Erste Sonne

[219] Wie gerne lass' ich von der ersten Sonne

Mich bescheinen! – Wenn der Januar

Mit seiner Atemzüge Eishauch wich –

Wenn in der Monde Schnur die zweite Perle

Sich übertropfen läßt von Goldreflexen –

Der Winternebel Vorhang in zwei Stücke[219]

Geborsten ist ... und ihrer Gnaden Truhe

Nach träumerischer Rast die Sonne leert –

Den ganzen Köcher ihrer funkelnden Pfeile:

Wie gerne lass' ich mich von dieser Sonne,

Von dieser Sonne sanft verkühltem Licht

Bescheinen! Leise kommt auf leichten Sohlen

Ein Sinnen über mich ... ein dunkles Suchen –

Und doch, wie so klar und wunschlos still ...

All' Winterunrast hab' ich abgetan –

Als schritte ich auf Wolken, treib' ich hin ...

Die Augen halb geschlossen ... seltsam müde –

Und an den Sonnenstrahl, der mich berührt ...

Leise, ganz leise meine Wange streift,

Möcht' ich mich lehnen ... und in seiner Goldspur

Verdämmern lassen meiner Seele Leben ...


Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 219-220.
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