Erstes Kapitel

[1] »Sie wird nicht weinen, nein, sie wird nicht weinen,« sagte Arnold von Herebrecht vor sich hin und legte die Faust schwer auf das vor ihm ausgebreitete Schriftstück. Dies trug ein kaiserliches Siegel und die Unterschrift des Marineministers. Der Inhalt des Schreibens kam übrigens dem Empfänger nicht unerwartet; längst wußte man, daß die Korvette »Maria« im Herbst eine zweijährige Reise anzutreten habe, um die neuen Kolonien zu besuchen, und dort vielleicht so Schutz wie Besitzvermehrung bewirken solle. Auch daß ihn, den Kapitän zur See von Herebrecht, diesmal der Ruf treffen würde, unter den das Schiff begleitenden Offizieren zu sein, hatte er wohl vermutet, aber kein Wort von dieser Voraussicht war ihm seinem Weibe gegenüber von den Lippen gegangen. Jetzt jedoch mußte er ihr die Berufung, der schon nach acht Tagen die Trennung zu folgen hatte, jetzt mußte er sie ihr mitteilen. Er stand langsam[1] auf, das Papier knitterte unter seiner Faust, die er wie zur Stütze beim Erheben auf Schriftstück und Tischplatte belassen. Er besann sich, wie er es ihr sagen solle und was sie antworten würde.

»Sie mag es lesen,« entschied er sich endlich. Er fühlte es wohl, daß ihr dann Zeit bleibe, eine höfliche, ja vielleicht eine gütige Antwort zu finden, während dem gesprochenen, raschen Wort »Ich gehe« ebenso rasch ein froher Ruf folgen konnte.

Die Thür, welche von dem Arbeitszimmer des Kapitäns in das Wohngemach seiner Frau führte, ging langsam auf, Adrienne, die am Fenster saß und nähte, hob nicht einmal die tief auf die Arbeit geneigte Stirn. Herebrecht stand, am Thürpfosten gelehnt, eine Weile still und überschaute das Bild, das ihm sein Weib, sein Kind und sein Heim so boten.

Die Stube hatte zwei Fenster, welche auf eine der engen und überaus geräuschvollen Straßen Kiels sahen; Sonnenschein fand hier keinen Eingang, denn wenn das Zimmer auch nicht nach Norden gelegen hätte, würde die gegenüberliegende nahe Flucht der hohen Häuser doch jeden Sonnenstrahl abgewehrt haben. Die Möbel, welche durch Form und Ueberzug verrieten, daß sie höchstens zwei Jahre alt sein mochten, waren ebenso weit von Eleganz wie von Dürftigkeit entfernt und zeigten in ihrer ganzen Anordnung jenen erschrecklichen Allerweltsgeschmack, der es verbietet, aus dem Gepräge eines Wohngemachs auf die Liebhabereien[2] der Bewohner zu schließen. An der Hauptwand befand sich ein Sofa, davor auf mäßig großem Teppich ein Tisch mit Decke und epheuumkränzter Alabasterschale, über dem Sofa ein Bild der Königin Luise von Richter; rechts und links vom Tisch standen zwei nie benützte Lehnstühle; dann an der einen Wand ein verschlossenes Piano und an der andern ein Damenschreibtisch, dessen Platte jedoch von peinlich symmetrisch geordneten Nippes besetzt war. Die Zwischenräume an den Wänden waren von Stühlen ausgefüllt, die so von allen vier Seiten ihre Sitze und Vorderbeine steif von der Mauer dem Stubeninnern zukehrten wie in einem Wartesaal, weniger zum Sitzen einladend, als ihr vorschriftsmäßiges Dasein zeigend. Auf den beiden Fensterbrettern standen einige blütenlose Topfgewächse; vor dem einen Fenster, zwischen den weißen Gardinen, saß die junge Frau an einem Nähtischchen und nähte, die Hand wie eine bezahlte Nähterin mit unermüdlicher Gleichmäßigkeit hebend und senkend.

Dieses Bild, in immer derselben Färbung des sonnenlosen Lichts auf den graubraunen Möbeln, dem dunklen Frauengewand und dem rötlichen Weiberkopf, sah Arnold von Herebrecht so schon seit zwei Jahren, er mochte eintreten, zu welcher Tageszeit er wollte. Nur einmal hatte es sich verändert: da fehlte die nähende Frau vier Wochen an ihrem Fensterplatz, und als sie ihn wieder einnahm, stand neben ihr eine Wiege mit dem schlummernden Söhnchen. Das war jetzt ein Vierteljahr her.[3]

Nun, da ihm dies einförmige Gemälde eines regelmäßigen Frauendaseins vielleicht zum letztenmal vor Augen trat, da vor seinem geistigen Auge schon das farbenspielende Meer und die glühende Tropenwelt aufstiegen, sagte er sich plötzlich: »Es ist wahr, ihre Tage waren unendlich gleichtönig.«

»Adrienne,« sprach er, »Du hast so oft eine Veränderung unseres Lebens ersehnt, hier die Kunde einer sehr bedeutungsvollen.«

Er trat zu ihr und reichte ihr den Einberufungsbefehl. Sie nahm und las. In ihr feines weißes Gesicht stieg ein Erröten. Es war das einzige Zeichen einer innern Bewegung, denn mit einem ruhigen Aufblick ihrer dunklen Augen reichte sie ihm das Papier zurück. Sie schwieg. Sein männliches Gesicht, das durch einen großen Bart und peinlich straff aus der Stirn gebürstetes Haar ohnehin einen Eindruck von Strenge machte, wurde noch herber, seine kurzsichtigen, scharfen Augen kniffen sich zusammen, wie es seine Art war, wenn er jemand durchdringend ansehen wollte.

»Du hast kein Wort?«

»Was soll ich dazu sagen?« fragte sie entgegen. »Dein Kaiser ruft, es ist Deine Pflicht und Dein Beruf, zu gehorchen.«

»Freust Du Dich, daß ich gehe?« sagte er wider Willen halblaut und mit einem gewissen Drängen in der Stimme. Sie sah ihn traurig an.

»Nein,« antwortete sie, »ich freue mich nicht. Wie[4] sollte ich auch? Während Du hier warst, konnte ich doch hoffen, daß irgend ein Zufall, irgend eine dienstliche oder andere Veränderung in Deinem Dasein auch das meine mit freundlicher gestalten könne. Nun Du gehst, wird meine Abgeschiedenheit vollends zur Klausur werden.«

»Liebes Kind,« sagte er mit Milde, »ich will Dir nicht wiederholen, was wir schon bis zum Ueberdruß besprochen haben, daß es nämlich durchaus unnötig, ja, daß es geradezu eigensinnig von Dir war, auf all die kleinen Freuden des Lebens verbittert zu verzichten, die doch auch andere Menschen in gleich unseren bescheidenen oder noch bescheideneren Verhältnissen finden. Eine Aenderung von außen erhoffen, hieße ein Wunder vom Himmel erwarten.«

»Ja,« rief sie, während allmälich zwei rote Fleckchen auf ihren Wangen entbrannten, »ja, es war ein Wahnsinn, dergleichen zu hoffen. Unabänderlich – unabänderlich! Das ist das krächzende Wort, das mir jeder Tag zuschreit. Du wirst in Deiner Berufslaufbahn den Schneckengang, den üblichen, vorwärts gehen, trotz allem Ernst, trotz aller Fähigkeit. Während wir noch jung sind, während wir genießen könnten, heißt es, mit der kleinen Gage reichen und noch davon zu erübrigen, um Deinem Bruder Zuschüsse zu gewähren. Du bist arm, ich bin arm, und von keiner Seite haben wir Erbschaften zu erwarten. Nein, Arnold, ich wollte die kleinen, kargen, lügnerischen, mühselig ersparten Vergnügungen nicht, mit denen[5] andere in solcher Lage das Dunkel ihres Daseins erleuchten wie mit Talglichtern. Ich will ein ganzes, ein helles, großes Glück.«

Sie brach in Thränen aus und legte die Stirn auf die Fensterbank. Arnold trat zu ihr und streichelte ihr mitleidig das Haar.

»Armes Kind,« sagte er mit seiner tiefen Stimme, »armes, irrendes Kind! Du liebst mich nicht, deshalb kann Dich auch meine Liebe nicht reich machen.«

»Du liebst mich?« rief Adrienne mit bitterem Auflachen. »Seltsame Art, mir das zu zeigen. Fürwahr, ein strenger, nie befriedigter Erzieher warst Du mir; von Liebe, von jener heißen, nie ermüdenden Liebe, die ich geträumt habe und in deren Glanz ich auch mit trockenem Brot hätte zufrieden sein wollen, von jener Liebe, die im andern den Gegenstand höchster Anbetung sieht, habe ich nie etwas bemerkt.«

»Weshalb hätte ich Dich denn aber zur Gattin gewählt?« fragte er mit mehr Sanftmut, als ihm sonst bei solchen Scenen eigen war.

»Weil Du ein großmütiger Mensch bist und das arme junge Ding Dich dauerte, welches bei Deinem Vorgesetzten die unartigen Kinder beaufsichtigen mußte und sich ihr karges Brot selbst zu verdienen hatte, was ihr auch nicht an der Wiege gesungen worden war. Und diese Deine Großmut blendete mich, ich sah in Dir einen Helden und Gott ... bis ... ja, bis ich in der schnell geschlossenen Ehe erkannte, daß Du ein[6] Pedant bist ... was sag' ich, ein Pedant? eine Statue ohne Wärme, schön und mannhaft anzuschauen, aber kalt!« sprach die junge Frau.

»Die Liebe eines Mannes, ich habe es Dir oft gesagt, kann sich nicht in steten Versicherungen und Schwüren, nicht in immer neuen Huldigungen und Umwerbungen äußern. Sieh, in unserer eisernen Zeit, in der Ueberfülle von Existenzen, wo immer eine die andere verdrängen möchte, weil ihrer zu viele sind für die Aufgaben der Menschheit, in unserer Zeit der Arbeit ist nur wenigen Männern die Muße vergönnt, die Ritterlichkeit, die auch in ihrer Liebe wohnt, dem Weibe so unermüdlich zu zeigen, wie ihr Geschlecht mit natürlichem Wunsch zu begehren gewohnt ist. Der Mann von heute muß von dem Weib von heute mehr Vertrauen fordern, als unsere Vorfahren zu beanspruchen brauchten. Ihr müßt uns auch ohne immerwährende Beweise glauben, und wir können von euch leichter verraten werden. Bedenke die Einrichtungen des modernen Lebens und gib mir Recht. Ich hatte in meinem angestrengten Dienst und meinen außerdienstlichen wissenschaftlichen Arbeiten keine Zeit, mit Dir zu tändeln, ich mußte auf Dein Vertrauen zu meiner Liebe rechnen. Du aber mußt hinwieder auf mein Vertrauen zu Deiner Liebe zählen, nun, da ich fern bin und Du mir weder Liebe noch Treue augenfällig beweisen kannst. So, Hand in Hand, Vertrauen fest an Vertrauen gefügt, so ist die Liebe der Menschen[7] von heute, so sollte sie sein, und im Getümmel des Daseinskampfes genügt ihr ein treuer Blick als Verständigung.«

Auf seinem Gesicht lag ein feierlicher Ernst. Sein Weib neigte das Haupt. Was sollte sie ihm antworten? Daß er in der Zeit, wo er ihr diese und ähnliche lange, ohne Zweifel kluge und wahre Reden gehalten hatte, sie lieber hätte herzlich küssen und mit ihr scherzen sollen? Scherzen? Arnold? Undenkbare Vorstellung! Kaum daß sein Ernst je einmal durch ein Lächeln unterbrochen wurde.

»Und daß ich Dich häufig tadelte,« fuhr er liebevoll fort, »das, mein Kind, wirst Du mir danken, wenn die ser da, der sein Leben vorderhand noch verschläft, ein erziehungsbedürftiger Mensch wird. Du hattest keine Mutter gehabt seit Deinem zehnten Jahr, Du wuchsest in einer Pension auf, die Dein älterer, reicher Stiefbruder aus Gnade bezahlte, denn auch Dein Vater war verarmt, noch ehe er starb, und das große Vermögen seiner ersten Frau ging auf deren einzigen Sohn über. Das verbitterte schon Deine Kinderseele. Und als dann auch Dein Stiefbruder starb, wolltest Du von seiner Witwe, die ihn beerbte, keinen Heller mehr nehmen. Du, selbst noch unerzogen, gingst schon in die Welt, andere zu erziehen. So fehlten Deinem Wesen überall die letzten weiblichen Abrundungen. Es war meine Pflicht, Dich darauf aufmerksam zu machen.«[8]

»Ja,« sagte Adrienne mit jener plötzlichen Selbsterniedrigung, die zuweilen weiblichem Trotz folgt und niemals wahrhaftig gemeint ist, »ja, ich bin viel zu dumm und zu jung für Dich, und undankbar obenein.«

Er schüttelte wie in Ungeduld verzagend den Kopf.

»Vielleicht wird Dir in der langen Trennung begreiflich,« sprach er, »daß wir doch besser für einander passen und glücklicher mit einander sein können, als es jetzt scheinen will.«

Beide Gatten schwiegen einige Minuten, dann fragte Adrienne mit ermüdeter und gleichgiltiger Stimme, bis wann Arnold sein Gepäck an Bord haben müsse und ob Joachim vorher noch kommen solle.

»Nein,« entschied der Kapitän nach kurzem Bedenken, »abgesehen davon, daß wir in diesem Augenblick unnütze Ausgaben vermeiden müssen, weil ich für Dich und das Kind Umsiedlungspläne habe, zu denen Du Geld brauchst, abgesehen also davon, würde dem guten Jungen nur das Herz schwer werden, wenn er ...«

Es wollte nicht heraus, dies: »Wenn er sähe, wie frostig mein Weib mich eine Reise um die Erde antreten läßt.«

Adrienne verstand aber die unausgesprochenen Gedanken ihres Gatten. Sie wußte, daß Arnold an seinem jüngeren Bruder mit großer Liebe hing, die dieser mit abgöttischer Verehrung erwiderte. Demütig sagte sie:[9]

»Du solltest ihn doch kommen lassen. Wenn Du fort bist, kann ich mich leicht noch mehr einschränken und so das Geld, was die Reise kosten wird, schnell wieder sparen.«

»Nein,« meinte der Kapitän bedrückt, »lassen wir das! Es ist mein Wunsch, daß Du während meiner Abwesenheit etwas mehr vom Leben siehst, als es bisher geschehen konnte. Du wirst meine Gage wie jetzt regelmäßig empfangen, die Kommandozulagen, welche wir auf Reisen beziehen, werden für meine Bedürfnisse genügen, Dir bleibt also, nach dem üblichen Abzug für Joachim, mein ganzer Gehalt, was sonst für mich, Dich und Baby reichen mußte, für euch allein, Du kannst Dich einigermaßen rühren.«

»O Arnold,« sagte sie traurig, »dann wollen wir doch lieber das, was jetzt weniger gebraucht wird, für Baby zurücklegen.«

»Wie Du willst,« sprach er gütig, »aber erinnere Dich, wenn Dir Wünsche erwachen, meiner Einwilligung.«

Adrienne brach zum zweitenmal in Thränen aus. »Mir sind ja doch keine Freuden bestimmt,« sagte diese heftige Thränenflut.

Arnold glaubte alles gesagt zu haben, was in dieser neuen Wendung ihres Lebens ihren Sinn zufrieden und gerecht machen konnte, und mit einem Seufzer verließ er das Zimmer. Er nahm wieder seinen vorherigen Platz an seinem Schreibtisch ein, legte sich Briefpapier zurecht und begann mit der[10] Unverzüglichkeit, welche vielschreibenden Leuten eigen ist, einen Brief an seinen Bruder; kaum daß er die Unterschrift darunter gesetzt, schob er den Bogen zurück und setzte die sichere, rasche Feder auf ein zweites Blatt, zu der Anrede »Hochverehrte Frau!« Der Brief an seinen Bruder lautete:


»Mein guter Joachim!

Was wir seit einiger Zeit erwarteten, wird Thatsache werden: in acht Tagen gehe ich mit der ›Maria‹ nach den neuen Kolonien, wahrscheinlich auf zwei Jahre. Ich lade Dich nicht ein, vorher um Urlaub zu bitten, so sehr ich auch wünschte, persönlich von Dir Abschied nehmen zu können. Du verstehst meine Gründe ohne weiteres, wenn ich Dir sage, es ist mein Wunsch, daß Adrienne eine Reise mache. Leider Gottes, mein Junge, haben wir von Jugend auf gelernt, lernen müssen, uns in alles zu finden, was unsere Armut uns verbot. Freilich weigert Adrienne sich vorderhand und zeigt Neigung, in ihrer einem gewissen Trotz gegen die Verhältnisse entsprungenen Apathie zu verharren. Aber dennoch hoffe ich, daß sie, wenn nicht früher, im kommenden Sommer Fanny Förster aufsuchen wird. Du weißt, ich habe die Stiefschwägerin meiner Frau nur ein einzigesmal, gelegentlich meiner Hochzeit, gesehen, allein einen so bleibenden und bedeutenden Eindruck von ihr empfangen, daß ich von dem Verkehr mit dieser Frau eine tiefgehende Wirkung auf Adrienne erhoffe. Um Dir die[11] Wahrheit zu sagen, ist meine Frau nach der Geburt unseres Jungen etwas trübselig geblieben; Blutarmut und Nervosität haben die ohnehin an ihrem Gemüt hängenden Schwergewichte noch herabziehender gemacht, und ich bin sicherlich zu ernst und zu beschäftigt, um einer so jungen, gedrückten Frauenseele die Munterkeit zurück zu geben. Ich lasse sie so allein zurück, daß mir bangt. Was kannst Du ihr schließlich sein? Ich bitte Dich wenigstens, schreibe ihr jede Woche und wirke auf sie ein, daß sie zu Fanny Förster geht, der ich noch heute in dieser Angelegenheit schreibe. Ohne allen Zweifel würde, wenn Adrienne nach Mittelbach geht, Fanny Förster Dich einladen, Deinen sonst bei uns zugebrachten Urlaub bei ihr zu verleben. Nimm das ohne Zögern an, Du kannst es, denn auf Mittelbach wird eine so große Gastfreundschaft geübt, daß ein Besuch mehr oder weniger im Jahr nicht ins Gewicht fällt. Adrienne hat in ihrem Herzen jene unpersönliche und doch so persönlich wirkende Verstimmung gegen Fanny Förster, wie arme Verwandte es so oft gegen die nächste Familie hegen, wenn diese reich ist. Kämpfe damit, besiege das, steh ihr im Geiste bei gegen sie selbst.

Adrienne wird Dir Deinen Monatszuschuß, wie gewohnt, an jedem ersten schicken. Sollte ihr oder unserem Kind etwas ankommen, nimmst Du Urlaub und eilst zu ihr. Zu diesem Zweck lege ich hier eine längst dafür ersparte Summe bei.[12]

Leb wohl, mein Junge! Ob wir uns wiedersehen, weiß Gott allein. Aber denke nur an mich in Liebe und Freudigkeit, Joachim, denn das kannst Du. Hier zum Abschied will ich's Dir sagen, daß ich es voll anerkenne und achte, wie Du Dich durch Dein junges Leben wacker geschlagen hast und tapfer an den Versuchungen rechts und links vorbeigingst. Das ist nicht leicht, ich weiß es, denn ich habe es auch durchbeißen müssen. Oft habe ich es bereut, daß ich Dich Landwirt werden ließ, denn bei unserer Vermögenslosigkeit ist keine Aussicht, daß Du zu Eigenem kommst, außer durch eine reiche Heirat, und diese, wenn sie nicht durch tiefste Herzensneigung bestimmt ist, widerrate ich Dir ernstlich. Bleibe, was Du warst: ein Herebrecht, das heißt ein Mann von Ehre. Und wenn ich nicht mehr heimkomme, mache meinen kleinen Joachim auch dazu. Hab mein Weib, Deine Schwester, immer lieb, wenn nicht aus eigener Wahl, so doch um meinetwillen. Im Leben und im Tod Dein Arnold.«


Und an Fanny Förster hatte er dann folgendes geschrieben:


»Hochverehrte Frau!

Obschon unser ganzer Verkehr sich auf den Austausch von Glückwünschen beim Jahreswechsel und Geburtstagen beschränkte, ein lockerer Verkehr, der nur etwas lebhafter wurde durch die herzliche Teilnahme, welche Sie meiner Frau nach der Geburt des kleinen Joachim bezeigten, richte ich doch eine Bitte an Sie.[13] Nicht weil Sie die einzige Verwandte meiner Frau sind, sondern weil ich erkannt zu haben glaube, daß Sie mehr Verständnis für Situationen und Charaktere haben, als andere Frauen aufzubringen vermögen, bitte ich Sie, nehmen Sie Adrienne für die Zeit meiner Abwesenheit in Ihren Lebenskreis auf. Ich gehe mit der ›Maria‹ nach den Kolonien, es kann zwei Jahre dauern. Sie wissen, daß Adrienne sich innerlich dagegen auflehnte, Ihren verstorbenen Gatten oder Sie zu lieben. Sie wollte nicht dankbar sein. Aber nun, da Adrienne, wenn auch nur die Gattin eines armen Kapitäns, doch immerhin selbständig ist, nun mögen sich leichter freundliche Beziehungen zwischen Ihnen anbahnen. Keineswegs möchte ich Ihnen das Wagnis zumuten, Adrienne in Ihr Haus aufzunehmen; meine Frau würde eine so lang dauernde Gastlichkeit doch wieder als Almosen empfinden. Aber ich denke, in der Nähe Ihres Gutes mag es irgendwo ein Häuschen oder in einem Pfarrhause ein paar Zimmer geben, wo mein Weib sich mit Kind und Dienerin einmieten kann. So ist sie doch in Ihrem Kreise und wird Ihrem Wesen nahe kommen. Vielleicht auch ergründen Sie, hochverehrte Frau, was es ist, an dem Adriennens Gemüt krankt. Ihnen will ich nicht verhehlen, daß sie von einer Unzufriedenheit niedergedrückt ist, die unmöglich allein aus dem Umstand kommt, daß wir in höchster Sparsamkeit leben müssen. Ich übergebe Ihnen mein Weib in dieser ernsten Stunde. Wenn[14] irgend ein mal in unvorherzusehenden Angelegenheiten Adriennens ein männlicher Rat und Beistand nötig sein sollte, so ist es mein Bruder Joachim, der für sie eintritt.

In acht Tagen reise ich; ich weiß, es wird mit der Erleichterung sein, daß ich vorher Ihre Zusage erhielt. Oder wenn Umstände, die ich respektiren würde, auch ohne daß Sie mir dieselben erklären, Ihnen Adriennens Aufenthalt in Mittelbach nicht ratsam scheinen lassen, so werden Sie mir doch einen bessern Rat, als ich mir selbst wüßte, in Bezug auf Adrienne zu geben wissen. Ich grüße Sie in tiefer Verehrung als Ihr ergebener

Arnold von Herebrecht.«


Der Kapitän fühlte eine gewisse Erleichterung, nachdem er die beiden Briefe zur Post getragen hatte. Seine Gedanken, die beinahe nur verstohlen bei der Reise selbst zu verweilen gewagt hatten und sich bisher ausschließlich mit den Zurückbleibenden beschäftigten, eilten froh vorwärts. Herebrecht war seinem Beruf mit einer ernsten Leidenschaft ergeben; er empfand diesen Reisebefehl als freudige Auszeichnung und gehörte überhaupt zu den Menschen, die von einem Unmut gegen sich und die Welt befallen werden, so lange sie einen Teil ihrer Kräfte nicht bis zur höchsten Leistungsfähigkeit anspannen dürfen. Jede neue Aufgabe bringt solchen Naturen eine ihnen sonst nicht eigene Art der Jugendfreudigkeit; Adrienne, die im sinkenden Februarabend noch an ihrem Fensterplatz saß,[15] über trostlosen Gedanken brütend, war nicht wenig erstaunt, den Gatten bei seiner Rückkehr ein bekanntes Seemannslied vor sich hinpfeifen zu hören. Es war das erstemal, daß sich eine innere Fröhlichkeit bei ihm laut äußerte.

Adrienne wollte eine bittere Bemerkung machen, aber ihr Herz schlug in schmerzlicher Aufwallung so heftig, daß ihr die Worte versagten.

»So, mein liebes Kind,« sagte er, sich in eine Sofaecke setzend, »an Joachim und Fanny Förster habe ich geschrieben.«

»Warum denn an Fanny?«

»Komm hierher. Wir werden nicht lange mehr beisammen sitzen, laß uns ein Wort vernünftig sprechen,« bat der Kapitän mit einem gemütlichen Tonfall der Rede, der ihr auch neu war; aber die Wendung, »ein Wort vernünftig sprechen«, kannte sie bis zum Ueberdruß, es hieß für sie »eine Strafpredigt«.

»Wenn man seine Frau auf zwei Jahre verläßt,« dachte Adrienne, ihre Augen dem Stückchen bleigrauen Himmels zuwendend das oben über den Nachbarhäusern zu sehen war, »wenn man geht, vielleicht auf Nimmerwiederkehr, spricht man von Jammer, von Verzweiflung, aber gewiß nicht ein ›vernünftiges‹ Wort.«

»Du antwortest nicht? Du kommst nicht?« fragte er sanft.

»Laß nur,« murmelte sie, »ich höre ja auch hier.«

»Seltsames Weib!« dachte er; »eine andere würde[16] sich jammernd an ihren Gatten schmiegen. Sie bleibt steif und stumm am Fenster sitzen.«

»Warum nimmt er mich nicht in seine Arme und zieht mich so mit Gewalt an seine Seite?« dachte sie; »ach, ihm liegt nichts daran.«

Nach der Pause von Minuten, während welcher der schnell hereinbrechende Abend alles im Zimmer schwarzgrau umdüsterte, fragte Adrienne:

»Nun – Du wolltest ja ein vernünftiges Wort mit mir sprechen?«

»Ja, ich wollte Dir die Vorteile für Dich auseinandersetzen, die Dir eine Uebersiedlung nach Mittelbach, in Fannys Nähe brächte.«

Das Mädchen trat mit der Lampe ein, stellte sie auf den Tisch und sagte, während sie die Alabasterschale zum Piano trug:

»Der Kleine schreit, soll ich ihm noch einmal die Flasche geben?«

»Laß nur,« antwortete die junge Frau, »ich thu' es selbst.«

Sie erhob sich. Ihre mittelgroße, überschlanke Gestalt bewegte sich in schlechter Haltung, wie die jemandes, der sehr ermüdet und ganz widerstandsunfähig ist. In der Thür wandte sie sich halb um und sagte über die Schulter weg:

»Mache Dir keine Mühe; ich gehe nicht zu Fanny.«

Das war nicht der Ton, in dem eine Frau widerspricht, die sich streiten will. Es war der[17] Ton, den nur innere Unmöglichkeit findet. Herebrecht seufzte.

»Die Apathie ist die Willensform der Schwachen,« murmelte er vor sich hin, »sie ist schwerer zu brechen als alle Heftigkeit des Denkens und Handelns.«

Er beschloß, lieber nicht mehr auf diesen Punkt zurückzukommen, sondern der Einsamkeit und den Briefen Joachims und Fannys überredende Kraft zuzutrauen.

Nach drei Tagen kam von Fanny Förster eine Antwort, sie mußte unverzüglich abgefaßt sein, denn das Gut Mittelbach lag in der Mark Brandenburg, zwei Stunden von der nächsten Eisenbahnstation entfernt; die Postbeförderung geschah nur einmal täglich, so brauchte jeder Brief, wie Arnold aus Erfahrung wußte, anderthalb Tage. Die Schnelligkeit der Antwort erfreute ihn, die Kürze derselben, als er dann das Couvert öffnete, befremdete ihn aber.

»Lieber Herebrecht, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Schicken Sie mir nur Adrienne, wann und so lange sie will.

Ihre Fanny Förster.«


Das war alles. Herebrecht ging an seinen Schreibtisch, in dem auch seine Frau die wenigen Briefe verwahrte, die sie in ihrem Leben überhaupt bekommen hatte oder noch bekam. Da waren die Briefe Försters, des verstorbenen Stiefbruders, so wenige an der Zahl, daß man wohl sah, Förster hatte nur an die kleine Stiefschwester geschrieben, wenn vierteljährlich das Pensionsgeld eingezahlt werden mußte. Da waren auch Fannys[18] Briefe – ein ganzes Paket. Herebrecht löste das umschließende Band und nahm Brief um Brief in die Hand.

Die ersten, sehr langen Briefe, von der damals achtzehnjährigen Braut Försters an dessen elfjährige Schwester gerichtet, waren inhaltlich viel zu hochgespannt, verworren und phantastisch für das empfangende Kind gewesen, strömten aber von dem leidenschaftlichen Wunsch über, die Kleine in Liebe zu gewinnen. Jahr um Jahr ging die Korrespondenz fort, Brief um Brief ward klarer, gefaßter, kürzer. Diese Briefe brachten Arnold, der durchaus nicht die Neigung zu bildlichen Vergleichen hatte, dennoch auf eine seltsame Vorstellung: ihm war's, als sähe er eine ganze Schar verschiedener Gestalten auf einer schnurgeraden Allee dahinwandern und sich in der wachsenden, perspektivischen Entfernung mälich zu einer einzigen verschmelzen. Und obschon Fanny Förster in diesen Briefen niemals ein Wort von ihrem Innenleben verlor, soweit wenigstens es von Freuden oder Schmerzen etwa berührt gewesen sein mochte, so ließ sich doch aus all den schriftlichen Aeußerungen ein Schluß auf eine selten gesunde, kraftvolle und zielsichere Charakterabrundung machen. Und so erschien, da seit Jahren Fanny niemals ein Wort mehr als das Wesentlichste geschrieben, auch dieses letzte kurze Briefchen nicht mehr befremdend.

»Die Frau sieht auch nicht aus, als ob sie viel weine oder viel grüble; sie sieht nach Thaten aus,«[19] dachte der Kapitän und blätterte sich in einem Album das Bild Fannys auf, um es lange zu betrachten.

Beim Mittagessen dieses Tages legte er seiner Frau schweigend das Briefchen hin. Diese las es, ohne eine neuerliche widerstrebende Bemerkung zu machen; daß Fanny nicht viel bat und überredete, war ihr eine beruhigende Empfindung.

Und so kam der Tag der Abreise heran. Das Leben im Hause zwischen den Gatten war bis zur letzten Stunde das gewohnte, schweigsam bedrückte gewesen. Der Kapitän war obenein in erhöhter Weise beschäftigt, teils dienstlich auf der sich zur Afrikareise rüstenden Korvette, teils mit der Ordnung seiner Papiere und seinen literarischen Beziehungen. Er suchte und fand ein großes Blatt, dem er Reisebriefe senden konnte. Diese Nebenbeschäftigung des rastlos thätigen Mannes galt der Sorge für sein Kind, für dessen Erziehung er schon jetzt alles zusammenzusparen begann, was seine Feder ihm einbrachte. Adrienne bemerkte auch, daß ihr Gatte jetzt öfter sinnend an der Wiege des kleinen Weltbürgers stand, schweren Ernst im Gesicht. Sie zwang sich, keine Notiz davon zu nehmen. Aber einmal, es war am vorletzten Tag, als der Kapitän lange stand und in die dunklen, schönen und gleichwohl des lichtesbewußten Ausdrucks noch entbehrenden Kinderaugen sah, schaute Adrienne doch zu ihm hinüber.

Arnold hatte seine Hand sorgfältig auf das haarlose[20] Köpfchen gelegt. Er seufzte tief. In seinen Augen war ein feuchter Schimmer. Es war das erstemal, daß Adrienne in diesen ernsten Augen Rührung sah. Ihr Blick verdunkelte sich, ihr Herz klopfte.

»Mein Sohn!« sagte Arnold leise. Und dann wie zu sich selbst lauter: »Kinder brauchen viel Herzenswärme.«

Dann ging er schnell hinaus. Sein Weib verstand, was die Betonung auf »Kinder« sagen sollte – es hieß: sie können sich nicht wie ein Mann ohne Herzenswärme behelfen. Ein Vorwurf, wieder ein Vorwurf, immer Vorwürfe und nie die Erkenntnis, daß er kein Echo verlangen könne, wo er keinen Ruf ergehen ließ. Sie weinte – es waren die selbstbetrügerischen Thränen einer sich verkannt und nicht geliebt glaubenden Frau.

»Nun, so lebe denn wohl,« sagte der Kapitän am nächsten Morgen, »die Stunde ist da, ich gehe. Gott beschütze euch mir, daß ich Dich und unser Kind wiederfinde, wenn ich heimkehre.«

Er war sehr bleich und drückte die Hand seiner Frau mit schmerzhafter Festigkeit. Adrienne war keines Wortes mächtig.

»Und wenn er sprechen lernt ... lehr ihn auch Papa sagen,« flüsterte er.

Sie nickte heftig. Er umfaßte sie lange, innig. Auf ihre Stirn rann die Thräne eines Mannes. Sie erschauderte. Eine unendliche, fassungslose Bewegung ergriff sie, ihre Lippen lallten. Aber erst. als er schon, sich hastig dieser Qual entreißend, an[21] der Thür stand, kam der Ruf »Arnold!« aus ihrem Munde. Es war ein Ruf höchster Angst. Er eilte zu ihr zurück, er umfaßte sie noch einmal, und sein Gesicht an ihr Haar drückend, flüsterte er:

»Versuche, daß Du mich doch noch lieben kannst.« Dann riß er sich wieder los. Eine Thür fiel ins Schloß, ein Schritt verklang im Korridor, und alles war stumm. Adrienne stand erstarrt. Thränen rannen ihr unbewußt aus ihren weit geöffneten Augen, dabei hatte sie das Gefühl, als könne sie nicht weinen.

»Ich will an die Landungsbrücke gehen,« murmelte sie vor sich hin.

Langsam kleidete sie sich für den Ausgang an. Durch den kühlen Februarmorgen schritt sie dem Quai zu; je näher sie dem Hafen kam, um so mehr fand sie sich im Gedränge von Menschen, die dem gleichen Ziele zustrebten. An der Landungsbrücke zeigte es sich, daß diese gesperrt war, da von ihr aus noch durch eine kleine Dampfbarkasse ein letzter Verkehr mit der Korvette stattfand. Adrienne dachte nicht daran, sich als Offiziersgattin bei den wachthabenden Leuten zu melden, um auf der Brücke, wo schon einige andere Damen standen, gleichfalls einen Platz zu finden. Sie blieb im Gedränge eingekeilt stehen; ein dicker alter Mann hinter ihr, der um jeden Preis vorn am Quairand stehen wollte, weil er einen Sohn dabei habe, wie er jedermann erzählte, drängte und drängte und stieß Adrienne dergestalt mit sich fort, daß sie sich[22] endlich neben dem pustenden und schimpfenden Alten hart am Eisengitter des Quais befand.

Zu ihren Füßen schob sich glitzernd Welle um Welle vorbei. Die weite Fläche der Meeresbucht, die sich am Ende der Stadt zum Hafen abrundet, war von zahllosen Fahrzeugen belebt; kleine Dampfer schossen vom Kieler Ufer nach den Schiffswerften von Gaarden und nach dem Fischerdorf Ellerbeck hinüber. Schwarze Kähne mit geblähten rostbraunen Segeln kreuzten meerwärts; zwischen den Kolossen der Kriegsschiffe verkehrten Boote und Barkassen, mit Matrosen bemannt; weit aus der Stirn trugen diese die dunkelblauen Mützen mit dem breiten Randreifen, darauf zu lesen stand: »Kaiserliche Marine«; von ihrem tief entblößten braunen Halse fiel der blaue, weiß umsäumte Kragen. Und mitten in dem eiligen Leben auf der stahlblau schimmernden Fläche lag die Korvette. Von ihrem Hauptmast wehte das Heimatwimpel, aus ihren Schloten wölkte sich schwarzbrauner Rauch auf, den ein Windstoß zuweilen mit widrigem Kohlendunst landwärts über den menschenbesäten Quai niedersenkte. Hüben und drüben lagen die hügelartig ansteigenden Ufer im kühlen Lichtglanz der Sonne, und dort links hinunter sah das Auge eine blaue, uferlose Ferne sich in einem blauen, leicht umdunsteten Horizont verlieren.

Nun scholl von Schiff zu Schiff ein Kommandosignal, Dampfpfeifen kreischten auf. In den Raaen[23] der stationirten Kriegsschiffe ward es lebendig wie in einem Spinnennest. Unzählige schwarze Gestalten kletterten darin umher, bis plötzlich auf ein neues Kommando Mann an Mann dort auf den Tauen in strammer Linie stand, als wäre der feste Boden unter ihren Füßen. So, im lebendigen Ehrenschmuck der Matrosenreihen in ihrem Tauwerk, erwarteten die Schiffe die Abfahrt der Maria. Wieder zerriß ein hohler, langgedehnter Pfiff die Luft – ein Ton, der die Menge am Ufer verstummen machte und für tausend Herzen wie ein Weheruf erklang.

Die Korvette schien sich zu bewegen. Atemlose Spannung erfaßte die Menschen, die zuschauend standen. Da sank, langsam wie in wehmutsvollem Hinscheiden, das Heimatwimpel von seiner stolzen Höhe herab; noch einmal wellte sich der lange Stoffstreifen in der Luft aus, dann glitt er, im Fall sich ballend, am Seil hernieder. Und zugleich sauste stolz, frei die deutsche Flagge empor, und nach scharfem Blitz vom Nachbarschiff donnerten die Salutschüsse über die Bucht, von Ufer zu Ufer widerhallend. Das hohle Krachen verschlang die Abschiedspfiffe der Maria. Langsam und groß fuhr das Schiff davon. Die Matrosen in den zurückbleibenden Schiffen, das Volk am Ufer – alles schwenkte Hüte, Mützen, Tücher. Aus thränengepreßten Kehlen schrieen Tausende Hurra und vermischten das Geschrei mit den Klängen der Nationalhymne, die eine Militärkapelle am Ufer spielte. Ein[24] unermeßlicher Lärm erfüllte eine Minute lang die Lüfte, das Leid, die Freude, den Stolz, die Angst des Einzelnen verschlingend und sich doch vermählend zu einem Ruf, der ins Weltmeer und über alle Lande hinausdonnerte, den die deutsche Flagge da auf dem Ozean predigen wollte: »Mit Gott für König und Vaterland!«[25]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 1-26.
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Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

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