[297] Hegst im Herzen du die Stunden
Unsrer Kindheit noch, die Träume,
All mein Lieben, all mein Hoffen?
Siehst du wandeln uns verbunden
Durch des Paradieses Räume,
Und die Zukunft vor uns offen,
Sternbeglänzt und ungemessen,
Wie des Äthers reines Blau?
Nein, Sie haben das vergessen,
Gnäd'ge Frau.
Ja vergessen! und es sollen
Die französisch wohlgestellten
Worte für Erinnrung gelten!
Mitleid also und Erbarmen
Schenken gnädig Sie dem Armen,
Dessen Tränen Sie entrollen
Sehen, ohne nur zu wissen,
Welch ein Dämon ihn betört.
O du hast mein Herz zerrissen
Unerhört!
Hab in altem Buch gelesen
Eine wundersame Sage,
Wer der ew'ge Jud gewesen.
Nicht kann Ahasverus sterben,
Sterben nicht, noch Ruh erwerben,
Bis der Herr am jüngsten Tage
Ruft die Toten aus dem Grabe,
Und auch er vernimmt das Wort;[297]
Und er wankt am Wanderstabe
Fort und fort.
Fürder durch der Erde Weiten
Rastlos, müden Fußes wallt er,
Läßt die Weltgeschichte fluten.
Menschenalter ihm Minuten,
Und Minuten Menschenalter,
Stehen still vor ihm die Zeiten,
Bleibt in ihm sein Herz, das alte,
Drin der alte Schmerz gebannt,
Lastend über ihm die kalte
Schicksalshand.
Aber stets nach hundert Jahren
Treibt's nach Salem ihn zu wandern,
Von der Heimat zu erfahren.
Römer, Sarazenen, Franken
Wechselten, verdrängt von andern,
Tempel und Altäre sanken,
Mauern und Paläste brachen,
Flüsse wandten ihren Lauf,
Neue Götter, neue Sprachen
Steigen auf.
Düster sinnt der Fremdgewordne
Über unbekannten Trümmern,
Daß im Geist er's wieder ordne;
Und er fragt, und fragt vergebens,
Keiner will um ihn sich kümmern,
Auf dem Grabe seines Lebens
Steht versteint der Sohn der Schmerzen,
Über ihn hin braust der Sturm,
Und in seinem alten Herzen
Nagt der Wurm.
Ich bin Ahasverus, sag ich!
Sieh darauf mich an verwundert,
Salem du, wovor mir grauet.
Irrens müd, das Haar ergrauet,
Wank ich heim nach aber hundert
Jahren und vergebens frag ich,[298]
Ruf ich – in den öden Mauern
Weck ich keinen Widerhall; –
Sieh Versteinten mich betrauern
Salems Fall.
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