II.

[73] Krastinik und Leonhart gingen in Friedenau spazieren. Sie hatten mitsammen einen Ausflug gemacht, um einen dort wohnenden Antisemiten zu besuchen, da sich Krastinik lebhaft für diese Bewegung interessirte. Freilich hinderte ihn das nicht, mit den jüdischen Redactionen persönlich auf bestem Fuße zu verkehren. Von einem Grafen läßt man sich ja viel gefallen.

Darauf spielte Leonhart an, indem er ironisch äußerte: »Ach Gott, der Antisemitismus des Adels! Da ärgert sich Baron v. Habeiuchts, daß Itzigs Madera und Maitresse feiner als die seinen, und gnä' Fröl'n Adelheid v. Schwindelheim kriegt die Gelbsucht, weil Kalle Mosessohn kann fahren mit Gummiräder.«[73]

»Das sagen Sie, Verehrtester, und gelten doch für einen fanatischen Antisemiten?«

»Wieso ich zu dieser Ehre kam, blieb mir schleierhaft. Mag ich gelten, wofür man will! Man lasse die Leute schwatzen! Ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß ich in dem gang und gäben Sinne kein Antisemit bin, sondern nur so, wie alle lebenden Deutschen es sind und ein guter Bruchtheil der anständigen Juden dazu. Ich bewundere den dämonischen Selbstsucht-Instinkt dieser Race und schätze sie als zersetzendes Element für die teutonische schlafmützige Michelei. Nur darf die semitische Unduldsamkeit nicht jedes freie Wort verpönen. Ich hasse nicht die Juden, sondern den jüdischen Geist. Und der steckt in manchem getauften Antisemiten erst recht. Ich habe den Muth meiner Meinung und sage ins Gesicht, was die Philosemiten hinter'm Rücken ihrer jüdischen Brotherrn stänkern. Aber nicht mal die jüdische Presse, die vielverschrieene, taugt weniger als die christliche. Stets gerecht, erkenne ich gewisse großartige Eigenschaften des Judenthums im Gegensatz zu deutscher Kleinlichkeit willig an. Der semitische Größenwahn gründet sich auf wirkliches Kraftgefühl und ihr Nützlichkeitsprinzip verbindet sich sogar mit warmblütigem Gemüth. Eigentlich liebe ich die Juden, diese willensstarke napoleonische Race, ebenso wie ihre Weiber oft den ältesten Blutadel der Welt im Gesichtsschnitt aufweisen.«

»Sie sonderbarer Schwärmer! Und haben's doch so ganz mit den Söhnen Israels verdorben!«

»Mit wem hätte ich das nicht?!«[74]

»Sehr wahr. Wie werden die Schulmeister auf Sie schimpfen nach Ihrer neulichen Rede!«

»Pah!« lachte der Umstürzler verächtlich. »Kerls, die ihr Waschbecken für den Ocean ansehn und den alten Homer, dem bei ihrem Anblick übel geworden wäre, als ihr Eigenthum betrachten! O diese Kleinigkeitskrämer! Wo ist ein Mann, ein Ganzer, unter all diesen Halbmenschen!«

In diesem Augenblick kam eine merkwürdige Erscheinung die Friedenauer Chaussee herab, wie als Antwort auf diese Frage. Ein ungeheurer Hund sprang bellend vorüber und dann folgte ein Herr (seine Kutsche rollte in einiger Entfernung nach) in einfachem schwarzem Anzug mit einem großen Schlapphut, so wie der alte Wodan ihn getragen haben soll. Und ein durchdringendes forschendes Wodansauge flammte unter buschigen Brauen auf, als die Beiden ehrerbietig grüßten und er höflich dankte. In diesen Zügen, welche Europa kennt, lag eine tiefe unergründliche Trauer.

Die Hünengestalt schritt wuchtig vorüber. Die Beiden sahen ihm lange schweigend nach, dann setzten sie ihren Weg fort.

»Schwer genug,« hob Leonhart nach einer Pause, wo Jeder seinen Gedanken nachhing, an, »ja, fast unmöglich, schon heute über einen Bismarck abschließend zu urtheilen! In ununterbrochener Entwickelungskette wälzt sich die Geschichte fort. Diese Kette führt von den Wickingfahrten der Nordseesachsen zur Hansa, von den Wendenkämpfen[75] zum deutschen Orden in Preußen, von den Hohenstaufen zu den Hohenzollern.«

»Sehr gut,« fiel Krastinik ein. »Das ließe sich noch weiter ausführen. Der Nibelungendichter, Wolfram und Walter befähigten wohl Goethe, Schiller und Hutten zu sprechen.«

»Zweifellos. Es ist der Geist Luthers, der in Lessing weiterwirkt.«

»Und vielleicht das Genie Friedrichs des Großen, dessen Abglanz auf Bismarck ruht? Aber nein, dieser Vergleich würde hinken. Vielmehr scheint mir gerade Luther« – er zögerte.

»Ganz recht,« bekräftigte Leonhart. »Dieser derbe sächsische Bauer gemahnt am meisten an Bismarck, falls wir nach einer Parallele suchen.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Bezeichnet Bismarck einen Uebergang oder einen Höhepunkt, ein Bleibendes im kreisenden Werden der Dinge? Wir wissen es nicht. Eins aber wissen wir: daß auf ihn die Definition paßt, die Carlyle, der Prediger der Heroen-Verehrung, einem ›Helden‹ giebt: ›Es ist jederzeit die Eigenart des Helden, auf die Realitäten zurückzukommen, sich auf die Dinge, statt auf den Schein der Dinge zu stützen.‹ Auch hat die Prophetenstimme des modernen England sich dahin erklärt: Bismarck sei eine Art Cromwell, soweit dies in unsrer armseligen Zeit möglich. Wirklich ähnelt der grimme Feind des deutschen Plapperments dem parlamentauflösenden Lord-Protektor durch eherne Thatkraft und Zähigkeit sowie eine gewisse Rücksichtslosigkeit im Zugreifen.«[76]

»Hm, ja.« Der Graf nickte nachdenklich. »Selbst das Verhältniß Bismarcks zu Moltke mag Vergleich-Jäger an dasjenige Cromwells zu Blake erinnern. Allein von der mystischen Gefühlstiefe und düstern schmerzvollen Gluth des Puritaners kann man doch nur mangelhafte Spuren in dem praktischen preußischen Weltmann entdecken.«

»Na überhaupt! Das wollen wir denn doch dahingestellt sein lassen, ob man Bismarck zu den Genies vom ersten Range wie Napoleon und Cromwell rechnen dürfe. Von jener Universalität der Begabung, wie sie solche Feldherrnherrscher bekunden, kann hier ja nicht die Rede sein. Freilich, die originale Fortentwickelungsfähigkeit einer schöpferischen Einbildungskraft, welche mir das eigentliche Wesen des Genies auszumachen scheint, besitzt ja der Einiger Deutschlands auch.«

»Wieso?«

»Nun, seine patriotische Idee, von der er dämonisch beherrscht blieb, reifte unablässig in ihm fort. Er trug sie mit sich, er modelte sie stetig um und paßte sie rastlos allen sich bietenden Verhältnissen an.«

»Schon recht. Aber der ekelhafte Götzendienst seiner knechtischen Schmeichler muß doch jeden unabhängigen Mann zum Widerspruch reizen,« erwiderte Krastinik.

»Hm, er bleibt nun eben doch der größte Meistervirtuose der diplomatischen Technik. Wenn man seine Leitung unsrer auswärtigen Geschäfte sorgsam prüft, so wird man zum Verständniß dieser eigenthümlichen Genialität gelangen.«[77]

»Und über ihn als Charakter ...«

»Ach, darüber reden wir doch lieber nicht. Eine optimistische Anschauung zu theilen oder anzufechten, kann keinem Verständigen belieben, da den Zeitgenossen ein genügendes Material zu Gebote sieht. Es gehört der Tiefblick eines Dichter-Psychologen dazu,« Leonhart betonte diese Worte mit verstecktem Selbstbewußtsein, »um die Widersprüche im Charakter dämonischer Individualitäten zu lösen und zu verknüpfen.«

»Das soll wohl heißen: Die Feinde des Bismarckschen Charakters wie die Verehrer desselben haben alle beide recht und alle beide Unrecht?«

»Just so, exactly,« Leonhart liebte es, solche englische Brocken einzustreuen – »sobald man einseitig bei Fehlern oder Vorzügen des Privatmenschen verweilt. Na, und dann gehört es ja zu den unleugbaren Schwächen dieses großen Mannes, jede Antastung seiner unfehlbaren Makellosigkeit als eine Art Gotteslästerung, auch ›Bismarckbeleidigung‹ genannt, aufzufassen: Das ist eben sein Größenwahn. Da behält ein gescheidter Mann seine Ansicht am liebsten für sich, heut wo das Denunciantenthum förmlich herangezüchtet wird. Denn wer die Macht hat, hat immer Recht. Uebrigens, wem steht heut ein maßgebendes oder gar abschließendes Urtheil zu! Seichte und selbstische Parteimeinung deckt sich nimmer mit dem unbestechlichen Wahrspruch, den dereinst überlegene Wissende vor dem Richterstuhl der Geschichte fällen werden.«

»Jaja, ein Urtheil über Männer der That ist überhaupt schwer,« bemerkte der Graf sehr richtig. »Die[78] Gedankenfaulheit urtheilt ja da immer nur nach dem Erfolg. Das mechanische Getriebe der Welthändel unterscheidet sich doch gar sehr von den ewigen Thaten der Kunst und Wissenschaft. Wie kann eine feststehende Werthung möglich sein, wo so Vieles vom Zufall und den ›untoward events‹ abhängt! Und ist nicht Bismarck Opportunist durch und durch?«

»Das ist kein Vorwurf, sondern ein Lob für den Staatsmann, der nur von den Schiebungen der Möglichkeiten bestimmt wird und dessen Größe gerade in dem klaren Blick für das augenblicklich Nothwendige besteht. Und hat etwa der gewaltige Mann je darüber den einen Zweck vergessen, den er mit eherner Konsequenz durch sein ganzes thatenreiches Leben verfolgte?«

»Na, ein selbstloser Idealist kann er doch wenigstens nicht genannt werden. Stets hat er verstanden, sein eigenes Wohl mit der Wohlfahrt des Vaterlandes zu vereinen. Und dabei klagt er noch über die sprichwörtliche Undankbarkeit der deutschen Nation!«

»Ja,« sagte Leonhart lächelnd, »man denkt unwillkürlich an das boshafte Pamphlet Swifts über den schweren Undank, mit welchem Marlborough sich belastet erklärte – in der runden Summe von 54000 Pfund Sterling! Im Gegentheil, ›es ehrt die Nation in der Gegenwart und stärkt die Hoffnung auf ihre Zukunft‹, wie es in dem herrlichen Briefe des Kaisers vom 1. April 1885 heißt, wenn sie das Große anerkennt. Denn wahrlich, dieser Bismarck ist nach Luther und Friedrich unser verdientester Mann.«[79]

»Nun ja, er besitzt ein Willenszentrum von außerordentlicher Stärke, wie schon seine Bulldoggennase beweist,« meinte der Oesterreicher achselzuckend. »Aber das Geheimniß seiner Erfolge liegt doch in der Bornirtheit und Verlotterung der herkömmlichen Diplomatie, mit welcher er zu ringen hatte. An seiner Stelle mit seiner Macht könnten Viele das Gleiche leisten. Pah, mein Bester, die betreffenden politischen Schiebungen bestimmen meist die Politik halb willenlos und als Leiter von 46 Millionen kann man schon gebietend auftreten. Hat doch sogar Excellenz Windthorst in offenem Reichstag ähnliches verlauten lassen!«

Leonhart schüttelte den Kopf und sann einen Augenblick nach. Dann fragte er: »Langweilt es Sie, wenn ich Ihnen meine Auffassung der Bismarckschen Politik vortrage?«

»Im Gegentheil. Ich bitte darum.«

Jener räusperte sich und begann, indem die Gedanken ihm stromweise zuflossen:

»So geniale Züge wir in der Politik Richelieus, Cromwells und Napoleons bewundern, möchte ich doch beinahe die Behauptung wagen, daß ein solcher Meistervirtuose der diplomatischen Technik in den auswärtigen Angelegenheiten kaum jemals erstanden sei, daß Bismarck als diplomatischer Spezialist ungefähr die Stellung unter seinen Kollegen einnehme, wie sein Lieblingsdichter Shakespeare in der Litteratur.

Bei der Abwägung und Werthung staatsmännischer Verdienste muß man in erster Linie die Umstände selbst[80] in Berechnung ziehen. Es war z.B. ein gut Stück Arbeit, wenn Gustav Adolf und Oxenstjerna das kleine arme Schweden zu einer Großmacht erhoben. Aber die europäische Konstellation lag diesem Beginnen auch überaus günstig und zuletzt nahm dies ungesunde Hinaufschrauben eines Kleinstaats zu unmöglicher Stellung ein Ende mit Schrecken. Napoleon und Cromwell vollführten gewiß Staunenwerthes, doch ersterer wurde durch die Elementarkraft der Revolution so hoch gehoben, letzterer blieb vor direkter Einmischung des Auslands durch Englands Inselthum geschützt. Bismarck aber fand Preußen in tiefster Erniedrigung und führte es aus denkbar ungünstigsten Verhältnissen, im Kampf mit dem Innern wie mit dem Auslande, zu der ihm gebührenden Welthegemonie empor.

Daß die Sehnsucht nach der Einheit in ganz Deutschland verbreitet war, daß Myriaden braver Deutscher vor Bismarck darnach gestrebt hatten, daß ihm, sobald man erst sein wahres Ziel erkannte, diese ganze große Nation einmüthig entgegenjubelte, thut seinem besondern Verdienste keinen Abbruch. Daß er schon auf dem Frankfurter Bundestag seinen Schwur des Hannibal im Herzen trug, wird wohl heut kaum einer mehr bezweifeln. Freilich nur in unbestimmten Umrissen. Daß er wie jeder geniale Mensch mit seinen Zielen wuchs, an seinen Erfolgen sich fortentwickelte, steht außer Frage. Erst nach 1870 wurde er ganz Deutscher, bis dahin vertrat er lediglich das Interesse Preußens. Ehre ihm dafür! ›Charity begins at home!‹ sagt das englische Sprichwort.[81]

Erst wenn ein geschichtlicher Individualmensch dadurch erklärt werden soll, merkt man so recht das Mißliche des Vergleichens. Da hat man in der Konfliktszeit Bismarck den preußischen Strafford genannt, weil sein zäher Royalismus an jenen starrköpfigen Minister Karls I. zu gemahnen schien. Und doch erinnert Bismarcks Wesen und Gebahren gerade um gekehrt an die hochmüthigen, nervenkranken, jähzornigen, portweinliebenden Pitts, mit welchen er auch den bis zum Fanatismus gesteigerten Nationalstolz theilt. ›Wenn ich denn von einem Teufel besessen bin, so sei es ein teutonischer Teufel!‹ diese Worte des einstigen Gesandten in Petersburg soll die Geschichte auf das Grabmal des Reichskanzlers schreiben, wie auf das des jüngeren Pitt den Liebesseufzer des Sterbenden: ›My country, how do I love my country!‹

Bis 1864 mußte die Politik Bismarcks dahin streben, Preußen möglichst isolirt zu halten, um bei dem augenblicklichen Uebergewicht Oesterreichs im deutschen Bunde nicht ins Schlepptau genommen zu werden und ein zweites Olmütz zu erleiden. Die Neutralität 1859, die freundschaftliche Annäherung an Rußland 1863 und die trotzige Gleichgültigkeit gegen die Forderungen der Westmächte waren wichtige Etappen auf dem langen Wege, den er vor sich sah und mit immer gleicher Umsicht und Festigkeit verfolgte.

Als sein diplomatisches Meisterstück aber hat er stets das Jahr 1864 bezeichnet, wo es ihm gelang, den Rivalen Oesterreich selbst als Hebel zu benutzen, indem er zugleich durch das Danaergeschenk Holsteins bereits den nöthigen[82] Zankdrossel für den lange sorgsam vorbereiteten Bruch mit Oesterreich diesem hinwarf. Von da ab, Oesterreich über das nahende Ungewitter so lange wie möglich täuschend, galt es freundliche Fühlung mit Napoleon zu gewinnen und unter dem Schutz dieser Deckung mit Napoleons Klientelstaat Italien sich gegen den gemeinsamen Feind Oesterreich zu verbinden. Daß Bismarck 1866-68 ein sogenanntes falsches Spiel mit Napoleon trieb, darf kaum bestritten werden. Die Enthüllungen Benedettis über die zweideutige List, mit welcher Bismarck ihm die geheimen Wünsche Frankreichs ablockte und selbst in Form eines Vertrags zu Papier bringen ließ – mit der festen Absicht, eben diesen Vertrag später gegen Frankreich auszuspielen, wie es 1870 wirklich geschah – sind nie positiv widerlegt worden. Lag doch ein besonderer Kniff der Bismarckschen Politik stets darin, den Feind ins Unrecht zu setzen und genau zu dem Schritte zu verleiten, der im richtigen Augenblick den gewünschten Krieg herbeiführen mußte. Diese Taktik wurde denn auch 1870 meisterlich angewandt.«

»Alles ist erlaubt im Krieg und in der Politik – gegen diesen Grundsatz läßt sich schlechterdings nichts einwenden. Es gewährt einen besonderen Genuß, in der Luxemburger Frage 1867 das Schachspiel des im Dupiren stets dupirten Ränkeschmieds Louis Napoleon mit dem kaltblütig sicheren ›Mann von Eisen‹ zu beobachten, der stets vorsichtig, nie übereilt und im gegebenen, Fall unerschütterlich ent schlossen, weder Bitten noch Drohungen zugänglich erschien.[83]

Nachdem man sich 1870 durch Rußland gegen Oesterreich gedeckt, wurde bald genug klar, daß die Errichtung des deutschen Reiches und die Demüthigung Frankreichs von Rußland als eine Störung des europäischen Gleichgewichts empfunden wurden. Es blieb daher nur ein Ausweg und ihn ergriff Bismarck mit untrüglichem Scharfblick im geeigneten Moment: Aussöhnung mit Oesterreich und Bündniß der zwei deutschen Kaisermächte als Bollwerk Mitteleuropas gegen Osten und Westen. Außerdem galt es, durch die Kolonialbeziehungen Frankreich und England wechselseitig gegen einander auszuspielen. Die absolut richtige Haltung Deutschlands in der Bulgarischen Frage, welche Oesterreichs wahre Interessenpolitik klarlegte und dessen nothwendige Entschlossenheit, in gewissen Fällen selbst auf eigene Faust seine Stellung zu bewahren, erwies, scheint von Schwachköpfen ebenso wenig begriffen, wie früher die tiefdurchdachte Führung des Meisters in anderen Fragen.«

Leonhart schwieg einen Augenblick, dann lachte er leise, vor sich hin und fuhr fort:

»Es hat einen tragikomischen Beigeschmack zu beobachten, wie auch diesem Manne der That keine der üblichen Scherze erspart blieben, die man an jedem genialen Menschen verübt, bis Erfolg und Macht ihn gefeit haben. Das berühmte ›Was, der will mehr sein als ich? Der hat ja mit mir am Biertisch gesessen!‹ begleitete auch Bismarcks Auftreten und man wunderte sich nicht wenig über diesen Glückspilz, der Karriere zu machen anfing,[84] ohne regelrechte Staatsexamina absolvirt zu haben. Von übersprudelndem aufrichtigem Wahrheitsdrange beherrscht, konnte er öfters den jovialen Herzensergießungen seiner Zunge nicht Halt gebieten und vertraute seine großen Pläne Leuten an, die ihn gar nicht zu verstehen fähig waren. ›Il est fou‹ urtheilte Napoleon über den Mann von Varzin und der intriguante Phantast Disraeli nannte Bismarcks vertrauliche Eröffnungen ›the moon-shine of a German baron!‹ Endlich fanden von jeher größenwahnsinnige Impotenzen, daß dieser erfolgreiche Streber weit überschätzt werde und daß eigentlich sie die wahren Messiasse seien – so Graf Goltz, so später Graf Harry Arnim. Ein Glück für die deutsche Nation, daß der eiserne Kanzler keine weichherzigen Humanitätsflausen zu üben pflegt, sondern all dies Völkchen mit rücksichtsloser Härte unter seine Sporen tritt.

Und so steht er nun schon jetzt vor dem Auge der Mitwelt wie eine bronzene Statue da in seinen Siebenmeilenstiefeln, den wuchtigen Flamberg dem Boden eingerammt und das Wodanauge unter buschigen Brauen hervorblitzend aus dem behelmten Haupte. Wenn er sich zur letzten Ruhe streckt – ›Il est mort!‹ wird man in Europa aufstöhnen, wie bei der Todesnachricht von St. Helena –, so darf er sich selbst gestehen, daß ein heroisches Leben hinter ihm liege. Man mag an ihm mäkeln, so viel man will – er war unser letzter großer Mann, die mächtigste Erscheinung Deutschlands in diesem Jahrhundert, welcher sich kein Ebenbürtiger in der übrigen[85] Welt vergleichen darf. Der würdevolle großherzige Gentleman, der als erster deutscher Kaiser und echter Mehrer des Reichs so glorreich seinem Volke vorleuchtete, und sein treuer Hagen werden ewig in deutschen Landen fortleben als Ideale heroischer Männlichkeit. Und ein neuer Nibelungendichter wird dereinst von Otto dem Großen singen und sagen, wie von dem alten Marschall der Burgonden:


›Da ritt der grimme Hagen den andern all zuvor,

Er hielt den Nibelungen wohl den Muth empor‹.«


Am anderen Tage erhielt Krastinik in Leonharts Handschrift das folgende Gedicht:


An den Reichskanzler.

Nie mengte ich mich jener Feigen Zahl,

Der Sklavenherde, die der Tag regiert,

Die, als Erfolg mit Lorber Dich geziert,

Dich angestaunt als ihren Götzen Bai!


Nicht Deine Macht gilt mir Unfehlbarkeit.

Nicht Du allein erschufest, was geschehn.

Auch Du warst nur erfaßt vom Sturmeswehn

Der allbeherrschend vorbestimmten Zeit.


Und doch, wie stehst Du hehr und riesenhaft.

Gewaltiger, vor diesem Zwerggeschlecht!

Ein Heiliges glüht unverlöschbar echt

Dir ewig durch den Rauch der Leidenschaft.


Es ist das Letzte, was dem Manne blieb,

Seit Säul' um Säule jeder Tempel fiel:

Der Vaterlandesgröße stolzes Ziel,

Zum eignen Volk der liebevolle Trieb.
[86]

Nicht Liebe war ja Deines Lebens Amt.

Dich hob zu Sternen ein erhabner Groll,

Da Dir das Löwenherz im Busen schwoll

Ob aller deutschen Schande insgesammt.


Nicht mitzulieben wie Antigone,

Nein, mitzuhassen, Grimmer, warst Du da.

Doch aus dem Hasse keimte Liebe ja,

Für uns geblutet hat Dein zorniges Weh.


Dein Volk, Dein Vaterland hast Du geliebt.

Des alten Reiches Schemen aufgenährt

Mit warmem Blut, wie's einst Ulyß gewährt

Dem Schattenheer, das durch den Hades stiebt.


Erz nietete den thönernen Koloß.

Noch jüngst – wie Freudenfeuer kreisend rann

Ein flammend Hochgefühl von Mann zu Mann,

Da Deiner Rede Flammenstrom sich schloß.


In Dir nur lebt der wahre Ahnenstolz

Des deutschen Namens, dessen Machtgebot

Einst sonnenhell die weite Welt durchloht!

Geschnitten Du aus Nibelungenholz!


Den deutschen Hundesinn tritt in den Koth!

Lehr Du den Stolz, ein deutscher Mann zu sein!

Wo solche Eichen wachsen, muß gedeih'n

Der deutsche Stolz in aller Wetternoth.


Wo deutsche Zunge spricht, da bleibe stumm

Der Wälsche und der östliche Barbar!

Des Römers Erbe der Germane war –

Civis Romanus sum!


Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 73-87.
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