IV.

[482] Als Motto standen auf der Titelseite aus Händel-Miltons Oratorium »Samson Agonistes« die Verse: »Laß mich mit Thränen mein Loos beklagen, Ketten zu tragen das ist mein Geschick.« Ja, wahrlich, hier tobte ein geschorener geblendeter Simson in seinen Ketten – er, der so oft mit einem Eselskinnbacken die Philister erschlug.

Bei Lebzeiten des Dichters wäre eine Veröffentlichung dieses Tagebuchs ein unmögliches Vabanque-Spiel gewesen oder zum Staatsstreich geworden. Die unheimliche Menschenkenntniß, die hier intuitiv in allen Seelen las, ihr Schicksal mit einem Blick vor-und rückwärts erkundend, paarte sich einem unerbittlichen Zuhausesein im eignen zerwühlten Herzen. Dies schien ihm der Spiegel geworden, durch den er die Herzen der Andern sah.

Man blickte gleichsam über den Schreibtisch des Dichters, wie er verzweifelt nach Vollendung rang. Man sah ihn als halbflüggen Jüngling seinen unreifen Weltschmerz und seine unglückliche Liebe in wilden Liedern ausgrollen, aber nicht in rethorischer Formvirtuosität, nichtselnd, sondern an großen Stoffen sich die Zähne ausbeißend. Langsam und stetig gewann er Herrschaft über die Form, allerdings eine neue Form, von welcher der akademische Jargon der Poesie-Eunuchen und Hermaphroditen noch nichts ahnte. Mit durstigen Sinnen schaute er sein handlungbewegtes Leben an und angeschautes Leben trat in all seinen Schriften hervor. Ja, er eroberte sogar neue Stoffgebiete, welche der Poesie noch[483] nie erschlossen waren. Unaufhaltsam rollte der Wagen dieses geistigen Imperators die Via Triumphalis hinan.

Dabei blieb er kameradschaftlich jovial, trotzdem das volle Bewußtsein seines Werthes ihn aufrecht erhielt im Sumpf der litterarischen Bohème. Aber grade in Folge seiner Bonhomie kam eine Vertraulichkeit seiner Schützlinge zum Vorschein, die dem verwöhnten und stolzen Manne nicht behagen konnte. Wunderknaben, die er gegen alle Welt geschirmt, vermaßen sich ihn zu fragen, wie einst der Dichterling Polidori seinen Gönner Byron: was er denn eigentlich mehr leiste als sie. Wer in seinem Schatten vegetirte, nahm später einen lehrhaften Ton gegen den allzu Gutmüthigen an. Wenn dann dem Ewigkeitsmenschen endlich die Geduld riß, rannten sie wie toll umher und klatschten Schauderdinge von seinem Hochmuth, während es gerade als sein Fehler erschien, daß er sich würdelos wegwarf. Im tiefsten Innern bescheiden allem Großen gegenüber, hingebend und übertrieben wohlwollend gegen alles leidlich Bedeutende, zweifelte er stets an seiner Unfehlbarkeit, unbeirrt durch das Hosianna seiner Bewunderer wie das Gekläff seiner Neider. War er nur der Christoph Marlowe eines neuen Shakespeare? War er der Riese Christoph, der das Jesuskind über die wilden Wasser trägt? Oder war er selbst dieser Messias der Poesie? Er wußte es nicht. Auch grübelte er nie darüber und fühlte sich stets bereit, das Knie zu beugen vor dem Dichter der Zeit, der da kommen sollte, wie die Zeichen künden. Fern dem neidischen Größenwahn wie der falschen Demuth, wie es der wahren Größe[484] geziemt, brandmarkte er nur den Wahn der Windmacher. Denn in diesen prahlenden neidgrünen Schwächlingen erkannte er grade die echten Kinder unsrer reklamesüchtigen Aera, ob sie auch selbst über ihr Jahrhundert errötheten, wie ihr Jahrhundert über sie. All diesen Statisten, die statt »die Pferde sind gesattelt« sich selbst als Heldenspieler meldeten fürs erste Rollenfach, ertheilte er oft den wohlverdienten Fußtritt seines vernichtenden Sarkasmus.

Selten war die Lächerlichkeit, welche unbewußt aller Lüge und Gemeinheit anhaftet, mit so sicherer kühner Hand in derben Strichen conterfeit. Wie der Ritter mit der eisernen Hand, knackte dieser ins Moralische übersetzte Pietro Aretino abschreckende Kopfnüsse hinter den feuchten Ohren seiner Verfolger und verpuffte sterbend all seinen Grimm, wie Götz in beherztem Aufatmen aus voller Brust: »Freiheit, Freiheit, himmlische Luft!«


Man sah Schritt für Schritt den Morast der litterarischen Misère über dem Haupt des Unglücklichen zusammenbrechen. Man sah seine Dramen vergeblich an die Pforte aller Theater klopfen, wie seinerzeit die Opern Wagners. Infamie und kein Ende. Da schimpfte die »vornehme« Kritik über Theaterleiter und Publikum, welche allein der Fluch Apolls ob dem Untergang des Dramas treffe. Und die Presse etwa nicht? Man forscht umsonst begierig, was denn sie beitrage zur Förderung[485] verkannter Dichter. Wer zu stolz ist und zu hoch steht, um jenen »vornehmen« Geistern schmeichelnd um den Bart zu gehn, wird von ihnen nach wie vor todtgeschwiegen. Man sah, wie der edle Dichter umsonst nach Jemandem suchte, der selbstlos für Andere eintrat. Nur Einer schien davon ausgenommen, der aber durfte mit Heine singen: »Schade, daß ich ihn nicht küssen kann, denn ich selbst bin dieser brave Mann.«

Jenes Gewirr von platter Bosheit, bübischer Dummheit und neidzerfressenem Größenwahn, das sich »litterarisches Leben« nennt, wurde hier einmal erschöpfend blosgelegt. Jeden Augenblick hörte man den Dichter heimlich die ironische Liebesbotschaft nach allen Richtungen der Windrose versenden: »Ich weiß alles.« Das genügt. – Da schwatzte dies Völkchen von »Größenwahn«, wenn tiefbeleidigtes Gerechtigkeitsgefühl sich gegen schnöde Verkennung und den eiteln Wahn der Modefexen empörte. Hier mochten die Worte der Schrift gelten: Sie haben Ohren, um zu hören, und hören nicht; sie haben Augen, um zu sehen, und sehen nicht.

Wer als Einer unter Myriaden stets die Sache und nie die Person im Auge behält, muß der Selbstübervortheilte bleiben, auf dessen Kosten sich alle Ohrwürmer mästen. Darum bildet den rechten Grundstein einer geregelten litterarischen »Carriére« die einfache Nützlichkeitslehre der Bismarckschen Diplomatie: »Do ut des«. Um die wahre Bedeutung und derlei Allotria mag sich die Nachwelt kümmern. Nachruhm! Leichen kann man nicht mehr füttern.[486]

Die gefährlichste und verletzbarste Eitelkeit stellt nicht das eigene Selbstgefühl dar, sondern die Eitelkeit für einen Anderen z.B. der Mutter für ihren Sohn. Der wahre Dichter aber fühlt für seine Dichtung wie für ein Kind, das er gebar. Während der Dichterling immer nur sich selbst persönlich getroffen fühlt, wenn man seine Dichterei heruntersetzt, kränkt den Dichter ein ganz unpersönlicher unselbstischer Schmerz, wenn er sein Dichtungskind, dies von ihm losgelöste selbständige Wesen, von der kalten böswilligen Welt verstoßen und besudelt sieht.

An diesem Schmerz, der insofern komisch wirkt, als er sich Niemandem als unselbstisch begreiflich machen kann, ging der unglückliche Dichter langsam zu Grunde. Er faßte sich fortwährend gleichsam literarhistorisch auf und grübelte über seine Eigenart nach, als gelte es einen posthumen Essai für die Nachwelt zu schreiben. Andrerseits steigerte sich bei ihm die Unmöglichkeit, die tausend Theilsächelchen des Lebens zu berücksichtigen.

Wie oft werfen nicht beschränkte mittelmäßige Köpfe einem Kraftgeiste, der, von rastlosem Thatendrang dämonisch fortgerissen, immer nur das Ganze, nie die Theile bedenkt, haltlose Unruhe, unzeitigen Starrsinn, Widersprüche vor, während nur ihre eigene Mittelmäßigkeit sie auf der gewohnten Bahn des ebenmäßigen Vorwärtstappens erhält!

Schritt für Schritt sah man die tückische Nervenkrankheit hier vorrücken, welche den Unglücklichen in[487] seiner Verbitterungs-Manie dem Wahnsinn und dem Selbstmord entgegentrieb. Er suchte gleichsam alle Abgründe auf und secirte sich und seine Nebenmenschen bei lebendigem Leibe. Der letzte Theil des Tagebuchs, in dem Monat vor seinem Tode geschrieben, enthüllte dies so recht.[488]


Welch ein köstlicher Kerl ist doch College X.! Der sagt von Jedem, sei er auch der erwiesenste Schuft: »Alles was recht ist! Ein anständiger Mensch!« Nur nie Farbe bekennen, nur leise treten, nur ja mit Jedem sich gut halten!

Alle sind sie Macher, alle. Sie theilen sich nur in geschickte Mach er und in ungeschickte. Da liegt der ganze Unterschied. Mit ironischem Lächeln gehe ich stets auf ihre eigene Weltanschauung ein und hebe meine Sprüche an: »Wir sind ja unter uns, mit Wasser kochen wir ja alle.« Und die Kerls merken nicht einmal, daß ich mich über sie lustig mache.

Das sind noch die Ehrlichen. Nur wenn Einer von seinen »idealen Zielen« zu schwindeln anfängt, dann mache ich mich schleunig aus dem Staube oder halte meine Taschen zu. Gott, wie sie doch alle das Selbstbelügen verstehn! Und ich armer Hülfloser, der ich nie meine Gesinnung verstecken kann, nicht mal vor mir selber!

Ich freue mich immer, wenn ich mit Offizieren zusammentreffen. Hier herrscht wenigstens Disciplin, Unterordnung unter den höheren Rang, Aufgehen in das Ganze. Hier steckt eine greifbare Realität. Diese Kunst-Proletarier und Geist-Handwerker sind hohle Schemen, Blasebälge, Etiketten von leeren Flaschen. Diese Kerle würden ihren Vater todtschlagen und ihre Mutter verkaufen, wenn sie ihren nimmersatten Ehrgeiz damit stopfen könnten. Sie leiden an einer Art Auszehrung selbstverzehrenden Größenwahns. Sie zehren gleichsam von ihrem lieben Ich und nagen sich selbst das geistige Fleisch von den Knochen. Redet man von Dingen, die grade nicht ihr persönliches[489] Interesse tangiren, so gerathen sie in Geistesabwesenheit und pfeifen »Ach du lieber Augustin, alles ist weg.« Ein ewiges Fieber wahnsinniger Vordrängungs-Gier jagt sie hin und her. Diese Umwechsler geistiger Münzen spekuliren andauernd nach dem Courszettel der Erfolgbörse auf Hausse und Baisse. Viele dieser literarischen oder künstlerischen Börsianer müßten lebenslänglich Zuchthaus erhalten wegen geistiger Urkundenfälschung und wegen falschem Zeugniß, als besoldete Denuncianten und Meineidbeschwörer des kritischen Areopags, sei es nun als Alexandrinische Kunstgelehrte und Kultusministerialräthe oder als »Knüngel«-Verschwörer der akademischen Strebercliquen untereinander oder als »vornehme« Preßbanditen und Fälscher der öffentlichen Meinung oder als Hoftheaterintendanten-Excellenzen und Nicht-Excellenzen, und was des Gesindels mehr ist.

Aus ihrem Munde geht nichts als Lüge, wie jedes Wort aus des persischen Satans Eblis Rachen sich zu Pesthauch verwandelte. Phrasen, nichts als Phrasen. Humbug und kein Ende. Und ich selber? Bin ich denn besser? Ich Memme, der ich mich mit ihnen an einen Tisch setze, weil sie dann wenigstens nicht klatschen und schimpfen können, und mich dann regelmäßig ärgere über den vergeudeten Abend? Ja, ich selber tauge den Teufel nichts.

O dürft' ich rufen mit Coriolan, ein Selbstverbannter:


»Ihr Hundeseelen, deren Hauch ich hasse

Wie unbegrabener Männer todtes Aas,

Das mir die Luft verseucht – ich banne euch


O dürft' ich fliehen von den Ufern dieser Pauke, welche ein ewiger Regen in zahllose schmutzige Wasserringe zerschneidet, aus Gestade der Brenta! O dürfte, Tauben von San Marko, sich aufschwingen in eure Reihen meiner Seele fromme Taube und mit euch kosen in heiterm Spiele auf der Vorzeit Grabdenkmal, ihr Tauben von San Marko! – O Vorzeit, o vielverkanntes Mittelalter, das der jüdische Aufkläricht uns wegsudeln möchte! Ihr hattet kleine Mittel und große Ziele, wir haben große Mittel und kleine Ziele, Mittel schaffen noch keinen Zweck, aber der Zweck schafft sich selber Mittel.

[490] Denkt man nur an die Kreuzzüge, wie ärmlich erscheinen alle heutigen Unternehmungen!

O Nibelungendichter, großer Unbekannter, der im Mysterium weltentäußernden Schweigens vornehm dem Erdkreis entschwand! Oft träumte ich Dich als Genossen Walters von der Vogelweide, in Palästina dem Hohenstanfischen Kaiserzuge folgend.

Rosen und Trauben wogen im Libanonthal wie ein Meer rothen Weines ineinander, verschwimmend in Farbenwellen. Doch die Wolke Sodoms durchfließt noch immer unheimlich die Luft, wo das Todte Meer faul wie ein Alligator seine bleiernen Fluthen sonnt mit glasig stierem Auge, das in sich selber zurückschreckt. Und des Himmels brennendes Auge löst nie in Thränen sein starres Lid. Wie ein bleicher Symar, ein Leichenhemd von gramverwesten Völkerleichen, dehnt sich die Wüstenei, am Morgem vom »Blutregen« bethaut, der nächtlich herniedertrieft. Und wie die rothen Kreuze, die der Aberglaube in den Infusorien dieses Blutregens sah, bedecken in Morgendämmerung Rothkreuze das Blachfeld, wo die rothbekreuzten Templer auf dem Kriegspfad vorüber schleichen.


Und der wilde Schwan, deß wir inne geworden,

In Lüften sich wiegend, vom Heiligen Orden

Ist es das stolze Banner Beauséant.

Laissez aller! Vorbei! En avant!

Wie Wüstenmirage ist alles zerronnen.

Wir aber reiten ruhig besonnen,

Anstimmend einen ernsten Leich

Von Gottesminne und Himmelreich.

Unsrer gelassenen Hiebe Schnitt

Keinen Seldschucken im Sattel litt.

Doch neben mir schwebt wie Kranichflug

Ein Geisterkarawanen-Zug.

Im Wüstenqualme, im Dach der Palme,

Wie einst im Goldmeer heimischer Halme,

Immer sehe ich noch die blonden

Enakssöhne, die reisigen Burgonden.[491]

Und wo Herr Walter Vogelweid

Ein vaterländisch Lied voll Schneid

An der Nachhut Spitze sang nunmehr,

Da sah ich Volker in herrlichem Stat,

Am Schaft ein Banner von Goldbrokat.

Nie sah man kühneren Fiedelêr.

Da klangen die Saiten, die Wildniß erscholl,

Süßer und süßer das Lied entquoll,

Wie einst das Horn von Roncevall

Anrief mit lautem Wiederhall

Den Kaiser Karl, den greisen Herrn –

O Barbarossa, Du bist fern!

Da, jäh gepackt von Heimwehgraus,

Wir wider den Feind uns wandten,

Und klopften derb die Heiden aus,

Daß sie nach Hause raunten.

Dann seufzten wir alle bitterlich,

Uebern Kinn zum Bart die Thräne schlich.


– – Wohin hab ich mich verirrt! Mir war, als wär' ich selber der Nibelungendichter, als wäre sein Geist in mir und ich sein Enkel durch lange Seelenwanderung. Wer weiß! »Es giebt mehr Ding im Himmel und auf Erden« – leite bis zur Quelle Dein Ichbewußtsein zurück, so wird ein Gefühl Dir sagen, das keine Worte zu künden vermögen: Du bist nur eine neue Form von alten, ewig wiederkehrenden Gestalten.

Magisch zieht's mich zum Orient, wo Afrits und Gouls die verbotenen Schätze Istakars bewachen, wo Schätze verbotenen Wissens und verborgener Schönheit auf den Finder harren; wo die verzauberten Ruinen Tschilminars den Wanderer fragen: Werden wir jemals neu erstehn? Düstere Sykomoren rauschen, gleich den schwarzen Reichsstandarten des Kalifen. Grüne Triften dehnen sich, wie die grüne Glaubensfahne des Propheten, entlang der blauen Stromkrümmung, welche vergoldete Barken durchgleiten, wie auf Damascenerklingen goldne Koran-Devisen sich kreuzen. Dort möcht' ich schlürfen Kischmi's[492] goldigen Wein und Sorbet aus dem Saft des Tamarindenmarkes. Und wie an Arabiens Vorgebirg Babelmandeb die Schiffer Kokusnüsse und Negacesara-Blüthen in die Brandung schleudern, um sie zu versöhnen, so sollten sanfte Lieder mein stürmisches Herz besänftigen. Wie die Morgenländerin auf die Fluthen des Ganges ihre Lampe setzt, nur zu erforschen ob ihr Liebster lebe, – so würde auf wirbelnder Lebensflut meine Hoff nung leuchten, daß ich lebe im Leben meines Gesanges.

Ja, so würde – – und wie ist es! O großer Ahnherr, durch dessen Seele die Riesenleiden des Nibelungenlieds geschritten, tausendfach glücklicher warest doch Du, denn ich.

Nicht in der Wüste des gelobten Landes, in der Wüste dieser erbärmlichen Zeit, eingepfercht mit den Litteratenplebejern dieser Öffentlichen Meinung, verschmachte ich hier ohne Oase und Quelle. Ich, jeder Zoll ein Sänger – ein geistiger Kosmos, eingeschnürt in schwachen Leib und kleinliche Verhältnisse, wie ein Löwe in eine Hundehütte – – zu versinken in ekeln Morast, in die Schlangengrube hinabgeworfen zu niederm Gewürm, – ich, der Ritter und Fürst, geblendet und in Banden, erschlagen von niedrig geborenen Knechten – – o bitter, bitter, bitter!


Nicht mal hier waltet Gerechtigkeit. Die Gelehrtenschnüffeler construiren sich ein sogenanntes Volksepos zurecht und ahnen in ihrer blöden Blindheit nicht die einheitliche Kunstverständigkeit des größten Dichters! Das großartigste und vollendetste Kunstwerk aller Zeiten, der ewige Stolz deutscher Nation, wird von einem frechen Schulmeister in Ottave Rime übertragen, sintemal die herrliche Nibelungenstrophe, ungenießbar sei! Ein Mann, Namens Jordan, rhapsodet umher, soweit die deutsche Zunge klingt (sogar in Siebenbürgen trieb er sein Unwesen), mit einem Stabreim-Monstrum, worin er durch modern krankhafte Makarterei und Schopenhauersche Philosophie an der ungefügen Urmär dreiste Nothzucht verübte! Ein Anstreicher, dessen Maurerpinsel mit grellen Farben die keuschen Marmorstatuen erhabener[493] Einfachheit besudelt! Es sei ja stofflich recht großartig, aber kindlich ausgeführt, – schmunzelt dieser wohlgenährte Salonbarde in weißer Halsbinde und die unwissende Menge betet das gläubig nach!

In gelahrten Litteraturgeschichten wird die Gudrun, ein jütischer Dünen-Knick, mit dem Nibelungen-Montblanc verglichen!

O geschmacklose Thorheit, dein Name ist Mensch!


Grabbe grinst in seinem Satirspiel »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«:

»Die Wörter ›genial, sinnig, gemüthlich, trefflich‹ werden so ungeheuer gemißbraucht, daß ich schon die Zeit sehe, wo man, um einen entsprungenen Zuchthauscandidaten zu infamiren, an den Galgen schlägt: N.N. ist gemüthlich, sinnig, trefflich und genial! – O stände doch endlich ein gewaltiger Genius auf, der, mit göttlicher Stärke von Haupt zu Fuß gepanzert, sich des deutschen Parnasses annähme und das Gesindel in die Sümpfe zurücktriebe, aus welchen es hervorgekrochen ist!«

Hat dieser Ausfall nicht noch heute Geltung? O viel mehr sogar! Wenn man die Reklamen der Buchhändler und der Blätter liest, wird einem übel. »Endlich einmal ein Meisterwerk!« annonciren sie das Produkt irgend eines Sudelmännleins. Und der Verleger-Größenwahn, welcher am liebsten eine ganze Rotte von Genies in seinem Verlag aus dem Boden stampfen möchte, läßt die Macher über sich selber Prospekte schreiben, worin sie ihre leidlich gelungenen Werkchen zu den »höchsten Darstellungen der Weltlitteratur« rechnen und zwar »unstreitig«. Da giebt es »Charaktere von wahrhaft Shakespearischer Tiefe«, »Effekte wie kaum in Schillers Dra men« – kurz und gut Kunststücke, neben denen »die besten andern Schilderungen prosaisch, ja alltäglich erscheinen«!! Ueberall, wo man hinhorcht, dasselbe Lied. »Bewunderungswürdige Kunst der Darstellung« »der geniale Verfasser« – derlei regnet nur so bei Besprechung der mäßigsten Sudeleien. Da werden, Goethe, Horaz, Pindar, Burns, Petöfi, Heine,[494] Lenau, Flaubert in Unkosten gestürzt, um als Lob-Vergleiche mit jedem Nachahmer herzuhalten.

Aber was sehe ich! Seien wir nicht ungerecht! Stützt man den betrunkenen Bauern auf der einen Seite (wie der selige Luther sagt), fällt er auf der andern Seite wieder herunter. Denn um ein gerechtes Gleichgewicht zu erzeugen, legt man dafür an die Werke des wirklichen Genies unmögliche Maßstäbe an, nach welchen es ja ein Leichtes wäre, Shakespeare und Goethe unsterblich lächerlich zu machen. Da werden die frechsten Lügen nicht gescheut, um das ehrliche Verdienst zu schmälern, – falls man es nicht am liebsten ganz todtschweigt. Bravo, das ist ausgleichende Gerechtigkeit. Diese Leute haben gleichsam ein instinktives Gefühl dafür, wo bedrohliches Uebergewicht vorhanden. Wo man ein hübsches Zwergtalent erkennt, da mag dasselbe noch so größenwahnsinnig in lächerlichen Radau-Vorreden sich aufblähen, – man kommt ihm freundlich entgegen.

Aber wehe der wahren Größe, die ihrer selbst bewußt! Kreuziget, kreuziget! »Bist Du der Juden König?« »Du sagest es.« Er hat bekannt, was brauchen wir weiter Zeugniß! »Ich finde keine Schuld an diesem Menschen«, sprach Pontius Pilatus, das Forum der Vernunft. Aber da erhoben die Juden ein graußes Geschrei und Pilatus ist schwach. »Ich überantworte ihn euch.« Da führeten sie ihn an eine Stätte, die heißet Golgatha. Daselbst schlugen sie ihm ihre Nägel durchs Fleisch.


Die armen Verleger! Wie ich sie bedaure! Wieviel Opfermuth und unausrottbare Zuversicht gegenüber der versteckten Gleichgültigkeit des Publikums!

»Und da kreuzigten sie neben ihm einen Räuber, der hieß Barrabas.« Der Verleger Murray prahlte seinen Freunden von einer Bibel vor, die ihm sein »großer Autor« Byron geschenkt. Aber diese Freunde, die mit im Complott, zeigten ihm jenen Bibelvers – da hatte der boshafte Dichter das Wort »Räuber« durchgestrichen und »Verleger« darübergeschrieben. – Nun, wenn man den Verleger Barrabas[495] neben seinem Messias kreuzigt, so trifft ja ihn wohl das erlösende Wort: »Morgen wirst Du mit mir im Paradiese sein.«


Die Welt ist rund, mein Kind,

Und wir drehn uns mit.

Lauf nicht zu geschwind,

Sondern halte Schritt!


Der muß vor sich selber beben,

Wer sich selber Rechnung giebt.

Aber mir ist viel vergeben,

Denn ich habe viel geliebt.


Heut fand ich unter meinen Papieren ein vergilbtes Blatt, Verse in der Handschrift meines verstorbenen Freundes Gottlieb Ritter, jenes Esels, der sich wegen einer Chansonneuse erschoß:


Ha, Deiner Wange Rosenlicht,

Des Auges süß Vergißmeinnicht,

Verzaubert mich, doch manchesmal

Blickt's seitwärts auf mich kalt wie Stahl.

Die Lippen scheinen sein und rein,

Doch sehe ich die Schlängelein

Umzirkeln sie, die lieben alten

Bekannten, jene bösen Falten,

In denen Heine gleich erkannte

Kußgierig liebe Wahlverwandte.

Als Faust am Blocksberg, wo im Eck

Sein Gretchen stand, mit Lilith scherzte,

Sah er, indessen er sie herzte,

Zu seinem nicht geringen Schreck[496]

Ein Mäuslein aus dem Munde hüpfen.

So sehe ich ein Schlänglein schlüpfen

Aus Deinem Munde – eine Zote!

Doch ob mir auch mein Gretchen drohte,

Die Tugend und das Ideal –

Anbete ich Dich doch nicht minder,

Gleich wie die abergläubigen Inder

Die Abgottschlange ihrer Wahl.


Du lieber Gott! Ein gut Stück Verlogenheit spielte doch auch dabei mit. Allerdings, Gottliebchen war ein wirkliches Genie, keiner von den komischen Stürmern und Drängern Jüngstdeutschlands, welche mit Straßendirnen die sociale Frage lösen und Jeden von ihrem Genie-Bund ausschließen, der sich zufällig in anständigen bürgerlichen Verhältnissen bewegt und »zahm« genug bleibt, socialistisches Geschwefele für unreifes Zeug zu halten. Aber auch Gottlieb Ritter »erlöste« das »Volk«, ohne von diesem gepriesenen Pöbel das Geringste zu wissen. Armer Teufel! Was mögen die albernen Dirnen, mit denen er sich herumschlug, über seine Sentimentalität gelacht haben! Ein richtiger deutscher Lyriker.

Ach und erst der verrückte Componist Ernst v. Bullrich, der angeblich wegen eines Biermensch im Duell gefallen sein soll! (Fritz Erdmann, der naturalistische Epiker, auf den Karl Schmoller immer so viel aus Concurenzneid schimpfte und der sich jetzo in Amerika herumtreibt, wollte nie recht mit der Sprache heraus.) Auch von ihm finde ich noch ein Verschen aus der Zeit, wo ich ab und zu die berühmte Kneipe besuchte, in der jene Sturm-und Dranggenies sich gegenseitig ihre Opera, omnia vorlasen. zu drollig!


»Ich will umschließen Dein starres Herz,

Und wärest Du ganz vergletschert,

Vulkan, aufgährt Dein Flammenschmerz,

Wo meine Thräne plätschert.«


[497] Na, plätschere man zu! – Welch ein Wahnsinn diese Liebe die sich mit Gewalt in ein andres Wesen auflösen möchte! Gott sei Dank, an solcher Schwäche leide ich nicht mehr. Auf Erden ein Ideales suchen ist schon Jugendeselei. Pah, besieht man sich die Helden und großen Geister bei Lichte, sind's ja auch nur Esel.


»O welch ein Künstler stirbt in mir!« ruf ich mit dem Größenwahn des sterbenden Cäsaren. Wenn ich da unten modere, dann werden sie schaufeln und schaufeln an dem verschütteten Götterbild, bis es aufrecht steht wie ein Denkmal, von dem die Hülle fiel. Und kein Antlitz, das man kennt aus den Gebilden der Vergangenheit. Denn nie aus gleichem Marmor wird der Genius geschnitten. Wie sie grinsen würden, die Erbärmlichen, wenn sie diese Prophezeiung, ahnten! Und doch wird sie sich erfüllen, kaum daß ich die Augen schloß.

Aber ich bin ja ein Schwächling, daß ich dem elenden Geschwätz dieser Akademiker überhaupt Rechnung trage. Mußte nicht schon der größte aller Dichter den Kampf gegen die Pseudo-Klassicität und ihren morschen Schulkram bestehn – ein Kampf, der ihn wohl so frühzeitig aufgerieben hat? Mußte er nicht dem Nörgeln des »Alterthumsfreundes« Ben Jonson seine Tragikomödie »Troilus und Cressida« entgegensetzen? Jener gelahrte Didaktiker hatte ihm gehörig zu Gemüthe geführt, daß er, der Komödiant ohne alle patentirte Bildung, sich erdreiste höchste Probleme zu lösen, während er sich doch nicht einmal dem Problem gewachsen zeigte, die Alten im Urtext zu lesen und in einer Vorlesung Bacon's über Logik und Psychologie gewiß achselzuckend eingeschlafen wäre. Da griff sich denn Meister William einmal die homerischen Helden auf und streifte ihnen Purpurchlamys und Kothurn so gründlich ab, daß sie nun wie nackte Gliederpuppen umherliefen. Die göttlichste Schindung des Marsyas, die je ein Apoll verübt. Schade nur, daß die nie aussterbende Rotte dieser Flötenbläser nicht immer einen Shakespeare findet, der ihr das Fell so elegant über die Eselsohren zieht!

[498] Ueber die Renaissance-Naturalisten urtheilte man damals wie über die heutigen. Während man den Barbaren vom Avon wie einen drolligen Kannibalen einbalsamirte, heroldeten ästhetische Quacksalber die schnödesten Parfümeure.

Alles wie heut. Müffiger Pomp doktrinärer Verstocktheit, »unanfechtbare Kunstgesetze« des wüstesten Formalismus. Erst nach erbittertem Kampfe erkannte man das einzige ewige Kunstbedürfniß in den befreienden Naturlauten des Elementaren.

»Erwache, du Licht in Ossians Seele!« Sich, da kamen sie alle, die Naturburschen der Litteratur – Ackersmann Burns, Weltbummler Byron, vom College relegirter Student Shelley, Laufbursche Dickens und Postillon Bret Harte! Die Götter Griechenlands kannten sie nur oberflächlich, wohl aber die Götter der eigenen Brust.

Da faselt dies unwissende Professorengesindel, Shakespeares klobige, Naturalismen seien aus dem Geschmack seiner Zeit zu erklären. In ihrer gräßlichen Unwissenheit ahnen sie natürlich gar nicht, daß alle die großen Zeitgenossen des Größten wohl in Blut- und Wollustseenen sich berauschten und gewiß einen heroischen Realismus bekundeten, daß aber nur Shakespeare den Naturalismus vertritt. Warum scheute grade er vor keiner schlüpfrigen Zote, vor seiner rohen Unanständigkeit, vor keiner Banalität zurück? Warum roch er an Yoriks Schädel, während die frostigen Späße der branntweinfuseligen Todtengräber die jungfräuliche Lieblichkeit in feuchte Erde betten? Warum hörte er die Kärrner über ihr Ungeziefer fluchen und durchstöberte die schmutzigen Winkel der Bordells?

Warum, ja Warum? Ich weiß es – ihr nicht, ihr gichtbrüchigen, lendenlahmen, wohlriechenden Würdepriester. Ihr könnt es auch nicht wissen.


Heut sandte ich ein neues Buch von mir an die »Privilegirte Fortschrittszeitung« und den hochconservativen »Botschafter«. Beide Mistblätter haben geschworen, meinen Dichternamen nie mehr zu erwähnen, weil ich mit den Herrn Redakteuren am Biertisch [499] mehrfach Conflikte gehabt hätte!! Der Chef der »Privilegirten Fortschrittszeitung« will jedoch in weiser Schonung nie aus eigener Initiative etwas Bosartiges über mich bringen. Beileibe nicht aus Furcht, o nein! Sollte aber ein anderes Blatt über mich herfallen, so wolle er es eiligst abdrucken. (Aha!) So meldete, er einem »guten Freunde« neulich beim Skatspiel. Biedermann! 13 (schreibe: Dreizehn) Bücher von mir hat es nun todtgeschwiegen, dies Blatt von ehernem Schlage! Früher posaunte es mich allerdings mal als Zukunftsgenie aus. Nun, »andre Zeiten, andre Ansichten« – wie der Chef der »Berliner Tagesstimme« so schön zu sprüchwörteln pflegt. Bravo! Giftiger Unrath bezeichnet, ja die Spur des Faulthiers, o gieriger Vielfraß, den man Presse nennt!


Löbliche Hunde! Wollt ihr gütigst üben

Um diesen Knochen des Skandals Gekläff?

»Nicht doch! Todtschweigend beißt ihn in die Waden!«

Knurrt der erfahrene Scheeren-Chef.

Dies Büchlein ich gehorsamst dedicire

Den hochgeschätzten Scheerenschleiferein.

Da! Zum Todtschweigen reich' ich euch den Bissen

Und einen Fußtritt obendrein.


Das Leben eitel ist und undankbar.

Den Adler überkrächzt der Krähen Schaar.

Gegängelt von bestochener Wichte Rath,

Bestaunt der Pöbel, was die Ohnmacht that.

Der Stümper bunte Jahrmarktsschilderein

Sind blindem Unverstand ein Heiligenschrein.

Der Tod jedoch gräbt aller Lüge Grab

Und alle Schminke reißt er jählings ab.

Der Mensch und jede Fälscherkunst vergeht.

Das Werk alleine und die Kunst besteht.[500]

Die Schlachtendonner habt Ihr wohl gehört

Von Königgrätz, von Sedan und von Wörth.

Den Donner aber hören werd' ich nicht,

Der Euren Größenwahn in Stücke bricht.


Diese Menschen machen alle aus mir, was sie wollen. Die Schufte sehen in mir einen Schuft wie sie selber, die Ideologen in mir einen Ideologen. – Sei nie deiner Brüder Tyrann, aber auch nie ihr Narr! Ich aber bin zugleich ihr Tyrann und ihr Sklave, und oft ihr Hausnarr. Seltsames Räthsel!


Kein Wörtchen wird heut so üppig mißbraucht wie das Epitheton »vornehm«. Man redet ja am liebsten von dem, was man nicht ist und hat.

»Ein vornehmer Charakter!« »Wie vornehm diese Kritik gehalten ist!« Derlei übersetzt man aus dem Literarischen ins ehrliche Deutsch: »Ein geriebener Virtuose der Lebensklugheit!« »Ein schlaues Pröbchen händewaschender Interessenpolitik, die ihre Motive sorgfältig verschleiert!«


Wie ich von Herzen bedaure, daß ich in meinem be rechtigten Grimm dem einzigen Wahlverwandten, den ich jemals fand, Karl Schmoller, so harte Dinge sagen mußte! Und waren sie denn wirklich ganz gerecht? Soll man sich wundern, daß ein so bedeutender Mensch in ewiger Wuth gegen alles Bestehende sich verzehrt? Drückt ihn nicht wirklich die Noth, die grause Noth des Lebens? Freilich merkt man ja nichts davon, denn er selber befindet sich äußerlich kreuzfidel. Doch wer kann ins Innere eines Menschen und hinter die Coulissen schauen! Und im Grunde – leidet er nicht einfach an derselben Krankheit, die auch mich vergiftet? Wenn mich meine höhere Bildung in Sphären erhebt, wo die Gemeinheit des Lebens mich nicht mehr erreichen kann, so wäre es unbillig, von ihm das[501] Gleiche zu fordern. Er sieht sich nur als Urkrast in einen Knäuel niedriger und widriger Verhältnisse verstrickt, sieht um sich her die Büberei triumphiren und wird zerrieben im Kampf mit den schmutzigen Sorgen des Alltagslebens. Es ist wahr, über die Menschen hat er sich wahrlich nicht zu beklagen. Jeder suchte sich ihm dienstbereit zu zeigen, Jeder bewies ihm äußerste Geduld und nur seine empörende Brutalität verschuldete es, wenn man ihn fallen ließ. Seine Natur zwingt ihn förmlich, Jeden vor den Kopf zu stoßen und überall Unfrieden zu stiften. Er ist ein Sprengstoff, dessen Nähe man flieht. Doch wie erklärt sich alles das aus den Verhältnissen! Muß es diesen Menschen nicht rasend machen, wenn dummdreiste Unfähigkeit über ihn wegtrampelt, wenn man nur an den Schlacken seiner formellen Unbehülflichkeit haften bleibt, statt in den inneren Kern seiner wilden Genialität zu dringen? unglücklicher Mann, dessen düstern Groll ich mitempfinde, ob er auch wie ein rußiger Titane allein abseit steht und nie dem olympischen Donnerer sich beugt! Er verkörpert gleich sam das Elementare des Irdisch-Thierischen, wie ich das Elementare des Transcendental-Dämonischen. Die Andern alle sind Schein-Puppen. Und die Hauptsache, bleibt eben doch immer, daß man überhaupt elementar sei, das Element eines wirklichen Seins in sich trage.

Und darum, ob ich ihn auch hassen sollte, wurzelt in mir eine unzerstörbare Sympathie für diesen einzigen Wahlverwandten, diesen Bastard-Halbbruder meiner Wesenheit. Wer weiß, ob nicht trotzalledem in ihm unbewußt ein gleiches Gefühl schlummert!

Wohl erkenne ich, daß solche Naturen vulkanischem Granit vergleichbar sind: Das Feuer sprengt sie, aber schmelzt sie nicht. Mit all seinen Mängeln und Schwächen und Sünden kämpft er ja dennoch für sein gutes Recht. Das Recht des Werdens aus dem Recht des Seins. Man will, dieweil man muß, muß, weil man will. Ja, Recht, das Recht – du wunderbares Wort, so unergründlich wie die Ewigkeit! Dies das Gesetz, nach dem die Sterne in vorbestimmter Ordnung schweben, – das gleich mächtig in jedem Einzelwesen wirkt, – das, wo das Chaos in die Schöpfung mündet, zuerst den Keimtrieb in die Welt gepflanzt: Sein Recht zu suchen[502] und das klug gefundene Recht auch zu behaupten, fest und unbedingt, im Wirbeltanz der ringenden Geschöpfe. Und so denn, unter eines Schicksals rechtloser Last zusammenbrechend, fühlt man im Innern noch den wuchtigen Takt der Waage, die uns zur Selbsterfüllung aufwärts reißt. Den Auserkorenen ward immer früh bewußt das eherne Gesetz in ihrem Busen: Das Recht des Wollens ist das Recht des Sollens.

Ich kann ihn nicht verdammen, diesen Schmoller. Das Recht der finsteren Notwendigkeit, das uns unwidersteh lich übermannt und dämonisch fortschleift auf ungemessener Wünsche Irrfahrt, bis ein letztes Riff ihm ein Ende setzt, – das wird in ihm doch triumphiren müssen. Der Stärkere hat Recht. Wohl ist er nur ein eitler Sclav der Selbsucht, falsch ist sein Recht und nackte Eigensucht sein Rechtsgefühl. So sollte er zähneknirschend von hinnen fahren und dem geborenen König die Herrschaft lassen.

Die Herrschaft – hahaha! Eine schöne Herrschaft, weiß Gott! Nein, bleiben wir beim Realen! So sollte es sein, so ist es nicht. Er ist stärker als ich, weil seine Roheit ihn knorrig erhält. Ich bin schwaches zartes Porzelan, ich zerspringe beim ersten Fall. Mit wehmüthiger Freude ahne ich, wie er das Gesindel noch zu Paaren treiben wird mit seiner Peitsche, wenn ich schon unter der Erde liege. Ich peitschte euch mit Ruthen, er aber wird euch mit Skorpionen züchtigen.

Ich fühle es, lange geht's nicht mehr so fort mit mir, es geht zu Ende.

Aber aus meinen Gebeinen wird erstehen ein Rächer.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 482-503.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon