Entlarvung

[102] Ihr habt geschwelgt in Sünden,

In Sünden sonder Zahl!

Aus euren Augen grinst der Tod

Und euer Wort ist schaal!

Und euer Schwert zerfrist der Rost –

Dieweil mit Dirnen ihr gekost,

Da rangen wir, vom Sturm umtost,

Im nächt'gen Todesthal!


Ihr habt geschwelgt in Sünden,

In Sünden sonder Zahl!

Zerbrochen liegt des Lichts Panier,

Zerbrochen der heilige Gral!

Ihr habt verkauft der Seele Gluth,

Verkauft des Herzens Heldenmuth,

Wie ein gemein verächtlich Gut

Ja! – um ein Sclavenmal!
[102]

Ihr habt geschwelgt in Sünden,

In Sünden sonder Zahl!

Mit Rosen kränztet ihr die Stirn

Zu üpp'gem Freudenmahl!

Bacchantisch habt ihr Nacht und Tag

Gerast bei süßem Lautenschlag –

Da kam die Stunde, die zerbrach

Euch Thyrsus und Pokal!


Ihr habt geschwelgt in Sünden,

In Sünden sonder Zahl!

Da kam die Stunde, die euch riß

Vom Antlitz, todesfahl,

Die Masken – und wir sahen euch

In eurer Schande nackt und bleich,

Aussätz'gen Galgenschächern gleich,

Bei eurem Judasmahl!


Ihr habt geschwelgt in Sünden –

In Sünden sonder Zahl!

Aus euren Augen grinst der Tod

Und euer Wort ist schaal!

Zerbrochen liegt nun all' der Tand,

Aufloderte des Flitters Brand –

Nun schmeckt die Zunge dürren Sand,

Ihr – »Priester der Moral«!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 102-103.
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