Das Eulchen

[281] Am Abend saß ich jüngst, gelassen und in Ruh',

In einem kleinen Garten-Zimmer,

Und sah, durch's Fenster-Glas, wie sich des Tages Schimmer

Gemach verringerte: Die Schatten nahmen zu.

Indem erblicket' ich ein ämsiges Geschwebe.

Von einer Spinnen war ein ziemlich starck Gewebe

Im Zimmer, vor den Scheiben her, gespannt,

Und, zwischen dieser falschen Wand,

Sah ich, am Scheiben-Glas', ein weisses Eulchen fliegen

Stets auf und nieder, hin und her.

Es schien, ob sucht' es bloß am Lichte sein Vergnügen,

Und, daß es bloß dadurch gesichert wär'.

Ihr schwartzer Feind, die Spinne, ruhte nicht,

Sie lief bald in die Läng', bald in die Quer,

Mit off'nen Klauen, doch des Himmels Licht,

Des Eulchens Augenmerck, wodurch es nicht zurücke,

Und nur stets vorwärts flog, befreyt' es von dem Stricke

Und seinem Untergang, indem es ungefehr,

Nach langem Flattern, in der Scheibe

An eine Spalte kam,

Und, durch dieselbige, sich seinem Tod' entzog,

Die Freyheit fröhlich nahm,

Und nach dem lang gesuchten Lichte flog.


Der Zufall rührte mich, und galubt' ich, daß, zur Lehre,

Er nützlich anzuwenden wäre.
[282]

Das Eulchen schiene mir der Seelen Bild zu seyn;

Das Scheiben-Glas des Cörpers; Durch den Schein

Des Lichtes schiene mir die Gottheit; Sünd' und Welt,

Durch das Geweb' und durch die Spinne, vorgestellt.


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 281-283.
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