|
[159] Es stehet im Abendglanze
Ein hochgeweihtes Haus,
Da sehen mit schimmernden Augen
Viel Knaben und Jungfraun heraus.
Sie wechslen mit Weinen und Lachen,
Sie wechslen mit Dunkel und Hell,
Mit schimmernden Augen und Wangen
Sie wechslen ihre Röcklein gar schnell! –[159]
Dort hab' ich mein Liebchen gesehen
Ein freundliches zierliches Kind;
Sie konnte wohl schweben und drehen
Wie fallende Blüten im Wind.
Und die in dem Hause dort wohnen
Sind heilig und wissen es nicht,
Sie spielen mit Kränzen und Kronen
Alltäglich ein neues Gedicht.
Sie sind gleich den Göttern und handlen
Alltäglich in andrer Gestalt,
Mein Liebchen wird auch sich verwandlen
Das tut meinem Herzen Gewalt.
O Liebchen wo bist du geblieben?
Ich steh' vor dem schimmernden Haus,
Und will dich bescheiden nur lieben
O Liebchen, o sehe heraus!
Ich will dein pflegen und warten
Im Herzen so treu als ich kann,
Da seh' ich sie sitzen im Garten
Wohl bei einem reichen Mann.
So kauf' ich mir Harke und Spaten,
Bind' mir ein grün Schürzelein vor.
Ich stell' mich als wär ich der Gärtner
Und klopf' bei dem Reichen ans Tor.
Tu auf, o Reicher den Garten,
Ich will dir so gern ohne Sold
Die Blumen all pflegen und warten
Sie sind ja mein Silber und Gold.
So sei mir o Gärtner willkommen,
Zieh höher die Rosenwand mir.
Verflecht sie zu Netzen und Schlingen,
Ich habe ein Vögelchen hier.[160]
Zieh höher und dicht mir die Laube,
Zieh mir ein gitternes Haus,
Daß keiner das Vögelchen raube,
Daß es nicht fliege heraus.
Da klinget so herzlich und süße
Im Garten ein inniges Lied,
Die Bäume sie senden ihr Grüße,
Die Blume lauschend ihr blüht.
Da seh' ich mein Liebchen so weinen,
Sie sieht zu mir heimlich herauf.
Die Sonne will nicht mehr scheinen,
Die Blumen sie gehen nicht auf.
So hast du dann es verlassen
Das schimmernde Götterhaus,
Deiner Locken Gold wird blassen,
Deiner Augen Licht gehet aus.
O Liebchen, o sei nicht so munter
Du hast vergeudet dein Los;
Dein Sternlein, es gehet ja unter
Tief in des Meeres Schoß.
Ans Meer will ich und stehen
Still in dem Abendschein,
Da muß in den Wellen ich sehen
Versinken dein Sternelein.
Im Niedersehen da rollen
Die Tränen still hinab,
Die sich vereinen wollen
Mit deines Sternes Grab.
Dies Lied hab' ich ersonnen
Wohl vor jenem Zauberhaus,
Das glänzt in der Abendsonne,
Wo du nicht mehr siehst heraus.[161]
Als Jugend um Liebe brennte
In irrem Liebeswahn,
Da wolltest du ihn nicht erkennen
Die hell mich blickte an.
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
|
Buchempfehlung
Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.
298 Seiten, 15.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro