen muß, wann d' es so weiter fort treibst. Schau's an, 's arme Roß, da steht's noch und kommt kaum zu ihm von dem Hetzen, wie d' d' Steiln hraufteufelt bist; wenn d' Roß und Rind verabsäumst, so kann mer das unschuldig Vieh nit drunter leiden lassen und müßt's halt auch in unsere Ställ einstellen.«

»Du nahmst mer auch noch mein Vieh?!«

Die Bäuerin kehrte den Rücken und schritt in den Flur, einen Blick tat sie noch über die Achsel nach dem Alten, und obwohl dieser in der Dunkelheit den Ausdruck, der in demselben lag, nicht zu unterscheiden vermochte, so empfand er ihn doch als eine ebenso entschiedene wie verhöhnende Bejahung seiner Frage.[259]

»Oh, du!!«

Er schrie auf, und dann, beide aneinandergepreßte Fäuste in einem gegen die Wegschreitende schüttelnd, keuchte er: »Alls – alls – nahmst mer?! – Dafür nimm ich 'n Segn – von Haus und Hof und Grund! – Von Haus – und Hof – und Grund!«

Taumelnd schritt er seinem Ausgeding zu. Nachdem die braune Stute einen Augenblick nachdenklich gestanden, hierauf, wie von Fliegen beunruhigt, nachdrücklich den Kopf geschüttelt hatte, folgte sie bedächtig mit dem Wägelchen nach.


Es war in der darauf folgenden dritten Nacht, der Mond schien in die Schlafstube, der junge Sternsteinhofer gähnte im Bette, und die Bäuerin fragte aus dem ihren nach dem seinen hinüber: »Du, Tonl?«

»Was?« murmelte er.

»Hast du die letzten Nächt her gschlafen?«

»Wie a Ratz.«

»Hast nix ghört?«

»Kein Laut. Was sollt ich denn?«

»War vielleicht nur a Einbildung von mir.«

»Wird schon sein.«

»Oder alleinig mir z' hören bstimmt.«

»Dös is nur wieder a andere. Schlaf, los nit auf, hörst nix. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Tonl.«

Beide kehrten sich der Wand zu, es dauerte aber nicht lange, so drehte sich die Bäuerin wieder herüber, sie hob den Kopf und stützte ihn mit dem Arme und sah sich in der Stube um; milchweiß glänzte es von der Ecke her, wo das Gitterbettchen stand, in welchem der sechsjährige Muckerl und die anderthalb Jahre alte Juliane schliefen, die volle Mondscheibe beschien den Kindern das Gesicht. Helene erhob sich rasch, sie eilte hin und verhing das Gitter mit Tüchern, damit die Kleinen nicht schwere Träume bekämen oder gar mondsüchtig würden.[260]

Die Kinder hatten die Decke hinuntergestrampelt und lagen nackt. Helene betrachtete den kräftig entwickelten, gesunden Knaben, tippte ihm sachte auf die Wange. »Bist mein sauberes Bürschel, du«, sagte sie, und als zufällig in dem Augenblicke das kleine Mädchen eine greinende Miene zog und das Pätschchen gegen das Auge führte, fuhr sie begütigend fort: »Nein, nein, du auch, bist mein schöns Dirndl.« Sie breitete die Decke über beide und schritt nach ihrem Lager zurück. Nahe demselben schwang sie sich plötzlich mit einem Sprunge hinauf und saß aufrecht und lauschte.

Da war es wieder, was sie schon zwei Nächte beunruhigt hatte, was sicher nur ihr zu hören bestimmt war, weil doch sonst niemand etwas darüber verlauten ließ. – Wie aus weiter Ferne, leise, doch deutlich, als liefe es innerhalb der Mauern hinan, für kurz aussetzend, dann hastiger wiederkehrend, scharrte und pochte es; heute aber war das Poltern ärger wie in den beiden Nächten zuvor.

Ein leiser Frost schüttelte die Bäuerin.

Welcher Spuk wollte sich da einnisten und ihr das Heim verleiden? Rumorte die alte Kleebinderin, der sie den Tod gewünscht, oder der Muckerl, der ihr die Untreu nachtrug, oder die Sali, an deren Stelle sie sich gesetzt?

Wohl war sie nach ihrem Ziele über diese drei hinweggeschritten, aber sie hatte dabei keines mit dem Fuße gesucht und, daß die im Wege gestanden, wie ein ihr von ihnen zugefügtes Leid empfunden; sie achtete diese Rechnung, Posten durch Posten, aufgehoben, wer oder was wollte nun mit einem Male, gleichsam eines unbeglichenen Restes halber, an sie heran?

Nein, nein, weder die Kleebinderin noch der Muckerl vermochten da auf dem Sternsteinhofe »umzugehen«, wo sie nie heimgesessen waren, die mußten, wenn es sie nicht in der Erde litt, auf dem Kirchhofe »geistern« oder in dem Häuschen, wo sie hausten und starben, hier oben nicht. Es konnte nur die selige Bäuerin sein! Warum aber, wenn die ihr, Helenen, etwas wollte, kam sie nicht in diese Stube, wo sie[261] die längste Zeit vor ihrem Ende zugebracht, an dieses Bett, in dem sie die Augen schloß?

Ein jähes Grauen rüttelte Helenen zusammen, sie setzte die Füße auf die Diele und trat von der Liegerstatt hinweg.

Der Spuk will sie allein an einen einsamen Ort laden und wird nicht eher sich zur Ruhe geben und immer drängender und ungestümer werden, bis sie gehorcht und Folge leistet und dahin geht, wohin er sie verlangt!

Nichts blieb über, um wieder Fried ins Haus zu bekommen, als, gern oder ungern, ihm »nachzuschauen«, was es auch sein mag und kann! Doch vor dem Ärgsten, daß sich das Gespenst an einem vergreife, konnte man sich ja schützen, und nicht alle Tage kriegt man Geister zu sehen und erfährt dabei sicher Dinge, wovon nicht jeder weiß. – Ist's die vorherige Bäuerin, so soll sie sagen, ob sie eine Sorge auf Erden zurückgelassen, darüber sie nicht zur Ruhe kommt, ob für ihr Seelenheil etwas zu tun oder ob sie aus Bosheit und Abgunst so »rumore«; der Sorg soll sie entledigt und erlöst werden, was für eine arme Seele geschehen kann, soll geschehen, aber den Polter- und Plagegeist würde man auch auszutreiben und hinwegzubannen wissen! Nicht das geringste will sich die derzeitige Bäuerin gegen die vormalige vergeben, und stiege die gleich unter Kettengerassel als leibhafter Höllenbrand aus dem Boden auf! Oh, sie soll es nur kundgeben, was sie will, und auf Ansprache muß sie ja Rede stehen, und das lieber gleich, ehe einem der Graus über den Kopf wächst und man noch der Sinne und der Zunge Meister ist.

»Alle guten Geister loben Gott, den Herrn, sag an, was is dein Begehrn?«

Noch einmal wiederholte Helene flüsternd den Spruch, dann begann sie, schwer aufseufzend, ihre Kleider überzuwerfen. Als sie die Strümpfe angelegt hatte, schlich sie zu dem Wäschschrein, zog behutsam eine Schublade auf, aus der sie eine geweihte Wachskerze nahm; im Vorüberhuschen ergriff sie ihre Schuhe, und mit einem scheuen Blick nach den Schlafstellen des Mannes und der Kinder öffnete sie die Türe.[262] Deutlicher schlug das unheimliche Geräusch an ihr Ohr. Zögernd stand sie einen Augenblick, dann strich sie mit einem Zündholz über die Mauer, entflammte die Kerze, nahm einen der geweihten Zweige, die über dem Weihwasserbehälter hingen, an sich, und nachdem sie die Finger in das Naß getaucht und sich dreimal bekreuzt und besprengt, verließ sie die Stube.

Die Kerze und den Zweig zwischen den Fingern der Linken, unter demselben Arme die Beschuhung und mit der freien Rechten das Licht schützend, eilte sie über den Gang bis zur Treppe, dort schlüpfte sie in die Schuhe und stieg dann bedächtig Stufe um Stufe hinab.

Im Flur hörte sie das Gepolter wie aus der Erde heraufschallen; um ihm nachzugehen, mußte sie also hinunter in das Kellergeschoß.

Hundegeheul tönte vom Hofe her.

Sie preßte die Hand ganz oben gegen das Brustblatt, denn bis zum Halse hinauf schien ihr das Herz zu schlagen. Sie ging ein paar Schritte vor und lehnte sich an einen Haustürpfosten und starrte hinaus in die schweigende, mondhelle Nacht.

Unweit stand ein großer Hund, in braunem, schwarz geflecktem Felle, der seine mächtige Schnauze gegen den Himmel gerichtet hielt und zeitweilig langgezogene Töne ausstieß, die sich kläglich genug anhörten.

»Tiger!« rief die Bäuerin halblaut.

Das Tier wandte den Kopf und kam sofort in ungelenken Sprüngen, schweifwedelnd, heran.

Helene faßte den Hund am Halsbande, um ihn in den Flur hereinzuziehen, er kam ihr zuvor und hüpfte ungeschlacht um sie her und augte dabei so dumm gutmütig wie immer, und kein Haar seines Felles war gesträubt; Orte aber, wo es nicht geheuer, machen Hunde fürchten und Pferde scheuen.

Tiger schnüffelte gleichmütig an der Kellertreppe, doch als die Bäuerin sich anschickte hinabzusteigen, schoß er eilig voran.[263]

Helene warf den geweihten Palmkätzchenzweig hinter sich, Gespenster waren keine um die Wege, »lebige« Leute trieben da irgendeinen Unfug, und zwar welche, die zum Hause gehörten, das war deutlich dem Gehaben und Gebärden des Hundes zu entnehmen.

Sie hatte die Hälfte der Treppe zurückgelegt, da ward es unten lebendig; sie hörte in rascher Aufeinanderfolge einen Aufschrei, ein dumpfes Schelten, einen Prall gegen die Mauer, wie von einem Steinwurfe, und das Angstgeheul des Hundes, dann kam Tiger die Stufen heraufgejagt, fuhr an ihr vorüber, unaufhaltsam über den Flur und hinaus in den Hof.

Helene stieg rasch vollends hinab und trat in das Kellergewölbe.

Fast wäre ihr wieder aller Mut gesunken. Sie fand sich allein in dem weiten Raume. Die Wände, die Umrisse der Fässer und wenigen Gerätschaften, die da untergebracht waren, schwankten in dem unsicheren Scheine der Kerze, die sie in zitternder Hand hielt, und vom anderen Ende her, nahe der Mauer, blinkte ein Licht aus einer Laterne, die stand an der Erde, und aus dieser wuchsen zwei Hölzer, mit einem Querbalken verbunden, wie man den Galgen aufgemalt sieht.

Nun stöhnte es von dorther, eine Haue erhob sich aus dem Boden und ein Kopf mit ergrauendem Haar, auf einem Stiernacken sitzend ...

Da war es vorbei mit all und jedem Spuk, der Galgen war das Ende einer Leiter, die über eine Grube herausragte, an deren Rande stand die Laterne, und nahe auf einem Hügel ausgehobener Erde lag ein Grabscheit, und bis zu den Schultern stak der alte Sternsteinhofer da in der Tiefe und schlug mit dem Eisen gegen die bloßgelegten Steine des Grundmauerwerkes,

Was für ein Absehen hatte er damit?

Knapp hinzutretend, fragte die Bäuerin: »Was machst denn da?«[264]

»Jesus, Maria«, ächzte der Alte, zugleich sanken ihm die Arme und entglitt ihm das Werkzeug, er taumelte rücklings gegen die Wand und starrte, wie irr und verloren, nach Helenen.

»Ich frag, was du da machst?« wiederholte diese.

Indessen hatte er den jähen Schreck verwunden. Er lächelte sie boshaft an. »Was ich da mach, möchtst wissen?«

»Ja.«

»Hm! Hehe! Was ich da mach – was ich da tu? Jo, hehe« – er sagte das unter einem verlegenen Lachen, gleich dem eines Knaben, der über einem Streiche ertappt wird, auf dessen Überlegenheit er sich etwas zugute tut – »no, 's Glück grab ich euch da aus.«

Helene sah ihn mit großen, verständnislosen Augen an.

»In welcher Weis, meinst wohl?« fuhr er fort und sah mit zwinkernden Lidern zu ihr auf, den offenen Mund verziehend, daß die blanken Zähne zum Vorschein kamen. »Mein Sternstein hol ich mir ausm Grundgmäuer.«

»Du Dieb, du pflichtvergessener Dieb!« schrie das Weib. »Das wirst du bleibenlassen! Das Haus ist unser, wie's liegt und steht, und daran zu rühren, hast du kein Recht nimmer. Es is nit umn Sternstein, daß du's nur weißt, gar nit, aber 's ganz Gebäu könnt einm überm Kopf zsammstürzen, wann du's untergrabst. Gleich steigst hrauf!«

»Wie ich mich schon eil, weil du's sagst!«

»Vor d' Gricht kann dich das bringen, verstehst?«

»Vor d' Gricht, meinst?« höhnte er und hob die Haue und führte einen Schlag, der im Gewölbe widerhallte.

»Halt ein weng noch ein«, rief die Bäuerin, »nur paar Wort hör an! Du denkst, vor 'n Richter brächten wir's wohl nit, um uns selber kein Schand z' machen, und darein kannst recht habn, aber ich weiß da viel kürzern Prozeß z' machen.«

»Holst leicht 'n Toni«, lachte der Alte, »schaun dann halt zwei zu.«

»Ich bin keine, die sich nit selbn z' helfen weiß.« Damit nahm sie rasch die Laterne vom Boden auf, löschte das Licht,[265] nahm dann die Kerze heraus und warf sie weit im Bogen hinter sich nach einer Ecke. »So! No, sei gscheit und steig hrauf und komm mit; für heut in der Finstern wirst wohl 's Suchen einstellen müssen, und daß d' weder morgen noch sonst 'n Tag wieder damit anhebst, werd ich 'n Keller fortan versperrt halten und d' Schlüssel zu mir nehmen.«

Der alte Mann erwiderte nichts, er lehnte reglos und sprachlos an der Mauer, als ihm aber vor ohnmächtiger Wut Tränen in das Auge traten, da barg er plötzlich das Gesicht zwischen den Händen und begann bitterlich zu weinen.

Erstaunt trat die Bäuerin einen Schritt näher. »Bist du ein Kind? Sei doch nit einfältig wie ein solchs, das man sein Bosheit nit ausübn laßt. War dein Fürnehmen was anderscht? Denk du dran, wie der Sternsteinhof noch nit so benamt war und du, noch jung, ihn von deinm Vadern überkommen hast, wenig größer und reicher als hundert andere, daß er derzeit eins von dö größten Anwesen im Land vorstellt, verdankt er deiner Arbeit und deinm Wirtschaften, und hitzt wölltst du mit selbeigenen Händen, was die aufgbaut, niederreißen? Das vermöchtst du, während ich kein andre Sorg kenn, als daß der Toni sich eher z' zehren wie z' mehren anschickt, und kein andern Gedanken hab, als wenigst alls so zsammzhalten, daß amal der künftig Eigner kein Furchen Grund, kein Stück Vieh, kein Ziegel afm Dach minder vorfindt, wie du deinm Sohn, seinm Vadern, übergeben hast! Du solltst dich wohl vor mir – einm Weib – schämen, wann d' schon d' Sünd nit fürchtst, vom Haus z' nehmen, was ihm Glück gbracht hat und, wie d' selber glaubst, noch bringt!«

Die Bäuerin schien denn doch, trotz ihrer leichtfertigen Red von vorhin, etwas von den guten Eigenschaften des »Sternsteins« zu halten.

Der Alte stand noch immer, gesenkten Hauptes, in der Grube, jetzt stöhnte er auf und murmelte: »Weder, daß ich mich scham, noch a Sünd fürcht, aber« – er preßte es zwischen den Zähnen hervor – »geh voran!«

Die Sprossen der kurzen Leiter standen weit voneinander[266] ab, und mit seinen wankenden Beinen half er sich mühselig genug daran empor. »Rühr mich nit an«, schrie er, als Helene den Arm nach ihm ausstreckte.

»Sei nit töricht«, sagte sie, »laß dir helfen. Es gschieht dir nit z' Lieb noch z' Schimpf. Dir steckt noch von vorhin der Schreck in 'n Gliedern, und dö wolln nit vorwärts, ich aber hab da mehr kein Zeit zu verpassen, und auch du wirst froh sein, wann d' vom Ort kommst.«

Nachdem sie ihm aus der Grube geholfen, nahm sie Haue, Grabscheit und Laterne an sich und schritt voran; auf der Kellerstiege hielt sie die Kerze etwas hinter sich und machte den Alten auf schadhafte Stufen aufmerksam.

Im Flur blies sie das Wachslicht aus. »Soll ich dir das hnübertragn?« fragte sie, den mit den Geräten beschwerten Arm hebend.

Er schüttelte den Kopf, nahm ihr das Grabzeug und die Laterne ab und schritt langsam von ihr hinweg.

Sie versperrte die Kellertüre.

Nach wenigen Schritten blieb der Alte stehen, er sah nach der Bäuerin zurück und murrte: »Hum?«

»Was denn?«

»Wer schütt d' Grubn zu?«

»Ich verricht's schon.«

»Du?«

»Kannst dich verlassen.«

»Sagst auch neamd was?«

»Neamad.«

»Auch 'm Toni nit?«

»Auch 'm Toni nit. 's braucht keins drum z' wissen.«

Noch einmal hob der Alte den Kopf, sie großäugig anblickend, dann kehrte er sich ab und ging.

Grabscheit und Haue unter seinem zitternden Arme schlugen klirrend gegeneinander, als er über den Hof schritt, und eilig flüchteten vor ihm die Hofhunde »Tiger« und dessen Kamerade »Türkl« an das andere Ende des Gehöftes. – –

Da die Bäuerin dem alten Sternsteinhofer ihre Überlegenheit[267] hatte fühlen lassen und dieser eine zu tiefe Demütigung empfand, die nichts Geplantes, sondern nur ein günstiger Zufall wettmachen konnte, so legten die beiden einander vorläufig nichts weiter in den Weg, und es trat eine Waffenruhe zwischen ihnen ein; daß sie aber – und wie bald – vollen Frieden schließen würden, das hatten sie nicht gedacht.

Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21977, S. 254-268.
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