Getrennte Liebe

[130] Zwei schöne, liebe Kinder,

Die hatten sich so lieb,

Daß eines dem andern im Winter

Mit Singen die Zeit vertrieb,

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Höret ihr immer den Doppelschall.


Der Winter bauet Brücken,

Sie beide hat vereint,

Und jedes mit frohem Entzücken

Die Brücke nun ewig meint;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Wohnten die Ältern getrennt im Thal.


Der Frühling ist gekommen,

Das Eis will nun aufgehn,

Da werden sie beide beklommen,

Die laulichen Winde wehn;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Stürzen die Bäche mit wildem Schall.


Was hilft der helle Bogen,

Womit der Fall entzückt,

Von ihnen so liebreich erzogen,

Zum erstenmal bunt geschmückt;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Höret sie klagen getrennt im Thal.[131]


Die Vögel über fliegen,

Die Kinder traurig stehn,

Und müssen sich einsam begnügen

Einander von fern zu sehn;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Kreuzen die Schwalben mit lautem Schall.


Sie möchten zusammen mit Singen,

So wie der Vögel Brut,

Den himmlischen Frühling verbringen,

Das Scheiden so wehe thut;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Sehn sie sich endlich zum letztenmal.


Der Knabe kriegt zur Freude

Ein Röckchen wie ein Mann,

Das Mädchen ein Kleidchen von Seide,

Nun gehet die Schule an;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Gehn sie zum Kloster bei Glockenschall.


Sie sahn sich lang' nicht wieder,

Sie kannten sich nicht mehr,

Das Mädchen mit vollem Mieder,

Der Knabe ein Mönch schon wär;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Kamen und riefen sie sich im Thal.


Das Mädchen ruft so helle,

Der Knabe singt so tief;

Verstehn sich endlich doch schnelle,

Als alles im Hause schlief;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Springen im Mondschein die Fische all.[132]


Froh in der nächt'gen Frische,

Sie kühlen sich im Fluß,

Sie können nicht schwimmen wie Fische,

Und suchen sich doch zum Kuß;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Reißen die Strudel sie fort mit Schall.


Die Ältern hören singen

Und schaun aus hohem Haus,

Zwei Schwäne im Sternenschein ringen

Zum Dampfe des Falls hinaus;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Hören sie Echo mit lautem Schall.


Die Schwäne herrlich sangen

Ihr letztes schönstes Lied,

Und leuchtende Wölkchen hangen,

Manch Engelein nieder sieht;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Schwebet wie Blüthe ein süßer Schall.


Der Mond sieht aus dem Bette

Des glatten Falls empor,

Die Nacht mit der Blumenkette

Erhebet zu sich dies Chor;

Diesseit und jenseit am Wasserfall

Grünt es von Thränen nun überall.


Quelle:
Achim von Arnim: Sämtliche Werke. Band 22: Gedichte, Teil 1, Bern 1970, S. 130-133.
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