868. An Johanna Keßler

[352] 868. An Johanna Keßler


Wiedensahl 9. Mai 92


Heut, wie ich so aus der Gartenthür

Hinausspatzier' zu meinem Pläsir –

Siehda! auf dem Baum vor ihrem Kästchen,

Worin das Nestchen,

Steht die Frau Staarin im Sonntagswichs

Und macht einen Knicks

Mit gespreiztem Gefieder

Und schaut mit einem Auge hernieder;

Und nachdem sie gehörig den Schnabel gewetzt,

Thut sie ihn auf und plappert und schwätzt:


»Guten Morgen, Herr Raucher!

Herr Zündholzverbraucher!

Ich bin so frei

Zu bemerken, daß heute der neunte Mai.

Da wurde vor so und soviel Jahren –

Wie viel – Hah! – das soll Niemand erfahren! –

In der freien Reichsstadt an den Ufern des Mains

Ein Mägdlein geboren, ein ganz ganz kleins,

So ein ganz reizendes, rundliches, molligs.

Daßelbe nannten sie Hannchen Kolligs. –

Und das kleine Hannchen ward ein großes Hannchen,

Und das stattliche Hannchen reizte wohl Manchen,

Bis einstmals kühn, wie sich's gebührt,

Es Einer genommen und heimgeführt. –

Da war sie nun eine brave Frau,

Die fleißig, pünktlich und genau

Und rücksichtsvoll von Jahr zu Jahr,

Bis zu sechs, vermehrte die Kinderschaar,

Damit die Menschen von diesem netten

Urbild doch auch Kopien hätten,

Wie denn Lätitia und Ferdinande

Zwei schöne Blumen in dieser Guirlande.

– Aber die Klügste, aber die Beste

Bleibt doch immer die Alte vom Neste!«


Oh! – rief ich entrüstet – du Schwätzerin!

Du schlimme Gefühlsverletzerin!

Du nennst sie die Alte? – Ich sag dir halt:

Herzensgüte wird niemals alt!

Und ferner vernimm, damit du's weißt,

Daß sie Johanna, nicht Hannchen, heißt! –


»Na! – sprach die Frau Staar – Dann meinetwegen!

Ade! Ich hab noch ein Ei zu legen!« –


Flink dreht' sie sich um und kroch in's Loch.

Da sitzt sie nun und druckst wohl noch.


Wilh. Busch.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 352.
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