[325] Erzählt andere sehr wunderbare Begebenheiten, die sich in der Schenke zutrugen.
Indem rief der Wirt, der in der Tür der Schenke stand: »Da kömmt ein schöner Trupp von Gästen gezogen, wenn die hier einkehren wollen, so können wir gaudeamus rufen!«
»Was sind es für Leute?« fragte Cardenio.
»Vier Männer«, antwortete der Wirt, »reiten zu Pferde und mit kurzen Bügeln, sie führen Lanze und Schild, und alle haben schwarze Masken vor; mit ihnen kömmt ein Frauenzimmer, weiß gekleidet, die auf einem Damensattel sitzt, auch ihr Gesicht ist verhüllt, und dann folgen noch zwei Burschen zu Fuß.«
»Sind sie schon nahe?« fragte der Pfarrer.
»So nahe«, antwortete der Wirt, »daß sie schon da sind.«
Als Dorothea das hörte, bedeckte sie ihr Gesicht, und Cardenio ging in Don Quixotes Gemach; sie hatten dies kaum getan, als alle diejenigen in die Schenke hereintraten, die der Wirt beschrieben hatte; die vier Ritter, die ein sehr feines Ansehen hatten, stiegen ab und hoben dann die Dame vom Sattel herunter; einer von ihnen empfing sie in den Armen und führte sie zu einem Sessel, der vor dem Gemache stand, in das sich Cardenio zurückgezogen hatte. In dieser ganzen Zeit nahm keiner von ihnen allen die Maske ab, auch sprach keiner ein Wort; nur die Dame, die sich in den Sessel gesetzt hatte, stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ die Arme niedersinken, wie jemand, der sich krank und ohnmächtig fühlt.[326] Die Burschen, die zu Fuß folgten, brachten indes die Pferde in den Stall. Der Pfarrer, der dies sah und gern wissen wollte, wer die Leute wären, die in diesem Aufzuge und so stillschweigend reisten, ging den Burschen nach und befragte den einen um das, was er gern erfahren hätte, der ihm folgende Antwort gab: »Mein' Seel', Herr, ich kann Euch nicht sagen, wer die Leute sind, nur das weiß ich wohl, daß sie vornehm sind, besonders der eine, der die Dame, wie Ihr gesehen habt, in die Arme nahm; ich glaube es deshalb, weil ihm die andern große Achtung erweisen und auch alles nach seinen Befehlen geschieht.«
»Und wer ist denn die Dame?« fragte der Pfarrer.
»Das kann ich ebensowenig sagen«, antwortete der Bursche, »denn ich habe noch auf der ganzen Reise ihr Gesicht nicht gesehen; nur höre ich sie oft seufzen und so ächzen, als wenn sie mit jedem Seufzer den Geist aufgeben wollte; es ist auch kein Wunder, daß wir so gar nichts von ihnen wissen, denn mein Kamerad und ich, wir sind nur erst seit zwei Tagen in ihrer Gesellschaft, wir sind ihnen unterweges begegnet, und sie haben uns zugeredet, mit ihnen bis nach Andalusien zu gehen, wofür sie uns gut bezahlen wollen.«
»Und habt Ihr den Namen von keinem unter ihnen gehört?« fragte der Pfarrer.
»Durchaus nicht«, antwortete der Bursche, »denn sie reisen alle in solcher Stille, daß es zum Erstaunen ist, denn man hört keinen andern Laut als das Seufzen und Schluchzen der armen Dame, das uns zum Mitleiden bewegt; ich glaube auch, daß sie nur mit Zwang dahin geht, wohin sie soll, und soviel ich aus ihrem Anzuge schließen kann, ist sie eine Nonne oder soll es noch werden, was mir wahrscheinlicher vorkömmt; und vielleicht entsteht ihre Traurigkeit eben daher, weil ihr das Nonnenwerden nicht sonderlich ansteht.«
»Das ist alles wohl möglich«, sagte der Pfarrer und verließ sie, indem er sich wieder dahin verfügte, wo sich Dorothea befand. Diese, die auch das Seufzen der Verschleierten gehört hatte, von natürlichem Mitleiden angetrieben, ging zu ihr und fragte sie: »Was ist Euch, Señora, fehlt Euch etwas, worin Euch die Erfahrung eines Weibes behülflich sein kann, so biete ich hiermit meinen besten Willen zu Euren Diensten an.«
Die betrübte Dame antwortete hierauf nicht, und obgleich Dorothea noch größere Höflichkeiten hinzufügte, so brach sie doch nicht ihr Schweigen, bis sich jener maskierte Ritter nahte, von dem der Bursche erzählt hatte, daß ihm die übrigen gehorchten, und zu Dorothea sagte: »Bemüht Euch nicht damit, meine Dame, diesem Frauenzimmer irgend Artigkeiten zu erweisen, denn es ist ihre Gewohnheit, Freundschaft mit Unerkenntlichkeit zu vergelten, bewegt sie auch nicht zu antworten, wenn Ihr nicht eine Lüge aus ihrem Munde hören wollt.«
»Nie hab ich eine gesprochen«, rief sogleich die, die bisher geschwiegen hatte, »sondern vielmehr weil ich zu aufrichtig und ohne lügenhafte List lebe, befinde ich mich in meinem gegenwärtigen Unglück, und das müßt Ihr selbst bezeugen, denn meine reine Wahrhaftigkeit hat Euch falsch und zum Lügner gemacht.«
Cardenio hörte diese Worte deutlich und vernehmlich, weil er sich der Sprechenden ganz nahe befand, denn nur durch die Tür von Don Quixotes Gemach war er von ihr gesondert, und sowie er sie hörte, rief er mit überlauter Stimme: »Heiliger Gott! Was hör ich? Welche Stimme dringt in meine Ohren?«
Auf dieses Geschrei drehte sich die Dame mit Entsetzen um, und da sie niemanden sah, stand sie auf, um in das Gemach hineinzugehen; kaum aber hatte der Ritter dies bemerkt, als er sie zurückhielt, daß sie sich nicht von der Stelle bewegen konnte. Sie, verwirrt und erschrocken, wie sie war, ließ den seidenen Schleier fallen, der ihr Gesicht bedeckte, und entdeckte dadurch eine unvergleichliche Schönheit und ein wunderwürdiges Antlitz, obgleich blaß und mit verzückten Mienen, denn sie rollte in der schnellsten Bewegung ihre Augen nach allen Seiten umher, daß man sie für eine Wahnsinnige halten mußte,[327] wodurch Dorothea sowie die übrigen, die zugegen waren, innig gerührt wurden. Mit aller Kraft hielt sie der Ritter bei den Schultern zurück, und da er so beschäftigt war, konnte er seine Maske nicht halten, die herabzufallen drohte und die nun auch wirklich auf die Erde fiel; und indem Dorothea, die die Dame umfaßt hielt, die Augen aufschlug, sah sie, daß der Ritter, der sie ebenfalls umfaßte, ihr Gemahl Don Fernando war, und kaum hatte sie ihn erkannt, so stieß sie aus ihrer innersten Brust ein langes und herzdurchdringendes Ach! und fiel hinterrücks ohnmächtig nieder, so daß sie auf den Boden gestürzt wäre, wenn der Barbier, der daneben stand, sie nicht in seinen Armen aufgefaßt hätte.
Der Pfarrer lief sogleich hinzu und nahm ihr die Maske ab, um ihr Wasser in das Gesicht zu spritzen, und in demselben Augenblicke erkannte sie auch Don Fernando, der die andere Dame in seinen Armen hielt, und wäre fast gestorben, als er sie sah, doch ließ er deswegen Luzinden nicht los, die sich aus seinen Armen zu wickeln strebte, denn sie hatte Cardenio an der Stimme, wie er sie, erkannt. Zugleich vernahm Cardenio den Ausruf, den Dorothea ausstieß, als sie ohnmächtig niedersank, und glaubte, daß es seine Luzinde sei; er brach also mit Entsetzen aus dem Gemach, und das erste, was er erblickte, war Don Fernando, der Luzinden in den Armen hielt. Auch Don Fernando erkannte sogleich Cardenio, und alle drei, Luzinde, Cardenio und Dorothea, standen stumm und erstaunt, als wenn sie sich nicht besinnen könnten, was ihnen begegnet sei. Alle schwiegen, und alle schauten sich an, Dorothea den Don Fernando, Don Fernando den Cardenio, Cardenio Luzinden und Luzinde den Cardenio; wer aber zuerst das Schweigen brach, war Luzinde, die so zu Don Fernando redete: »Laßt mich los, Don Fernando, um dessentwillen, was Ihr Euch selber schuldig seid, wenn Ihr es auch aus keiner andern Rücksicht tun wollt, daß ich mich um die Mauer schlinge, deren Efeu ich bin und von der mich sowenig Eure Bewerbung wie Drohungen, Versprechungen und Geschenke losreißen konnten; seht, wie mich der Himmel auf wunderbaren und unbekannten Wegen zu meinem wahren Gemahl geführt hat; und Ihr wißt ja durch tausend teure Erfahrungen, daß nur der Tod allein imstande ist, ihn aus meinem Gedächtnisse zu vertilgen; dies wiederhole ich jetzt noch einmal, damit Ihr – wenn Ihr nicht anders könnt – Eure Liebe in Wut, Eure Zuneigung in Haß verwandelt und mir so das Leben nehmt, das ich doch nicht für verloren achte, wenn ich es hier vor meinem teuren Gemahl aufopfre; dann überzeugt ihn wohl mein Tod von der Treue, die ich ihm bis zum letzten Atemzuge meines Lebens bewahrt habe.«
Dorothea war indessen zu sich gekommen und hatte alles gehört, was Luzinde sagte; daraus erfuhr sie, wer sie sei, und da sie sah, daß Don Fernando sie immer noch nicht aus seinen Armen ließ, ihr auch nicht antwortete, nahm sie alle ihre Kraft zusammen, stand auf und kniete vor seinen Füßen nieder, und unter Vergießung vieler schönen und rührenden Tränen fing sie also an zu reden: »Wenn nicht, mein Gebieter, die Strahlen der Sonne, die du verdunkelt in deinen Armen hältst, deinen Augen alles Licht geraubt haben, so hast du schon gesehen, daß diejenige, die jetzt zu deinen Füßen kniet, die unglückliche Dorothea ist, die elend bleiben wird, solange du es beschließest. Ich bin jenes demütige Landmädchen, die du durch deine Güte oder Liebe so hoch emporheben wolltest, daß sie sich die Deinige nennen dürfte; ich bin die, die von den Grenzen der Sittsamkeit beschränkt, ein zufriedenes Leben lebte, bis sie auf deine ungestüme Bitten und auf deine ernsthaft scheinende Liebe die Tore ihrer Einsamkeit öffnete und dir die Schlüssel ihrer Freiheit übergab: ein Geschenk, das du schlecht erkanntest, wie man deutlich sehen kann, da ich gezwungen bin, daß du mich hier findest, wo du mich fandest, daß ich dich so wiedersehe, wie ich dich wiedersehe, aber darum muß der Gedanke nicht in deine Seele kommen, daß mich meine Unehre hierher geführt, nein, nur der Schmerz, mich von dir vergessen zu sehen, hat mich so weit gebracht. Du wolltest, ich sollte die Deinige sein, und wolltest es so, daß, wenn du es nun auch nicht mehr willst, du dennoch immer der Meinige bleiben mußt; erwäge, mein Geliebter, daß[328] für die Schönheit und den Adel, um derentwillen du mich verlässest, meine innigste Liebe dir ein Ersatz ist; du kannst der schönen Luzinde nicht angehören, denn du bist mein, sie kann nicht dein werden, denn sie gehört dem Cardenio; wie viel ist es also leichter, deine Zuneigung zu der zurückzuführen, die dir mit Liebe entgegenkommt, als diejenige, die dich haßt, so umzuwandeln, daß sie dich lieben könnte. Ich lebte eingezogen und du warbest um mich, du flehtest mich an, die ich tugendhaft war, dir war nicht unbekannt, wer ich sei, du weißt wohl, auf welche Weise ich mich gänzlich deinem Willen ergab, so daß dir keine Ausrede irgendeines Irrtumes übrigbleibt; wenn dem nun so ist, wie du nicht leugnen kannst, und du ebenso Christ wie Ritter bist, warum zögerst du nun auf so weiten Umwegen, mich am Schluß so glücklich zu machen, wie du es im Beginnen tatest? Willst du mich aber nicht zu dem machen, was ich bin, nämlich deine wahrhaftige und rechtmäßige Gemahlin, so nimm mich wenigstens zu deiner Sklavin an, denn wenn ich dir nur angehöre, bin ich zufrieden und beglückt; nicht dulde es, daß ich so verlassen und einsam sei, daß, mich zu entehren, Spott und Hohn über mich ausgeschüttet werde; du darfst meinen Eltern kein so unglückseliges Alter zubereiten, denn das verdient die Treue nicht, die sie dir immer als wackere Untertanen gezeigt haben; meinst du aber, daß du dein Blut durch die Verbindung mit mir entehrst, so bedenke, daß es vielleicht keinen Adel in der Welt gibt, der unvermischt geblieben, auch daß die Frauen keiner adeligen Familie Unehre bringen können, um so mehr, da der wahre Adel in der Tugend besteht, und wenn diese dir fehlt, indem du mir das versagst, was mir mit allem Rechte gebührt, so fühle ich mich edler, als du es jemals werden kannst. Alles, was ich dir, Señor, sagen kann, ist, daß ich deine Gemahlin bin, du magst es wollen oder nicht, dies bezeugt dein Wort, das nicht falsch sein kann noch darf, wenn du nämlich jene Hoheit an dir schätzest, deren Mangel du an mir geringschätzest; der Schwur bezeugt es, den du mir gabst, der Himmel, den du zum Zeugen deiner Versprechungen anriefst; am meisten aber dein eigenes Bewußtsein, welches dich in jedem Vergnügen anreden und dir die Wahrheiten wiederholen wird, die ich gesagt habe, und dich so in jeder Freude, in jedweder Entzückung stören.«
Die gerührte Dorothea sagte dies und noch mehr mit solcher Empfindung und unter Vergießung so häufiger Tränen, daß selbst die Gefährten des Don Fernando sowie alle, die zugegen waren, auf das innigste bewegt wurden. Don Fernando hörte sie an, ohne ein Wort zu sagen, bis sie endlich schluchzend und mit herzlichen Seufzern ihre Rede beschloß, daß es ein ehernes Herz hätte sein müssen, das nicht von diesen heftigen Äußerungen des Schmerzes erschüttert wäre. Luzinde stand und betrachtete sie, von ihrem Unglück gerührt und über ihre Schönheit wie über ihren Verstand verwundert; sie wollte endlich zu ihr gehen, um ihr einige tröstende Worte zu sagen, aber Don Fernando ließ sie nicht, sondern hielt sie immer noch in seinen Armen eingeschlossen. Er, voller Verwirrung und Erstaunen, nachdem er lange Dorothea mit großer Aufmerksamkeit beschaut hatte, öffnete die Arme, ließ Luzinden fahren und rief: »Du hast gesiegt, schöne Dorothea, du hast gesiegt, denn kein Herz kann sich so vielen vereinigten Wahrheiten verschließen!« Die erschöpfte Luzinde, als sie von Don Fernandos Armen frei war, war im Begriff zu Boden zu fallen, aber Cardenio, der sich hinter Don Fernando gestellt hatte, damit jener ihn nicht kennen sollte, ließ nun alle Furcht fahren, indem er sich auf alles gefaßt machte, er nahm Luzinden in seine Arme und sprach: »Will dich der heilige Himmel von deinem Unglück erlösen, du meine rechtmäßige Gattin, du meine getreue und schöne Gebieterin, so sollst du nirgend so sicher ruhen als in diesen Armen, die dich jetzt aufnehmen, wie sie dich dann aufnehmen werden, wenn es das Glück mir vergönnt, dich völlig die Meinige zu nennen.«
Bei diesen Worten warf Luzinde ihre Augen auf Cardenio, und wie sie ihn erst an der Stimme erkannt hatte, so erkannte sie ihn jetzt völlig an seiner Gestalt, und ohne alle weitere Rücksicht schlug sie[329] nun die Arme um Cardenio, küßte ihn auf den Mund und rief: »Ja, Ihr seid mein Gebieter, der rechtmäßige Herr Euerer Dienerin, wenn sich das Schicksal auch noch härter widersetzen und diesem Leben, das an dem Eurigen hängt, noch grimmiger drohen sollte!«
Dieses war ein überraschendes Schauspiel für Don Fernando sowie für alle Gegenwärtigen, die sich über diese plötzliche Erkennung verwunderten. Dorothea bemerkte, wie Don Fernando die Farbe verlor und Miene machte, Cardenio anzufallen, denn er griff mit der Hand nach dem Degen, indem aber warf sie sich schon in der größten Schnelligkeit nieder und umfaßte seine Knie, die sie drückte und küßte, so daß er sich nicht regen konnte, und sagte unter tausend Tränen: »Was willst du bei diesem plötzlichen Vorfall, o du mein einziges Glück, unternehmen? Zu deinen Füßen liegt deine Gattin, und diejenige, die du erwählen willst, ist in den Armen ihres Gemahls; du kannst es nicht wollen, ja es ist dir unmöglich, das zu trennen, was der Himmel verbunden hat; wie kannst du diejenige zur Deinigen machen wollen, die, jedes Übel verschmähend, die Wahrheit ihrer Aussage bekräftigt und vor deinen Augen dasteht, Augen und Wangen naß von den Freudentränen ihres wahrhaftigen Gemahls? Um Gottes willen, um deinetwillen flehe ich dich an, laß dies nicht deinen Zorn in dir entflammen, sondern dulde vielmehr friedlich, daß diese beiden Liebenden sich so lange besitzen, als es ihnen der Himmel gönnt, und zeige hierin die Großmut deines hohen Herzens, damit die Welt gewahr werde, daß die Vernunft über dich mehr als die Leidenschaft vermöge.«
Indem Dorothea dieses sprach, verließ Cardenio, ob er gleich Luzinden umarmt hielt, den Don Fernando nicht mit den Augen, entschlossen, sobald er nur eine verdächtige Bewegung merkte, sich nach allen seinen Kräften zu verteidigen, falls ihm auch alle entgegen wären und wenn er selbst das Leben darüber verlöre. Aber die Freunde des Don Fernando kamen herbei, nebst dem Pfarrer und Barbier, die immer zugegen gewesen waren, selbst ohne Ausnahme des wackern Mannes Sancho Pansa, und alle umgaben den Don Fernando und baten ihn, auf Dorotheas Tränen zu achten und sie nicht in ihren gerechten Hoffnungen zu täuschen, wenn anders das wahr sei, was sie gesprochen habe, wie sie doch nicht zweifeln könnten; er möchte erwägen, daß es gewiß nicht Zufall, sondern eine besondere Schickung des Himmels sei, daß sie sich alle an einem Orte getroffen hätten, wo sie es am wenigsten vermuten konnten. Der Pfarrer fügte hinzu, daß er glauben möchte, Cardenio und Luzinde könnten nur durch den Tod geschieden werden, ja wenn sie selbst die Schneide des Schwertes trennte, so würden sie ihren Tod doch glücklich preisen; in Dingen, die sich nicht ändern ließen, sei es die größte Weisheit, sich selbst zu besiegen und ein edles Gemüt zu zeigen, daher solle er durch seinen freien Willen das Glück von beiden bestätigen, welches ihnen der Himmel schon gegönnt habe; zugleich möchte er die Augen auf die Schönheit der Dorothea wenden, mit der sich wenige oder wohl keine vergleichen dürften, viel weniger sie überträfen, mit ihrer Schönheit solle er ihre Demut und die zärtliche Liebe zu ihm erwägen; vorzüglich aber, daß er sich rühme, Ritter und Christ zu sein, und wie er deshalb sein gegebenes Wort erfüllen müsse, und wenn er es erfülle, habe er seine Pflicht gegen Gott erfüllt wie den Beifall aller edlen Menschen gewonnen, die es wohl einsehen, daß Schönheit auch im niedrigen Stande, wenn sie die Tugend zur Gefährtin hat, sich allerdings erheben dürfe und sich der Hoheit gleichstellen, ohne daß derjenige darunter litte, der sich erhebe und sich selber gleichmachte; und darüber, daß einer den heftigen Forderungen der Leidenschaft gehorche, wenn es keine Sünde sei, dürfe niemand getadelt werden.
Zu diesen Gründen fügten die übrigen noch andre und so dringende hinzu, daß die starke Brust des Don Fernando, mit edlem Blute erfüllt, endlich erweicht ward und sich von der Wahrheit besiegen ließ, die er nicht leugnen konnte, wenn er auch gewollt hätte. Zum Zeichen seiner Nachgebung umarmte er Dorothea und sagte: »Steht auf, meine Gebieterin, denn es ziemt sich nicht, daß die zu meinen Füßen[330] kniee, die ich in meiner Seele trage, wenn ich mich aber bis jetzt anders gezeigt habe, so geschah es vielleicht nach dem Willen des Himmels, damit ich sehen sollte, mit welcher Treue Ihr mich liebt, und ich Euch so schätzen mußte, wie Ihr es verdient; jetzt bitte ich Euch, mir mein bisheriges übles Betragen nicht zum Vorwurf zu machen, denn dieselbe Gewalt, die mich jetzt zwingt, Euch als die Meinige zu erkennen, hat mich bis hierher zurückgehalten, nicht der Eurige zu sein, und daß dieser Ausspruch Wahrheit sei, so betrachtet nur die Augen der vergnügten Luzinde, und Ihr werdet in ihnen die Entschuldigung aller meiner Fehler finden; da sie nun gefunden hat, was sie von Herzen wünschte, so wie ich Euch, mein höchstes Glück, gefunden habe, so mag sie auch sicher und vergnügt viele Jahre mit ihrem Cardenio leben, so lange, wie ich den Himmel auf meinen Knien bitten will, daß er mich an der Seite meiner Dorothea leben lasse.« Nach diesen Worten umarmte er sie von neuem und küßte sie mit so inniger Zärtlichkeit, daß er mit Gewalt die Tränen zurückhalten mußte, die beinah aus seinen Augen brachen, um seine Liebe und Reue unbezweifelt zu bezeugen. Cardenio und Luzinde aber taten sich diese Gewalt nicht an, ebensowenig die übrigen, die zugegen waren, sondern alle fingen an so zu weinen, jene über ihr Glück, diese vor Freuden darüber, daß es nicht anders schien, als ein großes Leid habe sie alle plötzlich betroffen; selbst Sancho Pansa weinte, ob er gleich nachher gestanden, daß er es nur darum getan habe, weil Dorothea nicht, wie er geglaubt, Königin des Mikomikonischen Reiches sei, von der er so große Belohnungen erwartet hatte.
Das Weinen und die Verwunderung währte bei allen einige Zeit, dann warfen sich Cardenio und Luzinde zu den Füßen Don Fernandos nieder und dankten ihm in so edlen Ausdrücken für seine Güte, daß Don Fernando nicht antworten konnte, sondern sie aufhob und mit der größten Liebe und Artigkeit umarmte. Dann fragte er sogleich Dorotheen, wie sie an diesen Ort gekommen, der von ihrer Heimat so entfernt sei. Sie erzählte ihm in verständiger Kürze alles, was sie erst dem Cardenio erzählt hatte, wodurch Don Fernando und alle, die mit ihm gekommen waren, so bezaubert wurden, daß sie wünschten, die Erzählung hätte länger gedauert, mit so großer Anmut wußte Dorothea ihre Unfälle vorzutragen. Als sie geendet hatte, trug Don Fernando das vor, was sich in der Stadt zugetragen hatte, nachdem er in Luzindens Busen jenes Blatt gefunden, wodurch sie erklärte, daß sie Cardenios Gemahlin sei und die seinige nicht werden könne; er habe sie umbringen wollen, erzählte er, und hätte es auch getan, wenn ihn ihre Eltern nicht zurückgehalten hätten, so habe er erzürnt und wütend das Haus verlassen, mit dem festen Vorsatze, sich zu rächen; am folgenden Tage habe er erfahren, wie Luzinde in dem Hause ihrer Eltern vermißt werde, ohne daß einer zu sagen gewußt, wohin sie gekommen sei, nach dem Verlauf von einigen Monaten aber habe er die Nachricht erhalten, daß sie sich in einem Kloster befinde, entschlossen, dort zeitlebens zu bleiben, wenn sie nicht mit Cardenio leben könne; sowie er dies erfahren, habe er sich mit jenen drei Rittern aufgemacht und sich nach ihrem Aufenthalte begeben, er habe sie aber nicht zu sprechen gesucht, um nicht größere Achtsamkeit im Kloster zu erregen, wenn man gewußt, daß er sich dort befinde; er habe hierauf einen Tag wahrgenommen, als das Tor offengestanden, zwei hätten die Tür bewachen müssen, und er habe dann mit dem dritten Gehülfen Luzinden im Kloster gesucht, sie im Kreuzgange im Gespräch mit einer Nonne gefunden und sie augenblicklich fortgeführt, bis sie an einen Ort gekommen, wo sie Anstalten haben machen können, sie auf eine bessere Art fortzubringen; dies alles hätten sie mit völliger Sicherheit ausführen können, denn das Kloster sei mitten im Felde und fern vom Dorfe gelegen. Sowie sich Luzinde in seiner Gewalt sah, verlor sie ihr Bewußtsein, und als sie wieder zu sich kam, tat sie nichts als weinen und schluchzen, ohne ein einziges Wort zu sprechen; so schweigend und weinend hatten sie sie bis zu dieser Schenke begleitet, in der sie den Himmel erreicht zu haben meinte, weil hier alles Unglück der Erde seine Endschaft gefunden.
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