Einleitung

Wenn iemand irgendswo in einer Höhle,

Allwo desselben Sinn und Seele

Von aller Creatur und allem Vorwurf leer,

In steter Dämmerung erzogen wär;

Und trät' auf einmahl in die Welt,

Zumahl zur holden Frühlings-Zeit,

Und sähe dann der Sonnen Herrlichkeit,

Und säh' ein grün beblühmtes Feld,

Und sähe dick bebüschte Hügel,

Und sähe reiner Bäche Spiegel,

Durch einen Schatten-reichen Wald,

Mit seiner sich drin spiegelnden Gestalt,

Umkränzt mit glatten Binsen, fliessen,

Und sähe Flüsse sich ergiessen,[1]

Auch ihrer Bürger schuppicht Heer;

Und säh' ein unumschräncktes Meer,

Und sähe bunte Gärten prangen,

Auch, wann die Sonn' erst untergangen,

Der Abend-Röthe güldne Pracht;

Und säh' in einer heitern Nacht

Den Wunder-schönen Sternen-Himmel;

Zusammt den Silber-reinen Glantz

Der Schatten-Sonne, wenn sie gantz;

Und hört' ein zwitscherndes Getümmel

Der Singe-Vögel, und den Schall

Der angenehmen Nachtigall,

In Luft- und Schatten-reichen Büschen,

Sich mit dem sanften Rauschen mischen,

Und hört', auf rauh- und glatten Kieseln,

Geschwinde Bäche murmelnd rieseln;

Und schmeckte tausend süsse Früchte,

Und schmeckte vielerley Gerichte,

Die Wasser, Luft und Erde geben;

Und schmeckte, voller Geist und Kraft,

Den säurlich-süssen Tranck und Saft

Der lieblichen Tockayer-Reben;

Und röche Bluhmen mancher Arten,

In Feldern, Wäldern und im Garten;

Und röch' auf Bergen und im Thal

Gesunde Kräuter ohne Zahl;[2]

Und röche balsamirte Düfte;

Und fühlte sanfte laue Lüfte,

Und fühlte Wunder-süsse Triebe

Von einer zugelaßnen Liebe;

Und fühlte mit vergnügter Brust,

Des süssen Schlafes sanfte Lust;

Und fühlte, wann der Schlaf vorbey,

Daß er dadurch gestärcket sey,

Um alles, was so Wunder-schön,

Aufs neue wiederum zu sehn.


Auf welche sonderbare Weise

Würd' er sich nicht darob ergetzen!

Würd' er sich nicht halb selig schätzen?

Er bliebe gantz gewiß dabey,

Daß er, aufs mindst' im Paradeise,

Wo nicht schon gar im Himmel sey.


Und wir, die alle diese Gaben

Unstreitig üm und an uns haben,

Empfindens minder, als ein Stein;

Ja machen uns, an deren Stelle,

Das Paradeis fast selbst zur Hölle.

Was mag daran wohl Ursach seyn?


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 1-3,8-9.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irdisches Vergnügen in Gott
Irdisches Vergnügen in Gott: Erster und zweiter Teil
Irdisches Vergnügen in Gott: Dritter und Vierter Teil

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon