XXIV

[277] Jahre schwanden dahin, der Toni kehrte nicht wieder. Die beiden Kinder wuchsen auf dem Sternsteinhofe unter der Aufsicht der Mutter und des Großvaters heran. Muckerl hatte großen Respekt vor der ersteren und eine wahre Anhänglichkeit an den »Ehnl«; der ging ihm über alles, der war für ihn das Muster aller männlichen und bäuerlichen Vollkommenheit, dem er nachstrebte, und der Alte, dem diese Neigung wohltat, diese Schätzung mit Stolz erfüllte und die Gelehrigkeit des Knaben vergnügte, war in diesen vernarrt und erklärte in seiner rücksichtslos offenen Weise, daß ihm sein Enkelkind lieber sei als ihm sein eigener Sohn je gewesen, der nicht biegbar noch brauchbar war.

Juliane hatte wieder gewaltigen Respekt vor dem Ehnl – mehr beanspruchte der von ihr nicht – und hing der Bäuerin an, auf deren Schönheit und Klugheit sie sich was zugute tat; wer die Mutter »herausstrich«, der redete ihr zu Gefallen, und wer gar zu verstehen gab, daß sie derselben nacharte, der hatte ihr das Liebste gesagt. Dieses stürmische Anschmiegen, diese kindlich trotzige Parteinahme gewannen denn auch das Herz der Bäuerin, und daß es trotz dieser Vorliebe der beiden Erzieher für einen ihrer Zöglinge weder zur Verhätschelung und Verziehung des einen noch des anderen kam, das rührte nur daher, weil der alte Bauer und die junge Bäuerin einander gegenseitig auf den Dienst lauerten; die Mutter litt keine unzukömmliche Bevorzugung des Knaben[277] und der Großvater keine des Mädchens, eine Rivalität, die zum Nutzen der Kinder ausschlug.

Oft legte man der Bäuerin nahe, die Todeserklärung ihres Mannes bei Gerichte zu betreiben, um bei schicklicher Zeit und Gelegenheit wieder heiraten zu können, aber sie erklärte, vorab wolle sie erleben, daß ihr Bub als Bauer auf 'm Sternsteinhof säße und die Dirn unter die Haube käm, bis dahin beschäftigten die beiden vollkommen ihr Sorgen und Sinnen, im übrigen sei sie darüber hinaus, von einem abzuhängen und ihm zu Gefallen zu leben; den Kindern lebe sie zuliebe, weil die von ihr abhingen, und werde ihnen keinen Stiefvater aufhalsen, der gerne aller Herrn spielen möchte – und wenn man sie darauf aufmerksam machte, daß sie doch selbst zu Julianen Stiefmutter sei, fragte sie lächelnd: »Bin ich a solche? Verspürst du was davon?« Worauf das Mädchen ungehalten den Kopf schüttelte.

Wohl sah man zweifelnd nach dem lebensfrischen, seiner Schönheit bewußten Weibe, aber niemand in Zwischenbühel noch sonst irgendwo wußte zu sagen, daß die Sternsteinhofbäuerin je ein Ärgernis gegeben. »Ist sie eine Heimliche« – so sagten jene, die es am meisten verdroß, nichts ausspüren zu können –, »so ist sie's aber auch schon recht.«

Dieser ihr Unabhängigkeitssinn, der schließlich dem Anwesen und dessen Erben zugute kam, ihr allerdings nicht von Eitelkeit freies Bemühen, den eigenen Jungen und die Stieftochter rechtschaffen zu erziehen, um als achtbare Mutter wohlgearteter Kinder vor den Augen der Welt dazustehen, ihre Bereitwilligkeit, Bedürftigen beizuspringen, da ihr der Anblick der Not, die sie aus eigener Erfahrung kannte, peinlich war und sie sich gerne von selbem loskaufte, ihre freilich mit etwas Prahlerei auftretende Freigebigkeit für gemeinnützige Zwecke – Straßen- und Brückenanlagen, Schulbauten und dergleichen –, aber auch nur für solche, nie für fragwürdige, das alles waren ebenso viele Steine, die sie bei den Leuten im Brette hatte, und in Zwischenbühel sowie in der Umgegend galt sie für ein »Kernweib in allen[278] Stücken«. Über dieses »Kernweib« vergaß man die Zinshoferdirn und des Herrgottlmachers Weib, man fragte nicht darnach, was die Sternsteinhoferin gewesen, noch, was sie würde, man nahm sie, wie sie war.

Sie wußte das.

Wenn sonntags mit dem dritten Läuten der Wagen vom Sternsteinhofe unten an der Kirchentreppe hält, dann steigen Muckerl und Juliane die Stufen vorauf hinan – wohl ein prächtiges Paar junger Leute –, ihnen folgen Großvater und Mutter. Die Bäuerin schiebt ihren Arm leicht unter den des Bauern, es sieht nicht aus, als wolle sie den Alten stützen, sondern mehr, als ob es geschähe, gleichen Schritt mit ihm zu halten, denn er scheint Ernst machen zu wollen mit den hundert Jahren, die er zu leben sich vorgenommen.

Die Ältern blicken vergnügt und stolz auf die voranschreitenden Jungen und nicken den grüßenden Leuten mit herablassender Freundlichkeit zu, und dann blinkt es in den noch immer jugendfrischen Augen der Bäuerin so selbstbewußt und überlegen: Wie ich bin – weil ich bin!

Sie war sich bewußt, daß sie etwas gelte und daß man etwas an ihr verlieren werde, und pure Eitelkeit war es, die sie vom ersten Augenblicke an, wo sich dies Bewußtsein in ihr regte, darnach trachten ließ, auch etwas »Rechtes« zu gelten und nichts zu unterlassen, was ihren Verlust zu einem augenfälligen machen konnte, und so gewann sie, die immer und allzeit nur sich allein lebte, einen größeren und wohltätigeren Einfluß auf viele als manche andere, die hingebungsvoll nur einem einzigen Wesen oder wenigen ihnen zunächst leben, oft allein durch diese Ausschließung sich gegen alle Fernstehenden bis zur Ungerechtigkeit verhärten und, nachdem sie das Beispiel einer fast selbstsüchtig erscheinenden, eng umgrenzten Pflichterfüllung der Welt gegeben, bedeutungslos für diese, vom Schauplatze abtreten.

Wer hat die wackre Kleebinderin, ihren braven Sohn, den Holzschnitzer, bedauert? Wer wird die rechtschaffene Sepherl beklagen? Niemand. Sie taten das immer unter sich, der[279] Überlebende den Vorangegangenen; ein anderes aber, wenn Helene stirbt. Nicht nur ihrem eigenen Kinde wird das Herz schwer werden, auch das fremde wird ihr heiße Tränen nachweinen, die Armen in der Umgegend und alle jene, die gewohnt waren, freundnachbarlich sich Rat und Tat zu erbitten, wird der Tag bedrücken, an welchem der Tod die Bäuerin hinwegholt vom Sternsteinhofe.


Der Leser hat eine Frage frei. Warum erzählt man solche Geschichten, die nur aufweisen, »wie es im Leben zugeht«?

Allerdings gibt das ein unfruchtbares Wissen, da es nichts an den Vorgängen ändern lehrt und, was es lehrt, doch nie, selbst von den Wissenden nicht, mit dem Handeln in Einklang zu bringen versucht wird; so bleibt es denn voraussichtlich noch lange mit allem menschlichen Treiben und Trachten beim alten, und eine neue Geschichte kann nur dartun: daß, was vorging, noch vorgeht. Übrigens ist es nicht neu, von den Gefahren der Schönheit für den, der sie besitzt, wie für andere, zu erzählen, es ist nicht neu, zu erzählen, wie in manches Menschen Leben die Treue gegen das eigene Selbst mit dem Verrate an anderen verknüpft zu sein scheint, und solche alte Geschichten von erprobter Wirkung in ein neues Gewand zu stecken ist nur ein künstlerischer Behelf, und ein anderer ist es, das letztere für die handelnden Personen aus Loden zuzuschneiden; es geschieht dies nicht in dem einfältigen Glauben, daß dadurch Bauern als Leser zu gewinnen wären, noch in der spekulativen Absicht, einer mehr und mehr in die Mode kommenden Richtung zu huldigen, sondern lediglich aus dem Grunde, weil der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften, rückhaltlos sich äußernd oder in nur linkischer Verstellung, verständlicher bleiben und der Aufweis: wie Charaktere unter dem Einflusse der Geschicke werden oder verderben oder sich gegen diesen und sich und andern[280] das Fatum setzen – klarer zu erbringen ist an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben; wie denn auch in den ältesten, einfachen, wirksamsten Geschichten die Helden und Fürsten Herdenzüchter und Großgrundbesitzer waren und Sauhirten ihre Hausminister und Kanzler.[281]

Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21977, S. 277-282.
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