[89] Die vier Reliefs des Würfels und die Apotheose
Erstes Relief
Ein kleines Mädchen sitzet in der Mitte,
Die Arme schalkhaft über sich gerungen,
Hält sie ein junger Faun mit Lust umschlungen,
Sie sträubt sich ihm, der ihr mit wilder Sitte
Ein Tamburin mit Früchten reicht, die Bitte
Ist in des Mädchens Kuß ihm schon gelungen,
Doch nur die milde Frucht hat sie bezwungen,
Daß sie von ihm den wilden Kuß erlitte.
Denn von ihr abgewandt, die jungen Schmerzen
In Tönen lösend, singt ihr Genius,
Die Rechte in der Lyra, was im Herzen
Die Linke fühlt, es neiget von dem Kuß
Sich ihm des Mädchens Aug', voll schlauen Scherzen,
Sie hört sein Lied, doch sieget der Genuß.
Zweites Relief
Die Jungfrau steht, vor ihr ein Weib und zwinget,
Die Freie sich den Gürtel zu bequemen,
Ihr, die sich schämt der Nacktheit sich zu schämen,
Des Genius Arm die Füße hold umschlinget.
Indes dem Weib die Gürtung schon gelinget,
Scheint Neugier nur die Jungfrau bezähmen,
Sie sieht den Schwan vom Genius Speise nehmen,
Und hebt das Tamburin, das dumpf erklinget,[90]
Hoch mit der Rechten, und mit scheuem Beben
Forscht ihre Linke, was im Spielwerk rauschet,
Und fühlet zarte Flügel kleiner Tauben,
Der Faun, der über ihr auf Felsen lauschet,
Beugt sich herab, die Tauben hinzugeben,
So konnte Lust ihr nur die Wildheit rauben.
Drittes Relief
Im Himmel irrt ihr Blick und an der Erde
Ringt sie in wilder Blöße hingegeben.
In Lust ersterbend, voll von heißem Leben,
Übt sie gereizt, so reizende Geberde.
Auf daß ihm währe, was sie sich gewährte,
Legt schlau der Faun ihr, der in Lustgeweben
Nun gürtellos die freud'gen Hüften schweben,
Den Gürtel um das Aug', wie Lust ihn lehrte.
In süßem Schmerz will sie die Arme ringen,
Und schlägt das Tamburin in wilden Lüsten,
Die Tauben buhlen auf den holden Brüsten,
Es bebt der Schwan in seines Todes Singen,
Es bricht in seines Liedes Lieb' und Leiden,
Der Genius der Lyra goldne Saiten.
Viertes Relief
Der Genius hält siegend sie umwunden,
Aus seiner Lippen liebevollen Hauchen
Trinkt Lieben sie, im Strahle seiner Augen
Trinkt sie den Tod in lusterschloßne Wunden.
Sie stirbt im Licht die Binde losgebunden,
Muß sie in ew'ge Blindheit untertauchen,[91]
Da ihre Küsse heil'ges Leben saugen,
Im Wahnsinn muß der Sinne Wahn gesunden.
Das Haupt verhüllt in loser Locken Fluten,
Streckt sie die Hand, die Lyra zu erlangen,
Die hoch erhebt, der Schwan reckt seine Schwingen,
Das Tamburin, in dem die Tauben ruhten
Zertritt sein Fuß, den Faun sieht man gefangen,
In jenem Gürtel an der Erde ringen.
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
|
Buchempfehlung
Die Geschwister Amrei und Dami, Kinder eines armen Holzfällers, wachsen nach dem Tode der Eltern in getrennten Häusern eines Schwarzwalddorfes auf. Amrei wächst zu einem lebensfrohen und tüchtigen Mädchen heran, während Dami in Selbstmitleid vergeht und schließlich nach Amerika auswandert. Auf einer Hochzeit lernt Amrei einen reichen Bauernsohn kennen, dessen Frau sie schließlich wird und so ihren Bruder aus Amerika zurück auf den Hof holen kann. Die idyllische Dorfgeschichte ist sofort mit Erscheinen 1857 ein großer Erfolg. Der Roman erlebt über 40 Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro