[Tief ist das Tal]

[67] Tief ist das Tal, so tief hinabgesunken,

So tief ihr Grab! Und in der weiten Welt

Schließt sich die Heimat zu, die Sternenfunken

Sind meiner Wohnung Licht, das Himmelszelt

Mein kühles Dach. In dunkler Fern' ertrunken[67]

Ist alle Aussicht, und den Busen schwellt

Ein ewiges und nie erfüllt' Verlangen

Die nimmer kehrt, die Holde, zu umfangen.


Da sitz' ich stumm auf Berges Höh' und blicke

Mit Wehmut in der Kindheit Paradies,

Der Hütte Licht, es winkt mir still zurücke,

Es ruft des Freundes Flöte mir so süß.

Als wolle sie dem finsteren Geschicke,

Das mich von Haus und Hof der Schöpfung stieß,

Den bittern Ernst in sanften Tönen lösen,

Und süßen Trost mir in den Busen flößen.


Es bricht der Kampf, im Herzen tief zerronnen

Ist meiner Jugend innerstes Gebild,

Aus Kindesliebe war es zart gesponnen,

In Traulichkeit und Milde eingehüllt.

Des Lebens jüngster Tag war kaum begonnen,

Ein dichtes Dunkel schon die Bahn erfüllt

Und für des Mittags, für des Abends Wonnen

Ein Strom von Schmerz schon aus dem Morgen quillt.


Wo, dunkles Leben, führst du mich nun hin,

Wo lebt ein Wesen, das ich dicht umschlinge,

Dem ich das Herz, und den verwaisten Sinn

Zur Pflege und zur Liebe wiederbringe;

Ihm werde jede Blüte zum Gewinne,

Die aus dem armen Frühling ich erringe.

Der stumme Freund, er wird ja nimmer sprechen,

Das dunkle Leben nie ein Wort durchbrechen.


Da flüstert's freundlich durch die dunkeln Eichen,

Es weht wie Trost mir aus dem Tal herauf,

Ein heilig Wort spricht durch des Waldes Schweigen,[68]

Es ziehet schnell der Wolken wilder Lauf,

Vor meinem Sinn die schwarzen Schatten weichen,

Und Mondeslicht, und Sterne blühen auf.

Des stummen Freundes inniges Umfassen

Spricht laut zu mir: ich will dich nie verlassen.


So hell und still von zartem Licht umgossen,

Ist mir zu Füßen wie ein Bildersaal

Mein vorig Leben rührend aufgeschlossen,

Erinnerung spielt in der schönen Wahl.

Ich sehe früh die Blüten all entsprossen,

Und früh herab gewehet in das Tal,

Da weine ich nun an dem eignen Grabe,

Betraure tief, was ich verloren habe.


Und kann noch einst das Leben mir erblühen,

Wie mir der Frühling hier im Mondschein blüht

Kann mir im Leben wieder Leben glühen,

Kann Ruhe mir das krankende Gemüt

Mit heiterm Sinn und Freudigkeit umziehen,

So kehre ich und singe hier ein Lied

So werde hier an dieser ernsten Schwelle

Die Aussicht in den frühen Tod mir helle.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 67-69.
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