[Ein armer Tor lebt ausgeschlossen]

[504] Ein armer Tor lebt ausgeschlossen

Draus vor der Stadt bei einem Baum.

Er dient den Reisenden zum Possen,

Nickt für die trockne Rinde kaum.


Doch von der Sonne Steigen, Neigen,

Bis zu der Sonne Niedergang

Schwingt er sich an den Palmenzweigen

Mit ewig heiligem Gesang. –


Er singet nur die beiden Worte

Ave Maria fort und fort,

Aus seines Mundes frommer Pforte,

Kam niemals noch ein andres Wort.


Und als er endlich ausgeschwungen,

Am Abend bei dem Palmbaum lag,

Hat er schon sterbend noch gesungen

Ave Maria bis zum Tag.


Es nahten sich des Weges Boten,

Erstaunt, weil sich der Tor nicht schwang,

Und scharrten bald den armen Toten

Am Baume ein ohn' Sang und Klang.


Ein Schwätzer, der ihn oft verlachte

Reist eine Zeit nachher vorbei,

Und naht dem Baume stolz und dachte,

Was half sein Schwingen und Geschrei.


Da spielt ein Wehen in den Zweigen

Auf jedem Blatt der Schwätzer sieht[504]

Ave Maria steigen, neigen

Mit goldner Schrift des Toren Lied.


Es fasset ihn das Liebeswunder,

Er kündet es der ganzen Welt,

Und macht zum Gruß viel Herzen munter,

Und hat viel Schwätzen eingestellt.


Nach unsers Heilands wahren Worten

Selig die Armen in dem Geist

Der arme Tor, der selig worden

Der selige Solinus heißt. –


Nach der Erlösung seufzt und ringet

Mit uns sich alle Kreatur –

Nur wer treu wie Solinus singet,

Der löst die Fesseln der Natur.


O Seligkeit der beiden Worte

Ave Maria fort und fort,

Erlösend tönst du im Akkorde

Gott, Mensch, im fleischgewordnen Wort.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 504-505.
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