Kettenlied eines Sklaven an die Fesselnde zur letzten Stunde des Jahres 1834 geschlossen

[596] Einsam will ich untergehen

Keiner soll mein Ende wissen

Wird der Stern, den ich gesehen,

Von dem Himmel mir gerissen,

Will ich einsam untergehen

Wie ein Pilger in der Wüste.


Einsam will ich untergehen

Wie ein Pilger in der Wüste[596]

Wenn der Stern den ich gesehen

Mich zum letzten Male grüßte

Will ich einsam untergehen

Wie ein Bettler auf der Heide.


Einsam will ich untergehen

Wie ein Bettler auf der Heide

Gibt der Stern den ich gesehen

Mir nicht ferner das Geleite

Will ich einsam untergehen

Wie der Tag im Abendgrauen.


Einsam will ich untergehen

Wie der Tag im Abendgrauen

Will der Stern, den ich gesehen

Nicht mehr zu mir niedertauen

Will ich einsam untergehen

Wie ein Sklave an der Kette.


Einsam will ich untergehen

Wie ein Sklave an der Kette

Blickt der Stern, den ich gesehen

Nicht mehr auf mein Dornenbette

Will ich einsam untergehen

Wie ein Schwanenlied im Tode.


Einsam will ich untergehen

Wie ein Schwanenlied im Tode

Ist der Stern den ich gesehen

Mir nicht mehr ein Friedensbote

Will ich einsam untergehen

Wie der Mond in wüsten Meeren.


Einsam will ich untergehen

Wie der Mond in wüsten Meeren

Wird der Stern, den ich gesehen

Jemals weg von mir sich kehren

Will ich einsam untergehen

Wie der Trost in stummen Schmerzen.[597]


Einsam will ich untergehen

Wie der Trost in stummen Schmerzen

Sollt' den Stern, den ich gesehen

Jemals meine Schuld verscherzen

Will ich einsam untergehen

Wie mein Herz in deinem Herzen.


Einsam will ich untergehen

Wie mein Herz in deinem Herzen

Kehrt der Stern, den ich gesehen

Kalt sich ab von meinen Schmerzen

Will ich einsam untergehen

Wie mein Blick in deinen Blicken.


Einsam will ich untergehen

Wie mein Blick in deinen Blicken

Wird der Stern, den ich gesehen

Nicht mehr nickend mich entzünden

Will ich einsam untergehen

Wie die Blume deiner Lippen.


Einsam will ich untergehen

Wie die Blume deiner Lippen

Zeigt der Stern, den ich gesehen

Nicht den Weg mehr durch die Klippen

Will ich einsam untergehen

Wie mein Kuß an deinen Wangen.


Einsam will ich untergehen

Wie mein Kuß an deinen Wangen

Bricht der Stern, den ich gesehen

Nicht mein Herz mehr mit Verlangen

Will ich einsam untergehen

Wie die Träne dir im Busen.


Einsam will ich untergehen

Wie die Träne dir im Busen

Weckt der Stern, den ich gesehen[598]

Mir nicht lächelnd mehr die Musen

Will ich einsam untergehen

Wie mein Dank zu deinen Füßen.


Einsam will ich untergehen

Wie mein Dank zu deinen Füßen

Wird der Stern, den ich gesehen

Nicht mehr mild mein Leid versüßen

Will ich einsam untergehen

Wie mein Licht in deiner Sonne.


Einsam will ich untergehen

Wie mein Licht in deiner Sonne

Bricht der Stern, den ich gesehen

Wie mein Blick in dir du Wonne

Will ich einsam untergehen

Wie dein Nam' in Todes Munde.


Einsam will ich untergehen

Wie dein Nam' in Todes Munde

Taut der Stern, den ich gesehen

Nicht mehr Lindrung meiner Wunde

Will ich einsam untergehen

Wie ein Kind stirbt, eh' geboren.


Einsam will ich untergehen

Wie ein Kind stirbt, eh' geboren

Geht der Stern, den ich gesehen

Geht dein Stern mir je verloren

Will ich einsam untergehen

Wie mein Herz vor dir Cäcilie.


Einsam will ich untergehen

Wie mein Herz vor die Cäcilie

Lacht der Stern, den ich gesehen

Mir nicht mehr auf dir du Lilie

Will ich einsam untergehen

Wie allein, allein, alleine.[599]


Einsam will ich untergehen

Wie allein, allein, alleine

Blitzt der Stern, den ich gesehen

Nicht in Tränen die ich weine

Will ich einsam untergehen

Wie arm Lind fleht bitte, bitte.


Einsam muß ich heim nun gehen

Auf arm Lindis »bitte, bitte,«

O mein Stern, dein süßes Flehen,

Wenn du wüßtest, was ich bitte

Hätte mir noch zugesehen,

Bis mein Herz brach in der Mitte.


Einsam muß ich heim nun gehen

Und mein Herz brach in der Mitte,

Stern, du hast mich angesehen,

Hast gefesselt meine Schritte,

Mußt doch einsam untergehen

Wie dies Jahr zur zwölften Stunde.


Untergehen, auferstehen

Stern der Lieb' – jetzt schlägt die Stunde!

Stern willst du jetzt schlafen gehen?

Tauch' zu meines Herzens Grunde,

Brauchst nicht links nicht rechts zu drehen,

Es ist dein und Wund' an Wunde.


Wund' an Wunde – o süß Liebchen!

Neue Wunde ist das Grübchen,

Das der Liebe Stern eindrücket,

Wenn entschlummernd süß er zücket,

Und verwundend Strahlen schießet

Auges Wimper, die sich schließet.

Ruh' fein still am kleinen Kissen –

Ach ich hab' dran weinen müssen!

Sei in Dornen, meine Lilie![600]

Wie ein Rosenzaun, Cäcilie,

Soll mein Lieben dich umschließen

Dirwärts nur die Rosen sprießen

Mirwärts nur die scharfen Dornen,

Die mich zum Verbluten spornen.

Duftet Rosen ihr der Süßen,

Da ich jetzt dies Jahr mit Büßen,

Einen dichten Kranz von Schmerzen

All erblüht in meinem Herzen,

All erbaut in bangem Sehnen

All betaut von heißen Tränen,

Ihr demütig lag zu Füßen,

Ach die ihn nicht von sich stießen,

Die ich durfte treu umschlingen

Stirb Jahr, nichts mehr kannst du bringen,

Selig starb die letzte Rose

Still entblättert ihr im Schoße!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 596-601.
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