[33] Doctor Stirn ohne den Inspector kommt zurück mit dem Arzt.
DOCTOR STIRN.
All mein' Ideen! Es kann niemals fehlen!
Sie stecken überall.
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Doch – finden Sie
Nicht diese Kettentolle völlig heillos?
DOCTOR STIRN.
Mein Lieber! unter uns gesagt, ich finde
Die ganz Gesperrten noch gescheiter, als
Die halb Gesperrten – und sie alle wen'ger
Verrückt, als die, so gar nicht eingesperrt.
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Wie meinen Sie, Hochwürdigster?
DOCTOR STIRN.
Mich irren
Vernunftgrimassen nicht. Mit einem Wort:
Ich halte fixe Tollheit der Ideen
Für viel ersprießlicher als vage.
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Tief,
Und umfangsvoll bemerkt! – Es halb schon ahnend,[33]
Bemüht' ich mich, die eigenen Ideen
Nach Ihrem Hirnsystem mir zu fixiren.
DOCTOR STIRN.
Es wird Sie nicht gereun!
BRUNO kömmt von der Zelle im Hintergrunde zurück und naht dem Doctor Stirn.
Herr Doctor! hier
Dicht neben Ihnen sitzt, in Nummer Neun,
Ein Erznarr – wollten Sie die Güte haben,
Den Kopf ihm zu befühlen?
DOCTOR STIRN.
Herzlich gern! –
Zu Schädlein.
Doch, läßt er sich's gefallen?
DOCTOR SCHADLEIN.
Hat bisweilen
Nichts lieber – nur, weil er sich fühlt –
DOCTOR STIRN.
Ich weiß schon.
DER TOLLE indem er Bruno gewahr wird.
Dacht's wohl, daß Er bald wiederkommen würde
Mitsammt den andern Eseln. Guten Morgen,
Langohrig deutsches Publicum!
DOCTOR STIRN leise zu Schädlein.
Ein Hirn
Voll negativer Höflichkeit, wie's scheint?
DOCTOR SCHÄDLEIN ebenfalls leise.
Bisweilen kaum zwei Linien entfernt
Von positiver Grobheit.
DOCTOR STIRN laut, zum Tollen.
Kratzen Sie
Sich einmal auch mit meiner Hand den Kopf,
Ehrwürdigster!
DER TOLLE.
Gesetzt, ich thät's, was dann?[34]
DOCTOR STIRN ihm den Kopf befühlend.
Dann werden Sie sich Ihre eignen Finger
Nicht schmuzig machen!
DOCTOR SCHÄDLEIN für sich.
Merke mir's! – Er weiß,
Wie man mit Tollen sprechen muß!
DOCTOR STIRN nachdem er jenem hinlänglich den Kopf befühlt, zu Bruno.
Sie wollen
Mir gütigst auch erlauben, Herr Professor?
BRUNO nimmt den Hut ab.
Sehr gern! – Wenn mein Kopf irgend Aehnlichkeit
Mit einem solchen hat, ist mein System,
Und nicht das Ihrige grundfalsch.
DER TOLLE.
Was sprecht Ihr
Da von Systemen. Mein System ist jetzt
Das einzig mögliche. Steht still! ich werd' Euch
Das sel'ge Leben schon einbläuen: A –
Er ballt die Faust durch das Gitter.
DOCTOR SCHÄDLEIN schiebt den Gitterladen vor.
Wir würden sonst das eigne Wort nicht hören;
Denn wenn er einmal anfängt mit dem A,
Läßt er's bei'm B nicht bleiben.
DOCTOR STIRN.
Pah! ich wette,
Er hört nicht einmal mit dem X auf. Das
Ist die Natur der höchsten Ueberlage.
DOCTOR SCHÄDLEIN aufmerkend.
Was nennen Eu'r Hochwürden Ueberlage?
Das ist was Tiefes wieder!
DOCTOR STIRN.
Ueberlage
Nenn' ich ein' über die Schneelinie
Des Fixen aller hohen Lagen weit
Protuberirende Anlage.[35]
DOCTOR SCHÄDLEIN indem er in seine Tafel schreibt.
Scharf!
DOCTOR STIRN der indessen Bruno den Kopf umfingert hat.
Der Fall ist einzig! –
Zu Bruno.
Doch – erlauben Sie
Gefälligst, jetzt nur noch ein einzig Mal!
BRUNO wieder mit entblößtem Haupte.
Dreimal! neunmal! so oft Sie wollen! Wenn,
Wie schon gesagt, mein Kopf mit jenes Schädel
Die mindste Aehnlichkeit hat, ist entweder
Mein, oder Ihr System grundfalsch –
DOCTOR STIRN.
Die Schädellehre
Ist unfehlbar!
BRUNO.
Wenn das ist, und Sie dennoch
Aehnlichkeit finden, so erlaub' ich Ihnen,
Den Kopf mir abzuschlagen –
DOCTOR STIRN.
Sonderbar!
Der Tolle hat gerade ...
Er hält inne.
BRUNO ungehalten.
Reden Sie!
Was hat er? – Wenn Sie kein Marktschreier sind,
Beb' ich vor keinem Ausspruch; sind Sie's aber,
Noch weniger; denn dann veracht' ich Sie!
St. Preux naht sich ihnen.
DOCTOR STIRN.
Nun gut! Der Tolle hat die sämmtlichen
Protuberanzen, welche Sie ...
BRUNO äußerst aufgebracht.
Sie lügen!
DOCTOR STIRN gelassen.
So hören Sie mich aus doch, Herr Professor!
Er hat die sämmtlichen Protuberanzen,
Die Sie nach außen haben, innwärts. Dies
Ist einzig – ist ein höchst merkwürd'ger Fall. –
Es wird dadurch vollkommen mir bestätigt,[36]
Was ich vermuthete, daß das Gehirn,
Wie der Handschuh-Polyp, sich kehren läßt –
Daß Weisheit, demzufolge, streng genommen,
Nichts andres sey, als ganz verkehrte Tollheit.
BRUNO.
Wenn's so ist, mußte sich der Kerl einbilden,
Ein Vielfachspinsel, ein Nicolaït,
Ein Nicht-Ich-Klecks zu seyn.
DOCTOR STIRN.
Ganz umgekehrt,
Verehrtester! Er muß sich schlechterdings
Einbilden, Sie zu seyn. Auch wett' ich drauf,
Sein hypophysisch leerer Kopf hat diese
Stoffgas-Idee fixirt.
ST. PREUX der aufmerksam zugehört hat.
Das scheint mir klar.
Er muß sich wähnen, ein Onurb zu seyn,
Ein Bruno stehend auf dem Kopf – ein Nadroj –
Ein von der Mündung bis zur Quelle rückwärts-
Fließender Jordan – kurz, Ihr Gegenpol –
Verehrungswürdigster! das Nadir Ihres
Zeniths – Ihr Ich im Spiegel, das dem Ihr'gen
Zwar gegenüber steht, doch auf ein Haar
Demselben gleicht, wie, fallend, der Erz-Engel
Dem steigenden Ur-Teufel ähnlich sieht –
Ihr einziges Object, wenn sie im Weltnichts
Das einzige Subject sind – wenigstens
Ihr, wenn Sie vorwärts, Rückwärtsgehender,
Nur im Indifferenzpunkt beider Rücken
Mit Ihnen fester Zwillingsgegenfüßler –
Der linke Bogen Ihres größten Cirkels –
Die hintre Seite, Bester! Ihres Mondes –
Die von der Erde weggekehrt bisher –
Mit einem Wort: das Ich-Posterius
Von Ihrem A-prior'-Ich. Mich erfreut's
Den Hauptbegriff von negativer Größe
Auf einmal so befriedigend und klar
In die Philosophie versetzt zu sehen.[37]
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Mir scheint es völlig evident.
BRUNO.
Entgegen-
Gesetzt mag er mir seyn – die ganze Welt
Ist mir entgegen ohnehin; allein
Entgegen heißt nicht ähnlich, heißt nicht gleich.
ST. PREUX.
Davon auch ist ja nicht die Rede, Theurer!
Der Doctor, ganz neutral, behauptet nur
Polarische Identität. Ich hoffe,
Wir sind doch all' in der Philosophie,
Seit Ostern, hoch genug emporgestiegen,
Um einig über einen Punkt zu seyn,
Den nämlich: daß (von Allem abgesehn)
Die Tugend und das Laster, Gut- und Böses,
Dem Einblick absolut identisch sind.
EIN TOLLER ruft aus einer der nächsten Zellen.
Echo!
DOCTOR SEHÄDLEIN.
An sich ist allerdings darin
Gar nichts zu unterscheiden.
ST. PREUX immer zu Bruno.
Daher auch
Das Uebel, wie Sie wissen, Selbstgesetzter!
Durch diese höchst fatale Unterscheidung
Des Nichtzuunterscheidenden entstand.
Daß man vom Bösen unterschied das Gute,
Drin grade ja bestand der Sündenfall.
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Es ist unstreitig, daß Indifferenz
Das ein'ge Höchste sey.
BRUNO.
Das alles sind
Bombastische Nach-Sätze, die mit meinen
Vor-Sätzen nichts gemein, als Sylben haben –
Pausback-Ausfüllungen des magren Nichts![38]
ST. PREUX.
Sie ziehen rein' Ausleerungen des Fetten
In Allem vor. Plus-Minus! – Bombast-Bruno –
Zwei leidner Flaschen, beide spinozistisch
Geladen!
BRUNO abbrechend.
Wo doch blieb der Herr Inspector?
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Er ist zum Herzog abgerufen worden,
Und läßt sich sehr entschuld'gen.
DER TOLLE.
Echo! Echo!
ST. PREUX.
Was ruft der dort?
DER TOLLE noch lauter.
Hei! Echo! Echo!
ST. PREUX horchend.
Laß hören doch einmal, was jener ruft!
DER TOLLE.
Verfluchtes Echo! schweige bis ich rufe!
DOCTOR SCHÄDLEIN geht zur Zelle hin, und streichelt dem Tollen die Backen.
Was giebt's, mein armer Keit? wo fehlt's?
DER TOLLE.
Mich däucht, ich hört' ein Echo, das der Stimme
Voranlief. So was duld' ich nicht; es ist
Impertinent!
DOCTOR STIRN.
Unstreitig!
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Sey nur ruhig!
Und lerne Deine Rolle gut!
Er giebt ihm ein Stück Honigkuchen.
DER TOLLE.
Ich möchte lieber
'Ne geräucherte Heuschreckenkeule
Jetzt fressen.[39]
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Die sollst Du zu Mittag haben,
Wenn Du dich in der Probe nicht verplapperst.
ST. PREUX nachdenkend.
Novalis hat doch Recht: Dichtkunst und Wahnsinn
Sind nah verwandt!
Zu Bruno.
Sie haben doch gehört?
»Ein Echo, das der Stimme kühn voranläuft!«
BRUNO.
Mir scheint dergleichen Unsinn mehr, als Wahnsinn.
ST. PREUX.
Weil Ihre productive Phantasie
Durchaus nur negativ ist. Mir hingegen,
Der eine höchst indifferente hat,
Ist's gleich, was Witz betrifft, ob er den Weg
Um's Vorgebirg der guten Hoffnung, oder
Um das Cap Horn nimmt, wenn er nur die Linie
Passirt, und zu den fernsten Antipoden
Des platten Sinns gelangt.
Zu Doctor Stirn.
Doch, apropos,
Thun Sie mir den Gefallen, jenem blassen,
Höchst schwärmerischen Mädchen dort den Kopf
Ein wenig zu befühlen.
DOCTOR STIRN.
Mit Vergnügen.
ST. PREUX.
Ich werde mich so, hinter Ihnen, stellen,
Daß sie mich nicht gewahr wird; denn es scheint,
Ich wirke zu magnetisch auf sie.
DOCTOR STIRN.
Stille!
Sie nahen sich alle Vier.
DIE TOLLE.
Was? naht sich dort der Berg des Todes selbst?
Noch niemals sah ich Golgatha in Schuhen
Und seidnen Strümpfen. Todesfels, du kömmst
Zum Tanz mich einzuladen! Welch Geruch!
ST. PREUX leise, hinter Doctor Stirn.
Sie wittert schon die Schädellehre![40]
DOCTOR STIRN.
Stille! –
Ich komm' von Osten her, Dich anzubeten
Und zu umarmen, heilige Westnymphe.
DIE TOLLE.
Ist Er der vierte von den heiligen
Drei Königen?
DOCTOR STIRN.
Ich bin der Mohr daneben.
Er befühlt ihr den Kopf.
DOCTOR SCHÄDLEIN leise zu den Andern.
Bewundrungswerth, wie der Herr Doctor weiß
Zu sprechen mit den Tollen – vollends mit
Den Damen! Denn ich habe drinnen schon
Die delicatesten Conversationen
Gehört.
ST. PREUX leise.
Er ist in Wienn gebildet worden.
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Kein Wunder! – Es giebt freilich nur ein Wienn!
DIE TOLLE zu Dr. Stirn.
Du bist sehr weiß für einen Mohrenkopf.
DOCTOR STIRN.
Natürlich, Schatz! Du weißt, ich bin ein Weiser
Aus Mohrenland.
DIE TOLLE.
Hofirst mir, wie ein Narr!
Wär' ich die Gnadenmutter, gäb' ich Dir
Ein' Ohrfeig' –
BRUNO schiebt voll Unwillen den Gitterladen vor.
Es ist unter aller Würde
Der Menschheit, lange sich in einem solchen
Zerrspiegel zu betrachten!
ST. PREUX drückt Bruno die Hand.
Ernsthaft Edler!
Sie haben Recht. Die beiden Herrn sind Aerzte –
Leise ihm in's Ohr.
Das heißt soviel als Cyniker –[41]
BRUNO.
Mag seyn;
Wir sind es aber nicht.
ST. PREUX laut zu Stirn.
Was fanden Sie,
Herr Doctor?
DOCTOR STIRN.
Nichts außer der besonderen Structur
Gewöhnlicher kathol'scher Nonnenköpfe.
Sie sind dies Jahr, selbst in Berlin, nicht selten.
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Sie ist noch auszuhalten. Aber Gretchen –
Das Gretchen –
DOCTOR STIRN.
Ja, das Gretchen!
DOCTOR SCHÄDLEIN zu St. Preux.
Gretchen nämlich
Wird eine hies'ge Clausnerin genannt,
Weil sie sich einbild't, die vom sel'gen Faust
Verführte Margaretha selbst zu seyn –
ST. PREUX.
Ist sie noch rührender als diese?
DOCTOR SCHÄDLEIN.
Oh!
Oh!
DOCTOR STIRN.
Oh!!
ST. PREUX.
Dann will ich sie nicht sehn!
Schnell zu Schädlein, ihn bei Seite führend, und seine Hand ergreifend.
Herr Doctor!
Empfangen Sie, beim Abschied hier, in Gold,
Mein letztes Honorar zur Pflege beider
Unglücklichen – und sorgen Sie dafür,
Daß täglich werd' in was dadurch versüßt
Ihr Schicksal.
Er steckt ihm eine Rolle in die Tasche.
Nur Geheimniß bitt' ich mir[42]
Von Ihnen aus. Ich bau' auf ihr Gewissen.
Zu Stirn und Bruno
Empfehle mich auf's beste, meine Herrn!
Er eilt davon.
Ausgewählte Ausgaben von
Der vollendete Faust oder Romanien in Jauer
|
Buchempfehlung
Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.
386 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro