[Liebster Hirte, denkst du nicht]

[491] Liebster Hirte, denkst du nicht

An die teure Liebespflicht?

Hast du doch mit tausend Wunden

Meiner Seele dich verbunden!


Weißt du wohl, daß deine Pein

Uns Erlösung sollte sein?

Und wie muß ich denn auf Erden

Noch so lang geprüfet werden!


Bin ich dir als eine Braut

Durch den Ring schon angetraut,

Warum läßt du meine Seele

In des Leibes Trauerhöhle?


Uns zu Lieb' hast du gestritten,

Uns zu Lieb' den Tod erlitten;

Dich seh' ich in jedem Armen,

Und das mehret mein Erbarmen.


Wenn ich diese Wunden pflege

Und den Balsam in sie lege,

Seh' ich deine Wunden glühn,

Die wie Rosen mir erblühn.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 491.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)