XII

[126] Vorausgesetzt, daß man jedem der Normcharaktere (Bürger, Künstler, Heiliger) eine besondere Persönlichkeit zusprechen darf, so ist jede dieser Persönlichkeiten, von der höchsten begonnen, Vorbild der andern, gemäß der größeren Fülle und Vereinheitlichung ihrer Funktionen und Vermögen. Gleich hierbei wäre zu sagen, daß der Begriff der Persönlichkeit selbst, als Urbild, der höchsten Normsphäre entstammt und innerhalb ihrer garantiert wird. Auch wäre gleich hier zu betonen, daß die Vereinheitlichung, welche die Heilung von Neurosen bewirkt, nichts anderes ist als ein Zusammenschluß vorher entzweiter, verdrängter, belasteter oder verletzter Zweckvermögen zur integralen Person. Dem Arzte, dem Künstler und dem Exorzisten ist es gemeinsam, daß sie den entfesselten Konflikt, der das normhafte Funktionieren der Lebensenergie behindert, daß sie diesen Konflikt durch Wiederherstellung der gestörten Harmonie und Freiheit heilen. Jeder dieser Typen ist dabei auf den speziellen Sinn seines Normbereiches hingewiesen: der Arzt auf die Gesundheit, der Künstler auf die schöne Gestalt, der Heilige auf die Liebe. Was freilich nicht ausschließt, daß die[126] Typen sich kreuzen können: etwa im Seelenarzte, der dann Arzt und Künstler zugleich ist, oder im Exorzisten, der alle drei Normbereiche umfaßt. Am Künstler aber wird das Problem der Persönlichkeit besonders augenfällig und ist hier am leichtesten abzulesen. Er ist der umworbenste Typus, weil alle drei Normbereiche in ihm zusammenfließen und ihre Funktionen in ihm erkennen. In der Mitte stehend, vertritt er den Durchschnittstypus der Norm.

Verharren wir aber ein wenig bei dem Begriff der Persönlichkeit. Es bedarf nicht vieler Worte, um zu erweisen, daß jedermann lebt und eine Seele hat, aber nicht jedermann eine Persönlichkeit ist. Auch das zweite, daß jedermann ein Ich besitzt, aber nicht jedermann eine Persönlichkeit, wird zugestanden. Einer Unterscheidung aber bedarf es zwischen Individuum und Person. Die Individualität ist gleich dem Ich ein Naturbegriff, die Persönlichkeit nicht; Mercier nennt sie den formellen Grund der Individualität. »Daß das mit Vernunft und Freiheit begabte Individuum«, so sagt er (›Psychologie‹, II 316), »in ganz besonderer Weise den vollen Besitz seiner selbst bekundet, das ist der formelle Grund seiner Individualität.« Er scheidet nicht zwischen drei verschiedenen Persönlichkeitstypen, er bestimmt nur allgemein den Begriff der Person, wenn er sie »das Subjekt unverletzbarer Rechte« nennt, wenn er der Person die Attribute ›moralisch‹ und ›juristisch‹ zuweist. Er nennt es etwa »gegen die gesunde Vernunft und das Naturrecht«, wenn man Anspruch darauf erheben wollte, sich des Menschen als eines bloßen Werkzeugs, als einer Sache, res, zu bedienen. Für die menschliche Person charakteristisch erscheint demnach das Recht; das Recht nämlich, unter eigener Verantwortung an der Verwirklichung des Zweckes zu arbeiten, für den sie geschaffen ist. Wir haben nun gesehen, daß es der Zwecke dreie gibt: die Erhaltung des Lebens und der Art in der somatischen und politischen Sphäre; die Gestaltung der materiellen und seelischen Fakten in der künstlerischen; und die Pflege der Gottesliebe in der pneumatischen Sphäre. Alle diese Zwecke der Person aber sind durch das betreffende Gesetz bestimmt: durch das politische Gesetz in der natürlichen Gesellschaft, durch das ästhetische im Bereich der Kunst, durch das kanonische im Bereich der Kirche.[127]

Von welcher Bedeutung die Persönlichkeit gerade für den Künstler ist, das mag ein Beispiel erhärten. Der Künstler hat die Norm der sozialen Welt zu gestalten. Das heißt: er hat die ihm aus der untergeordneten Sphäre entgegenkommenden Materien und Bilder in seinen Phantasieschatz einzutragen und dann mit Mitteln seiner Phantasie und den ihm aus der übergeordneten Sphäre zuströmenden Formelementen ein neues, feineres Gebilde, das Vorbild, den Typus, aufzustellen. Sein Werk aber wird ihm, ohne daß er eine Persönlichkeit, und zwar der sozialen, ästhetischen und der religiösen Sphäre zugleich sei, das heißt über den freien Gebrauch der Mittel aller drei Normsphären verfüge, unmöglich sein. Versucht er, der Natur auf den Grund zu kommen, ohne an die Person des Schöpfers zu glauben, so wird er, je nach dem Vorwalten seines Gefühls oder seines Intellekts, entweder bei einem proteischen Chaos oder bei einer geometrischen Abstraktion sich beruhigen. Sucht er der Natur zu entgehen und im psychischen Bereich zu verbleiben, so wird ein individueller, unverdaulicher Symbolismus die Folge sein. Stößt er aber beim analytischen Teil seiner Aufgabe auf libidinöse Verdrängungen seiner eigenen Psyche, so wird eine Neurose manifest werden, die ihm entweder die Weiterarbeit vereitelt oder deren befremdliche Elemente er in die Gestaltung einbezieht. Prinzip der Gestaltung aber ist immer die Person. Heute, in der Zeit der Zusammenbrüche und der analytischen Vertiefung, sind die Künstlerneurosen an der Tagesordnung. Sie haben keine anderen Gründe als die Fragwürdigkeit der von der übergeordneten Norm gelösten Person des Künstlers selbst. Eine letzte, verzweifelte Möglichkeit bleibt, daß der Künstler, der auf Persönlichkeit nicht verzichten kann, zum Urbild seiner Neurose durchdringt und sich mit ihm identifiziert, also eine dämonische Person annimmt gleich denjenigen, die Jung aufzählt, wenn er davon spricht, daß unser Unbewußtes an der historischen Kollektivpsyche Anteil habe und ›natürlich unbewußt‹ in einer Welt von Werwölfen, Dämonen, Zauberern usw. lebe. Die Malerei, die visionäre Kunst, wimmelt bereits von solchen Gestalten; die Poesie wird ihr folgen.[128]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 126-129.
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