Siebenzehntes Kapitel

[343] Der Winter war vergangen, langsam, als sei er nicht vier Monate, als sei er vier Jahre lang gewesen.

Joachim hatte sich längst in seiner neuen Heimat eingelebt und rüstete sich nun, zu seiner Hochzeit nach Mittelbach zurückzukehren, nach demselben Mittelbach, das er anfangs Dezember, kaum genesen, verlassen und seitdem nicht wiedergesehen. Aber Severinas Briefe unterrichteten ihn mit der peinlichsten Genauigkeit von allen Vorgängen dort. Er wußte, daß die Pastorin von der Stunde an, daß Severina die Braut eines Edelmannes war und für ihr künftiges Leben die Aussicht auf auskömmliche Verhältnisse hatte, ihre Pflegetochter mit anderen Augen ansah, ihre demütigenden Sittenpredigten nicht mehr hielt und diese glückliche Geschickswendung als eine Belohnung ansah, die der liebe Gott ihr, der opferfreudigen Pflegemutter, geschickt. Er erfuhr auch, daß Magnus durch einige wissenschaftliche Aufsätze viel[343] Erfolg gehabt habe, Weihnacht zu Hause gewesen sei und von Adrienne mit einer besonderen, ernsten Auszeichnung behandelt worden wäre, was Magnus durch die höchste Ehrfurcht im Benehmen erwidert habe. Lanzenau sei sehr kränklich, man spreche von Teplitz und für nächsten Winter vom Süden.

Wie ihm das alles gleichgiltig war! Seine Augen suchten in Severinas Zeilen immer nur nach einem Namen! Und wenn dieser genannt war, ärgerte er sich über alles, was in Verknüpfung damit berichtet wurde. Er fehlte nie, dieser eine Name.

Fanny habe mit verschwenderischer Hand eine Aussteuer beschafft, die für ein gräfliches Haus genügen würde, aber Fanny habe nichts selbst ausgesucht, nichts geprüft. Entgegen ihren sonstigen vernünftigen und geschickt wachsamen Gewohnheiten beim Einkaufen habe sie alles unbesehen beordert und nachher auch kaum einen gleichgiltigen Blick dafür gehabt. Fanny fahre nicht mehr aus; wenn die Familie Taiß käme, was ungewöhnlich oft geschehe, bleibe sie freudlos und gleichgiltig. Weder lese, noch musizire, noch male man mehr im Schlosse. Die Tage gingen so öde hin, Fanny habe nur unendliche Fürsorge für Lanzenau, andere Menschen schienen für sie nicht vorhanden. Fanny sei sehr gealtert, Fanny sei sehr elend – und so immer Fanny und Fanny.

Eine dämonische Verwandlung ging in der Brust des jungen Mannes vor. Mit bedrücktem Gewissen[344] war er abgereist, lange peinigte ihn der unerfüllt gebliebene Wunsch, Fanny noch einmal zu sehen, einen vergebenden Blick von ihr zu erhalten. Dann fing ein leiser Groll über ihre Unerbittlichkeit an, sich in ihm zu regen. Weiter wurde schon ein Vorwurf daraus, daß Fanny eine solche Sache so tragisch nehme und sich das Leben damit vergifte. Beinahe fand er es geschmacklos von einer Frau mit Fannys Verstand. Dann glaubte er, daß sie sich so gebrochen zeige, sei wie ein steter Hinweis auf seinen Leichtsinn, und fand ihre Haltung nicht im Verhältnis zu dem Geschehenen. Wenn alle Frauen und alle Männer einen vorübergehenden Glücksrausch nachher mit einer solchen Lebensjeremiade bezahlen wollten oder sollten, müßte die Erde ja einem Trauerhause gleichen. Und endlich war es ihm, als ob er sie hasse; und mit immer größerer Gier suchte er in Severinas Briefen ihren Namen und eine Bemerkung, die ihm immer wieder das Recht gab, ihr zu zürnen, sich über sie zu ärgern.

Der Gedanke an sie wurde ihm ganz zuwider. Eine fürchterliche Grausamkeit gegen sie erfüllte sein ganzes Herz.

Wenn er daran dachte, daß er sie bei der Hochzeit sehen werde, peinigte ihn brennende Neugier, wie sie sich dabei benehmen werde.

In manchen Stunden ergriff ihn eine Art sentimentales Bedauern; wenn Fanny mit der Welterkenntnis einer großen Dame, mit dem weiten Blick einer[345] klugerfahrenen Frau ihren gewiß natürlichen Schmerz niedergedrückt und versucht hätte, zu verzeihen, wie gut Freund hätte man da bleiben können – gewiß, gut Freund fürs Leben. Das war so schade und lediglich Fannys Schuld, daß man nun getrennt war wie durch einen heißfließenden Lavastrom.

Aber immer verstummten alle diese angewiderten oder bedauernden Empfindungen sehr schnell. Sie wurden eben nur gelegentlich der Briefe hervorgerufen; im übrigen war Joachim guter Dinge. Alle seine Wünsche und Pläne waren nur auf das Weib gerichtet, das er im Frühling sein nennen würde.

Und Fanny?

Was Severina von ihr schrieb, waren die Resultate dessen, was Fannys Umgebung an ihr beobachtet. In Fannys Herz konnte niemand sehen; daß sie in den langen Winternächten eine alte Frau geworden war, schien ihr selbst nicht bewußt zu sein. Sie äußerte sich nie über ihr verändertes Aussehen und gab nie durch Klagen über ihr Befinden zu der Vermutung Anlaß, als sei etwa ein körperliches Leiden die Last, an der sie schleppe. Adrienne und Severina hatten ihr alle Pflichten der über Haus und Hof wachenden Herrin abgenommen, ohne daß Fanny es bemerkt zu haben schien. Ihren Bauern erteilte sie keine Audienzen mehr, Vorgänge in den Familien der Dorfbewohner, selbst die leidvollsten, erweckten ihr keine Teilnahme. Wie und womit sie eigentlich ihre[346] Zeit ausfüllte, wußte niemand zu sagen, Fanny selbst am wenigsten.

Lanzenau, der in der That ernstlich kränkelte, trug sich mit schweren Sorgen. Wie sollte das enden? Und was sollte eines Tages aus Fanny werden, wenn er davonginge? Er erwartete irgend eine Katastrophe vom Tage der Hochzeit, und so sehr er sie anfangs gefürchtet, so sehr riet er endlich dazu, die Rückkehr des Kapitäns von Herebrecht nicht abzuwarten. Er wußte Adriennens Widerstreben zu beschwichtigen, denn diese hatte Joachim das Versprechen abgenommen, mit der Heirat zu warten, bis Arnold heimkäme, was Ende Mai geschehen sollte. Sie selbst sah ein, daß jede Entscheidung wohlthätiger für Fanny sein werde, als dies stumme Erstarren in undurchdringlicher Gedankenverlorenheit. So wurde das Fest denn auf die Mitte des April festgesetzt.

Man sprach in Fannys Gegenwart erst zaghaft und dann, als sie kein Anteilszeichen gab, lebhafter davon, in welcher Art die Hochzeit stattzufinden habe. Zuletzt hatte Lanzenau den Mut, Fanny geradeaus zu fragen, ob sie wünsche, daß Adrienne, die Pastorsleute und vielleicht er selbst mit der Braut nach Joachims Wohnsitz reisen, um daselbst die Trauung vorzunehmen.

»Nein,« sagte Fanny mit ihrer so müde gewordenen Stimme, aber mit unbewegtem Gesicht, »nein. Ich will, daß die Trauung hier in der Kirche sei und daß dann ein Mahl im Pastorenhause statthabe.«[347]

Von da an schien wieder etwas Leben in Fannys Brust zu kommen. Sie wies Severinas schüchterne, dankbare Liebkosungen nicht mehr herbe zurück, sondern sah ihr manchmal mit einem sonderbaren Ausdruck des Mitleids ins Gesicht. Sie zeigte auch dem alten Freunde eine erhöhte Teilnahme, die mit einer schmerzlichen Zärtlichkeit gemischt war, wie man vor einem nahen Abschied sie noch zeigt.

So kam der Tag heran, an dem Fanny und Joachim sich wiedersehen mußten. Joachim traf erst am Abend zuvor ein, nahm das ihm bereitete Quartier im Pfarrhause und zeigte eine fröhliche, vollkommen unbefangene Bräutigamsmiene. Jedermann war zu taktvoll, ihm von Fanny zu reden, und weil er nicht nach ihr fragte, so schien es, als existire sie gar nicht für diesen Kreis von Menschen, die ihr ohne Ausnahme so viel verdankten.

Severina hatte wohl den Mut gehabt, in Briefen an der Sache zu rühren, darüber zu sprechen, hier in Fannys Nähe fehlte ihr die Unbefangenheit, denn ihr Herz war von einer verzehrenden Unruhe erfüllt, daß Fannys Anblick genüge, Joachims Herz abermals in Zwiespalt zu bringen. »Wenn er erst mein Gatte ist,« gelobte sie sich mit der finsteren Entschlossenheit ihrer eifersüchtigen Natur, »werde ich über ihn wachen.«

Wie eine Erlösung kam ihr denn auch die Botschaft von Fanny, daß diese »wegen eines Unwohlseins«[348] nicht an der Vorfeier im Pfarrhause teilnehmen könne, auch aus dem gleichen Grund auf das morgige Festmahl verzichten müsse und nur bei der Trauung zugegen sein könne. Bei der Trauung – dann war Joachim schon ihr Gatte, dann hatte schon der Schullehrer von Mittelbach in seiner Eigenschaft als Standesbeamter sie zusammengegeben.

Während im Pfarrhause alles von fröhlicher Unruhe war, saß Fanny allein in ihrem Zimmer am Fenster. Ihre Jungfer hatte gefragt, was für ein Kleid sie bereiten solle. Dasselbe, antwortete ihr Fanny, was sie in der Taißburg an ihrem Geburtstag getragen. Das Mädchen wagte keine Einwendungen, wenngleich es ihr unbegreiflich war, wie die Herrin bei der einfachen Trauung in der Dorfkirche eine so prächtige Ballkleidung tragen mochte. Fanny lächelte, als das Mädchen gegangen war.

Sie fühlte ganz klar, daß es kindisch und kleinlich war, ihn durch ihr Gewand an jenen Tag erinnern zu wollen, da er ihr gesagt: Fanny, wie habe ich Dich lieb.

Sie fühlte sich aber so erniedrigt, daß ihr Geist mit krankhaftem Bemühen hundert verschiedene Pläne ausbrütete, wie sie ihm für alle Zeiten sein Leben vergällen könne. Und in diesem monatelangen Grübeln war endlich immer wieder die Vorstellung in ihr erstanden, daß ihr Tod, in den sie seinetwegen gegangen, ihm als Vorwurf auf der Seele lasten werde,[349] so lange er atme. Endlich war in ihrem kranken Gemüt diese Vorstellung zur fixen Idee geworden. Ihre Gedanken waren davon gesättigt und beruhigt. Sie wartete auf seinen Hochzeitstag wie auf den Tag der Befreiung.

Nun saß sie hier und harrte der Stunde. Adrienne und Lanzenau waren auf ihren Wunsch im Pfarrhause. Sie wollte allein in die Kirche gehen. Die Morgenstunden schlichen entsetzlich langsam.

Fanny dachte plötzlich an jenen ersten Abend, an welchem Joachim unter ihr in die Nacht hinaussang und sie oben lauschte.


»Die Flammen werden Asche,

Das ist das End' vom Lied,

Das End vom alten Liede,

Mir fällt kein neues ein,

Als Schweigen und Vergessen –

Und wann vergäß' ich dein?«


Mit peinvoller Deutlichkeit erinnerte Fanny sich an seine Stimme, deren Klang sie lange in ihrem Gedächtnis vergebens gesucht. Jetzt, mit den Worten des Liedes, das er damals gesungen, ward der Nachhall in ihrem Ohr lebendig, so lebendig, als stände Joachim vor ihr und spräche zu ihr mit seiner lieben, lustigen Stimme. Vor Schrecken stockten ihre Pulse; ein Schauder durchrann sie.

So neu, als wäre alles erst in dieser Stunde geschehen, stand das Rätsel, das unfaßbare, dieser Art Mannesliebe wieder vor ihr.[350]

Das Mädchen kam mit dem Festkleid. Fanny ließ sich schmücken, ohne weiter auf das acht zu geben, was die leisen Hände der Jungfer mit ihr machten. Diese treue Person aber ging von dem Wunsche aus, daß ihre Herrin durch die Pracht ihrer Erscheinung dem »jungen Herrn« beweisen solle, was er verscherzt. Sie behängte Fanny mit so viel Diamanten, als diese nur irgend besaß, und ordnete ihr Haar mit großer Künstlichkeit.

Dann mußte sie Fanny in die Kirche begleiten. Der sonnige Apriltag beschien die festlichen Vorrichtungen, Tannenreiser hatte man auf den Weg vom Pastorenhause bis zum Kirchenportal gestreut, welches von Guirlanden umkränzt war.

Fanny trat gerade und aufrecht über die Schwelle. Ihre Schleppe fegte die Tannenreiser mit sich. Sie ging bis an den Altar und stellte sich dort neben den Sesseln auf, die für das Brautpaar bestimmt schienen. Sie sah weiß und kalt aus wie ein Steinbild.

Die Kirche war von den Dorfbewohnern gefüllt; von der Hochzeitsgesellschaft war noch niemand zugegen. Allmälich erschienen diese: benachbarte Pfarrerfamilien, einige Verwandte der Frau Pastorin, Lanzenau und Adrienne. Alle kannten Fanny, hatten von ihrem »Unwohlsein« gehört und wollten mit Flüsterfragen nach ihrem Befinden an sie herantreten. Aber sie stand und sah so unbeweglich gerade vor sich hin, daß man glaubte, sie wünsche hier an diesem geheiligten Ort keine profane Unterhaltung.[351]

Die Orgel erbrauste. Fanny wandte ihr Gesicht langsam dem Eingange zu; sie wollte den Schreck auf seinem Gesicht lesen, wenn er sie erblickte.

Joachim und Severina traten Arm in Arm ein. Sie hatte ihr Haupt unter dem Schleier geneigt, ihr Gesicht war von vergossenen Thränen gerötet. Joachim trug den Kopf frei erhoben; er war etwas blaß, aber sein Auge blickte ruhig und fast gleichgiltig auf Fanny. Seine heftige Abneigung gegen sie war in diesem Augenblick nicht rege, denn alle seine Gedanken waren bei dem Weibe, das er besitzen sollte, nicht bei derjenigen, die schon sein gewesen.

Nur als er vor dem Altar stand und sich Fanny nahe gegenüber sah, dachte er mit einer Art Wohlwollen, daß es doch vernünftig von ihr sei, anstatt Scenen zu machen, ruhig als unbefangene Zeugin zu erscheinen. Daß sie das Gewand von »damals« trug, bemerkte er nicht, daß sie elend und gealtert aussah, erregte in seiner Brust eine flüchtige Empfindung, die man vielleicht hätte eine eitle nennen können.

Fanny stand erstarrt und sah auf ihn. Sein Anblick war ihr wie eine Offenbarung, sein junges, hübsches Gesicht, seine geschmeidige Figur, sein offener Blick – er selbst noch ganz er selbst, so wie sie ihn geliebt! Ihr wahnwitziger Haß war jäh erstorben; die künstlich großgezogene Unwahrheit entfloh vor seiner Gegenwart. Sie begriff, daß sie ihn noch liebte![352]

Fanny erzitterte. Wird er nicht noch einmal ihrem Blick begegnen? Der Pastor begann die Predigt. Joachim schien zuzuhören. Außer der milden Greisenstimme regte sich kein Laut in der Kirche. Durch die Bogenfenster hinter dem Altar brach der volle Sonnenschein. Die Tannenreiser dufteten harzig. Ein Hauch wie der eines unendlichen Friedens lag über dem Gotteshause und der Versammlung darin.

Fanny fühlte es, und es umschlich sie wie Wehmut; sie seufzte laut, ohne sich dessen bewußt zu sein. Darüber erhob Joachim erschreckt das Auge zu ihr, und ihre Blicke trafen sich. Der Seufzer hatte ihn geärgert, und sein Blick war feindselig.

Sie erkannte es – sie wankte, faßte sich und stand wie vorher.

Die liebevolle Stimme scholl predigend weiter. Fanny hatte ihre Hände gefaltet; sie sah langsam über die ganze Gemeinde hin; es fehlte niemand aus dem Dorfe. Fanny kannte jedes Gesicht. Alle Augen hatten schon dankbar und verehrungsvoll auf sie geschaut, und alle Augen würden weinen, wenn ... Ihr Blick ging über Adrienne. Die saß still gefaßt, ihr Schmerz um das Kind erstarb mehr und mehr in der Hoffnung auf den nahenden Gatten. Eine neue, blühende Kinderschar wird die beiden in wenig Jahren umspielen, froh und glücklich werden sie sein. Fannys Reichtum könnte ihnen das Leben erleichtern ... aber Fanny hat kein Testament gemacht, und ihr Geld[353] geht an fremde, ferne Leute über, wenn sie heute ... Und da ist Lanzenau. Armer, treuer Freund, für alle Entsagung verdiente er wenigstens, daß seine letzten Lebensjahre von zärtlicher Fürsorge durchwärmt würden, und wie allein ist er in der Welt, wenn Fanny aus ihr geht. –

Sie hob den Kopf stolzer und stolzer. Ja, vielen war sie nützlich gewesen im Leben; sie hatte ihre Kräfte nicht vergraben, sondern ihr Pfund redlich verwaltet. Ihr Geschick hatte sie auf hervorragenden Platz gestellt, und sie hatte bewiesen, daß auch eine Frau die Aufgaben erfüllen kann, die sonst das Leben an Männer stellt.

Und nun fiel sie doch dem gemeinen Frauenlos zum Opfer. Es war einmal so in der Welt und blieb unabänderlich: bis an die Zähne bewaffnet kämpft Geschlecht gegen Geschlecht, und es ist die geheimnisvolle Laune der Natur, daß sie in diesem Kampf den Mann Sieger bleiben läßt. Einerlei, ob das Weib klüger, besser, nützlicher, wichtiger auf ihrem Platz ist als der Alltagsmann, dem sie unterliegt, sie unterliegt, bloß weil sie Weib ist, er siegt, bloß weil er Mann ist.

Eine Vision erstand vor Fannys Auge. Es war ihr, als stehe ein Cherub vor ihr, der in einer Wagschale ihr Dasein gegen das Joachims abwog. In ihre Schale fielen alle Dankesthränen, die man über ihrer arbeitsamen, segenspendenden Hand geweint, all ihr nützliches Wirken im Umkreis ihrer Pflichten,[354] alle die selbstlosen Freundesthaten, die sie an den Ihrigen gethan, und all das deckte ganz die eine Schwäche ihres rasch und urteilslos entflammt gewesenen Herzens zu, und ihre Schale neigte sich schwergewichtig, die andere Schale aber flog leicht in die Höhe – nein, sie beide konnten nicht zusammen gewogen werden.

Thränen verdunkelten Fannys Augen. »Muß es denn sein?« fragte sie sich in stummer Qual, »muß ich denn unterliegen, bloß weil ich ein Weib bin?« Es regte sich etwas in ihr – etwas, das nach Befreiung, nach Erhebung schrie; etwas, das sich wild dagegen empörte, dem Mann den Sieg zu lassen; etwas, das ihr zuraunte, sie kämpfe für ihr Geschlecht, wenn sie für sich kämpfe.

Ihr Herz klopfte. Unvermittelt, wie ein Blitzstrahl, fiel ein Licht in Fannys Seele. Ein unnennbarer Stolz dehnte ihr ganzes Bewußtsein. Eine neue Kraft kam über sie – die Kraft, würdig zu leiden.

Sie fühlte, daß Joachim sich innerlich ganz von ihr gelöst hatte und daß sie nicht aufhören könne, ihn zu lieben, aber die Würde haben müsse, ihr Leben nicht unter das seine zu stellen.

Ihr Auge haftete wieder auf dem Geliebten, ruhig, groß, erhaben.

Die Predigt war zu Ende, Joachim und sein Weib knieten auf der Schwelle des Altars nieder, um den Segen zu empfangen.[355]

Dann erklang die Orgel, und die hellen Knabenstimmen sangen vom Chor hernieder.

Ueber Fannys Angesicht lag ein Schein von unirdischer Größe. Sie sah dem Sonnenstrahl zu, der auf Joachims blondem Haupte lag; und als Joachim sich wieder erhob und ergriffen, doch in diesem Augenblick tief ergriffen, sich Fanny nahte, vielleicht um ein Wort der Vergebung zu stammeln, vielleicht um einen großmütigen Segenswunsch zu hören, da nahm sie seine Hand.

Ihre Lippen wollten sprechen, aber die Stimme fand nicht die Kraft zu lautem Ton. So sah sie ihn an, lange und tief, und dann ließ sie seine Hand fallen.

Sie trat von ihm hinweg, erfaßte die kalten Hände ihres alten Freundes und sagte, ihm groß ins Auge sehend:

»Ich will leben!«

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 343-356.
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