Der verlorene Sohn

[207] Mein Mütterlein, zu dieser Stund',

Zu dieser Stund' in tiefer Nacht

Bist du aus leisem, kurzem Schlaf

Wohl jählings, jählings aufgewacht![207]

Du fährst empor und starrst und horchst;

Und eine bange Ahnung schwirrt

Dir durch die angstumschnürte Brust:

Daß ruhelos dein Kind noch irrt ...


Noch irrt auf fernem, fremden Pfad,

Noch irrt in später, schwarzer Nacht –

Du aber weißt nicht seine Spur,

Weißt nicht, was es so ruhlos macht ...

Weißt nur, daß es aus dieser Not

Die Mutterliebe einzig risse,

Und möchtest wohl es suchen gehn

Durch schwarze, schwarze Finsternisse ...


Mein Mütterlein, dein armes Kind,

Es sucht dich nicht in seinen Aengsten,

Es taumelt durch die Nebelnacht,

Geschleift von seines Dämons Hengsten.

Hei! Wie es brennt in seiner Brust!

Wie schnürt's die Kehle ihm zusammen!

O Mutter, deine milde Hand

Beschwor mir nicht die Wahnsinnsflammen.


Mein Mütterlein, laß ab, laß ab!

Das du in Schmerzen einst geboren,

Dein Kind, du hast es einmal doch

An diesem Tage – ach, verloren!

Es fragt nichts mehr nach deiner Lust –

Es fragt nichts mehr nach deinem Kummer,

An seiner Leidenschaft Brust

Erwürgt es deiner Nächte Schlummer ...
[208]

Mein Mütterlein, wenn's dich verzehrt,

Daß du dein Kind hast lassen müssen,

Dann ruh dich auf der Bahre aus

Von deines Lebens Kümmernissen ...

Dann schließ die müden Augen zu,

Die oft um mich in Tränen lagen –

Dann laß zur allerletzten Ruh'

Dich heimlich auf den Kirchhof tragen ...


Vielleicht bin ich des Wanderns müd,

Und ist die Unrast all' verlodert –

Vielleicht, daß dann mein Schicksal mich

Dort rasten läßt, wo du vermodert ...

Dann sind wir beide ganz allein,

Und unsre Liebe darf nicht säumen – –

Dann will ich meines Lebens Traum

Mit dir noch einmal still durchträumen.


Dann will ich alles dir gestehn –

Wie Schuld auf Schuld sich lud, dir sagen –

Dann will ich mit dir heimwärts gehn

Zu meines Lebens ersten Tagen ...

Mein totes Mütterlein, dann gibt

Es nichts, was dir verborgen bliebe –

Dann weißt du, wie ich dich geliebt

Und doch verraten deine Liebe!


Dann weißt du, wie es plötzlich mich

Mit heißem Atem angepfiffen –

Wie es in meine Seele schlug,

Das Feuer, dampfend, unbegriffen –[209]

Wie es versengend mich gepackt,

Mich weggespült von deinem Herzen:

Ich schoß, ein Glutenkatarakt,

Ins Tal der Wonnen und der Schmerzen.


Mein Leben troff von Duft einmal –

Vom Duft der Rosen und Narzissen ...

Mein Denken war ein Morgenstrahl,

Entbrochen schwarzen Finsternissen –

Ich lebte! O mein Mütterlein –

Und riß, umsprüht von Freudenfunken,

Die Sphären an mein Bruderherz,

Von Weltenmelodien trunken ...


An ihrem Leib bin ich zerschellt,

Und all mein Denken ist verpestet – –

So irr' ich ruhlos durch die Welt,

Ein Narr, verzweiflungsqualgemästet ...

Nicht grünt mein müder Wanderstab

Ein zweites Mal zur Sündensühne –

Kein Gott nimmt meine Reue ab

Und hebt von mir der Schuld Lawine.


Aus weißem Kelch den gelben Wein

Goß ich ins rote Blut der Wunden – –

Nur einmal wollt' ich stille sein,

Nur einmal von der Schmach gesunden!

Die aber preßt mich fest und läßt

Mich nicht aus ihren erznen Krallen –

Von Blut und Kot und Schweiß genäßt,

Schleif' ich durchs Leben, fluchverfallen ... –
[210]

Ja, Mutter, stirb! Und bist du tot,

Dann wollen wir, ein seltsam Pärchen,

Vom Abend- bis zum Morgenrot

Eins plaudern von dem tollen Märchen,

Dem mich das Schicksal auserwählt,

Mich brav – recht brav drin auszuleben –

Und hab' ich's dir dann auserzählt,

Hast du auch schweigend mir vergeben ...


Dann reck' ich hoch mein Haupt empor –

Und bei des Tages ersten Grüßen

Schmeiß' ich den eklen Erdenstaub

Von meinen wandermüden Füßen ...

Es fliegt der Filz ins feuchte Gras,

Ich rüste mich zum letzten Traume –

Zerbreche meinen Knotenstock

Und häng' mich auf am nächsten Baume ... –


Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 207-211.
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