1079. An Nanda Keßler

[75] 1079. An Nanda Keßler


Wiedensahl 2. Sept. 96.


Meine liebe Nanda!

Dem betagten Onkel, sonst anerkannt pünktlich im Epistelverkehr, ist diesmal doch eine Nachläßigkeit paßirt. Zuerst ließ ihn dein Brief vermuthen, daß du bald wieder in Frankfurt sein würdest; dann gleich, eh er zum Schreiben kam, machte er selber einen kleinen Ausflug, der nur einige Tage dauern sollte, allmählig aber mehr als 3 Wochen währte. So kam's, und so dank ich Dir erst jetzt für dein liebenswürdiges Gedenken, aus St. Moritz weit über die Berge daher, an den grüblerisch versimpelten Einsiedel auf plattem Lande. Doch bin ich getrost. Schöne Seelen in schönen Körpern, das weiß jedermann, verzeihen ja dergleichen Fehler mit milder Geläufigkeit. Dir und den Kindern ging's gut damals; hoffentlich seid ihr drei auch bislang wohlauf geblieben und habt euch gut unterhalten; zwei davon, nebst sonstigem Sport, mit dem regelmäßigen Betrieb der Wißenschaften, eine wohl ohne dies. Bald kommen die Ferien wieder. Wo geht's dann hinaus? An die vielgeliebten wonnigen Ufer eines südlicheren Meeres? Das schreib mir doch mal. Ich wünsche euch paßendes Wetter dazu und nehme an, daß ihr euerseits auch mir, der ich derweil daheim im engsten Bezirke verweile, ein bißel dauernden Sonnenschein auf den wärmebedürftigen Buckel wünschen und gönnen werdet. Letzther während meines Aufenthaltes in Hunteburg hat's tagtäglich geregnet; einmal zudem war's abends so kühl, daß wir gefälligst einheizen thäten. Übrigens fand ich mich im Haus gar wohl unterhalten, besonders bei der Beobachtung des kleinen Martin, eines hübschen drolligen Menschenkindes.

Herzliche Grüße, liebe Nanda, an dich und die Kinder und die Mama und die Letty und die Onkels von

deinem alten

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 75.
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