V.

[37] Es war also heute Samstag Abend um die achte Stunde. Adam Mensch hatte sich natürlich ein Paar neuer Glacés erstanden, die er mit großem Behagen, mit großer Selbstgefälligkeit über seine weißen Hände zog, als er die Treppe hinunterschritt, um gen Quöck-Heim zu wallfahrten. Der Herr Doctor trug leidenschaftlich gern Glacéhandschuhe. –

Es gab viel Unrast und Bewegung in den Lüften. Die Zeit lief wieder einmal dem Kalenderfrühling in die Arme – und dabei war einiger Windrumor, verschiedentliches Stürmen und Blasen und Pfeifen unumgänglich nothwendig. Aber die Temperatur war noch kaum angelenzt. Der Wind kalt, schneidend, stechend, als wirbelte er kleine, spitze Eiskristalle durch die Luft. Es hatte am Nachmittage geregnet, und große Pfützen standen auf den Straßen. Das Pflaster hatte ein sehr schmieriges, breiiges, klebriges Gesicht aufgesteckt. Die Gasflammen zuckten nervös in ihren Glaskäfigen hin und her und spiegelten sich unruhig in den Pfützen wieder. Am Himmel war schläfrigdämmernde[38] Mondhelle. Die Wolken zogen in großen, unförmigen Schwämmen und Schwärmen hin. Ab und zu ließ sich die eine oder andere herbei, den Mond gleichsam zu verschlingen. Und gleichsam von ihrem Magen her floß ein weißgelbes Feuer in alle ihre Glieder und durchleuchtete sie blendend von innen heraus.

Adam sagte sich, daß dieser Aufruhr in der Natur ein köstliches Frühlingssymbol sei. Und doch dünkte ihn dieser stechende Stecknadelwind impertinent. Er klappte den Kragen in die Höhe und schob die frierenden Hände resignirt in die Rocktaschen. Ja! Es gehörte ein sehr biegsamer und an's Pariren gewöhnter »Wille« dazu, um an dieses Frühlingssymbol glauben zu können.

Adam schlug den Rockkragen wieder nieder und drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel. Das Gaslicht lag dick auf dem gelben, funkelnden Metallschild, das den Namen »Traugott Quöck« eingravirt trug.

Ein Diener öffnete. Er complimentirte den Ankömmling in den Vorsaal hinein und war ihm beim Ablegen des Ueberziehers behülflich. Dann stieß er die Thür zum Salon auf.

Adam trat ein. Herr Quöck schnellte von einem Fauteuil auf und eilte seinem Gaste entgegen.

»Willkommen, Herr Doctor –«

»Guten Abend, Herr Quöck –«

»Darf ich Ihnen meine – ich sagte ja Ihnen gestern schon – Sie werden sich erinnern – also meine Cousine – Frau Lydia Lange – vorstellen –?«[39]

Herr Quöck deutete auf eine Dame, die im Hintergrunde des Zimmers an einem kleinen Ecktische stand und sich soeben umwandte. Ein aufgeschlagenes Album wurde jetzt sichtbar.

»Herr Doctor Mensch –«

Adam verneigte sich sehr ceremoniell. Die Dame nickte kurz.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Doctor? –«

»Wenn Sie gestatten –«

Adam warf sich in einen Fauteuil. Er knöpfte seine Glacé's auf und sah zu der Frau hinüber, die näher getreten war und jetzt am Sophatisch stand.

Hm! Frau Lange besaß allerdings Etwas, das – gewiß! das »eigenthümlich« war, das interessiren, das unter Umständen sogar – hm! – sogar –

»Na! nur nicht gleich so hitzig!« bremste Adam seine schmunzelnde Zufriedenheit fest ... und gestand sich nun eine volle, die durchschnittliche Mittelgröße ein Wenig überragende Gestalt; einen, wie die Dame so dastand, durch kleine, runde, gelenke Bewegungen mit den Armen, mit dem Kopfe, Elasticität und Geschmeidigkeit verrathenden Körperbau; eine prachtvoll durch das Corset zu eleganter Wölbung herausgecurvte Brust; volle, warme Arme, die durch das glatt und eng anliegende Kleid entzückend bestimmt hervortraten – einen breit und gebärtüchtig sich ausladenden Unterkörper – »allerdings! derartige Frauen sind sehr oft unfruchtbar« – – und schließlich ein, wenn auch nicht gerade »durchgeistigtes,« so doch sehr regelmäßiges[40] Gesicht: feine, zierliche Nase, kleiner, üppiger Mund, niedrige, weiße, von einigen zwanglos herabfallenden Ringeln des rothblonden Haars coquett überschattete Stirn – und ein Paar grauer, merkwürdig unruhiger, verzettelt sich ausgebender Augen, die einen Moment groß aufgeschlagen sind, um im nächsten wiederum halb überlidert zu werden.

»Das ist also unser berühmter ›Proletarier des Geistes‹ – sagtest Du nicht, liebe Lydia, daß Du Dich für den Ul-k – – pardon, Herr Doktor! – interessirtest? Ich erzählte Dir doch neulich davon ... nicht wahr – der Herr Doctor sieht gar nicht so proletarierhaft aus, gar nicht so ...? –«

Frau Lydia Lange und Adam Mensch sahen sich scharf in die Augen. Dann rümpfte die Dame ein Wenig das feine Näschen und meinte leichthin:

»Es kommt so oft vor, daß man in Wirklichkeit doch das ist, was man sich – einbildet –«

»Aber Lydia –« wehrte Herr Quöck mit poussirlicher Erschrockenheit ab.

Adam war einen kleinen Augenblick verblüfft. Auf eine derartige ... hm! immerhin paradoxe Conversation war er kaum gefaßt gewesen. Dann verzog er den Mund zu einem nachsichtig-ironischen Lächeln und parirte ab:

»Sie haben so Unrecht nicht, gnädige Frau. Aber ich möchte mir eine Lanze, sogar eine ›warme‹ Lanze, wie man zu sagen pflegt, für die andere Seite Ihrer Behauptungsmedaille – ›wie geschmacklos!‹ dachte er bei sich, als ihm diese nette ›Metapher‹[41] entfahren war – zu brechen erlauben. – Es giebt nämlich in der That auch Fälle, wo ... wo ... nun sagen wir: wo ›man‹ sich das nicht einbildet, was ›man‹ im Grunde – auch ... nicht ist –«

Herr Quöck that sehr verwundert über diese Art von Unterhaltung. Die Beiden schienen ja sogleich beim ersten Sichbegegnen sehr energisch Notiz von einander nehmen zu wollen. Er blickte erst zu Adam hinüber, dann wandte er sich, eine stumme Frage in den Augen, zu seiner Cousine hin.

Diese mußte auch ein wenig erstaunt sein. Wagte ... wollte ... dieser – nun ja! der Herr hieß ja curios genug thatsächlich »Mensch« – – also wagte ... wollte' dieser – Mensch ihr eine ... Impertinenz sagen? Das wäre doch unerhört gewesen –

»Sie meinen damit, Herr Doctor –?« kam es darum sehr indignirt von ihren Lippen.

»Nun ... ich meine damit, gnädige Frau, um mich Ihrer Urtheilsart an–zu–schließen – – noch einmal, wenn Sie gütigst gestatten, anzuschließen – – ich meine damit, daß es Individuen giebt, die zu viel ... und zumeist zu viel innerlich erlebt haben, als daß sie nicht so weit ... also so weit unklar über sich sein sollten, um das zu behaupten, wofür sie keine direkten Beweise besitzen ...« redete sich Herr Doctor Adam Mensch sehr dunkel aus und zwar, indem er sehr langsam, sehr gedehnt sprach ...

Frau Lydia Lange war wie verwandelt. Sie lachte hell auf, zupfte unruhig an ihrer Uhrkette[42] und rief lustig: »Das ist mir zu hoch oder zu tief Herr Doctor! Das verstehe ich nicht –«

»Ich eigentlich auch nicht, gnädige Frau –« versicherte Adam treuherzig. Er mußte nicht minder lachen.

Traugott Quöck sah ziemlich verdutzt aus. Da öffnete sich die Thüre zum Nebenzimmer und Frau Möbius trat über die Schwelle. Adam begrüßte die Dame und erkundigte sich sehr theilnehmend nach ihrem Befinden. Die »alte Schachtel« war enorm gerührt.

»Es ist Alles so weit fertig, Traugott –« bemerkte sie nun zu ihrem Neffen – »wir könnten anfangen –«

»Schön, liebe Tante! Aber Du vergißt ganz – wir haben ja noch Fräulein Irmer und Herrn Referendar Oettinger geladen – – so müssen wir denn wohl noch einen Augenblick warten – ich denke: die Beiden kommen noch. Oder haben sie in letzter Stunde absagen lassen –?«

»Nein! – aber es ist schon so spät – und der Braten –«

»Die Geschichte wird ja immer famöser,« plauderte sich Adam zu und wollte sich einreden, daß er nicht im Mindesten verwundert wäre. Also kannte Herr Quöck auch Hedwig – das heißt –: jedenfalls ihren Vater –? Aber seit wann denn eigentlich –? Na! dös war nun halt 'mal so! da ließ sich Nix gegen machen – also 'mal zu, Kutscher, bis zur Pechhütte!

Die Klingel schlug an. Die Thür ging auf und ein ... Herr trat in den Salon. Herr Referendar Oettinger wurde den Anwesenden, soweit er ihnen unbekannt war, vorgestellt.[43]

Adam musterte den Ankömmling mit scharfen Blicken. Er bemerkte, wie dessen Augen sich sehr intim mit dem Erfassen von Frau Lydias menschlicher Ausgedrücktheit beschäftigten. Die streifte ihn mit einem kurzen Blicke, wandte sich sodann wieder Adam zu und kehrte nochmals zum Gesicht Herrn Oettingers zurück. Adam konnte sich eines verkappten Lächelns nicht enthalten. Aha! Sie vergleicht! constatirte er stillvergnügt. Wie doch die Weiber sofort an das Aeußere, an die zufällige Erscheinung anknüpfen! Plötzlich verspürte er den Blick Lydias anhaltend auf sich. Er reagirte naiv-brüsk auf diese augenscheinliche Zurechtweisung. Die Beiden verstanden sich. Und Adam mußte sich mit einer heiteren Befriedigung einräumen, daß Frau Lange seine Gedanken durchschaut hatte.

Herr Referendar Oettinger besaß im Ganzen sehr nichtssagende, sehr nichtsthuende Züge. Ein mattrothes, ziemlich volles, prahlerisch gesundes Gesicht. Das Haar mit zudringlicher, beleidigender Sauberkeit in der Mitte gescheitelt. Ein süßliches Gesellschaftslächeln um den unschönen, langweilig breiten Mund. In Kleidung und Haltung natürlich tadellos, natürlich »patent.« Ein discreter Moschusduft quoll von ihm aus durch den Raum.

»Fräulein Irmer bleibt aber wirklich etwas lange –« urtheilte Herr Quöck, der ziemlich hungrig sein mochte.

»Warten wir doch noch 'ne Sekunde! Wir werden doch nicht 'gleich verhungern –« schlug[44] Frau Lydia sorglos vor. Sie erhielt einen etwas mißbilligenden Blick von ihrem Herrn Vetter.

»Sie kommen eben aus Italien, Herr Referendar –?« fragte Herr Quöck seinen Gast, weniger aus Theilnahme oder objectivem Interesse, als aus dem Bedürfniß heraus, sich über die peinliche Zwischenaktsfrist nach Kräften hinwegzutäuschen. Er hatte wirklich redlichen Hunger.

»Ja –! Das heißt – ich bin schon vier Wochen wieder in Deutschland ... Es war ja ganz nett jenseits der Alpen – natürlich! Aber es gab doch 'n Bissel zu viel – Schmutz ... Die Damen verzeihen, allein die Wahrheit über Alles –«

»Bravo, Herr Referendar!« rief Adam ungenirt. Ihm kam das Geständniß und zumal die Entschuldigungsphrase Herrn Oettingers überaus drollig vor.

Der platzte dem Bravorufer mit einem ungnädigen Blicke entgegen, in welchem Blicke allerdings zugleich ein verhaltenes Erschrockensein lag. Frau Lydia trug ein moquantes Lächeln um die Mundwinkel. Sie sah Adam an, der erwiderte ihren Blick. Und Herr Oettinger, welcher dieses Herüber und Hinüber der Augen bemerkt, schaute wirklich einen Moment lang rechtschaffen unzufrieden aus.

Der Märzwind schnob die Straße entlang. Das war ein wüthiges Brausen, als stünde das Herz des körperlosen Athemgottes in hellen Zornesflammen, als suchte er etwas Verlorenes, das ihm entwischt wäre ... und das er durchaus nicht wieder finden könnte ... durchaus nicht ...[45]

Das Gespräch war plötzlich verstummt. Es schien, als hätten die Menschen da drinnen im Salon das Gefühl, den Unhold unbehelligt vorüberrasen lassen zu müssen.

»Das ist aber windig –« unterbrach Frau Möbius die Stille. Die alte Dame besaß entschieden das Talent, zur rechten Zeit sehr richtige Bemerkungen zu machen.

»Frühlingssymbol, gnädige Frau –!« erläuterte Adam scherzend.

Frau Lange verzog den Mund zu einem gegenstandslosen Lächeln.

»Es symbolt sich 'was, Herr Doktor –!« urtheilte Herr Quöck mit gezwungenem Gesichtsausdruck. Sein Hunger schien entschieden wieder ein tüchtiges Stück gewachsen zu sein.

»In Palermo hatten wir einmal – –« begann Herr Oettinger – da klang ein spitzes, scharfes Läuten auf.

»Das wird doch endlich Fräulein Irmer sein –« hoffte der Wirth des Hauses brummig.

Die Dame war es denn auch.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so spät komme – mein Vater – –« begann Hedwig, als sie in den Salon getreten war und die Anwesenden kurz begrüßt hatte. Ihre Stimme gab einen hastigen Stoß, im Ausdruck tief, monoton, etwas verschleiert, etwas heiser. Frau Möbius stellte ihr die beiden Herren vor, die zum Souper mitgeladen waren. Fräulein Irmer wurde ein Wenig verlegen,[46] als sie sich unvermuthet Adam gegenübersah. Der hatte sich erhoben und verneigte sich unendlich passiv. Er freute sich im Stillen 'n Bein aus, daß er sich vollkommen beherrscht hatte.

»Nun darfst Du Deinen Willen haben, liebe Tante –« wandte sich Herr Quöck großmüthig zu Frau Möbius, die sich auch sofort nach dem Speisezimmer kehrte.

»Darf ich bitten –?« lud der Wirth seine Gäste ein.

Adam saß zur Rechten Herrn Quöcks, diesem zur Linken Herr Referendar Oettinger. Neben letzterem Frau Lydia, also Adam schräg gegenüber. Seine rechte Nachbarin war Fräulein Irmer. Frau Möbius, die kleine, purzlige Frau mit dem harmlosen Gesicht – der goldene Kneifer, den sie bald aufsetzte, bald wieder von dem Rücken der scharfgefalteten Nase herunterholte, nahm diesem Gesicht nichts von seiner blasigen Teigheit – Frau Möbius rundete die kleine Gesellschaft liebenswürdig ab.

Adam war vollständig ein Opfer der Situation geworden. Die Atmosphäre berührte ihn außerordentlich sympathisch, stimmte ihn überaus einheitlich. Die Gegenwart Fräulein Irmers dünkte ihn ausnehmend pikant, kam ihm wie das Vorspiel eines interessanten Abenteuers vor – eines Abenteuers, das ihm ein tüchtiges Maß bunter Reize zuwerfen mußte. Da stand etwas bevor, das ihn mit einer köstlichen Unruhe erfüllte. Und Frau Lydia? Sie coquettirte doch ein klein Wenig mit ihm. Auch das schmeichelte ihm. Seine Beziehungen zu ihr[47] mußten nicht minder Form und Farbe, bestimmte Contouren annehmen: das ahnte, wußte, hoffte er. Seine Phantasie tändelte gern. Sie war augenscheinlich heute Abend in der besten Laune. Zudem diese reichbesetzte Tafel, diese Fülle von Eleganz, dieses geschmackvoll zusammengeordnete Leben, diese behagliche Zwanglosigkeit – die verhalten-gesummte Musik der Lüstreflammen: das Alles prickelte sich ihm berauschend in die Seele, schob und hob ihn ohne jede Absichtlichkeit über sich hinaus, ließ ihn vergessen, was hinter ihm lag, was vor ihm lag, was er sich selbst eigentlich war – nahm ihn ganz hin – zehrte ihn ganz auf ....

Herr Quöck aß sehr tapfer drauf los. Der saftige Rehbraten mundete ihm vortrefflich. Die Ouvertüre: delicate grüne Erbsen mit Beilage, hatte er ziemlich unbehelligt vorübergehen lassen. Er schien sich an das Körperlichere halten zu wollen.

»Nehmen Sie Rum oder Rothwein zum Thee, Herr Doctor –?« fragte Frau Möbius Adam.

»Danke sehr, gnädige Frau! Ich habe mich schon mit Rum bedient –«

»Ich gieße mir immer Rothwein hinzu –« gestand Quöck.

»Und Sie, Herr Referendar –?«

»Auch ich, gnädige Frau, habe mir schon erlaubt, Rum vorzuziehen –«

»Wie geht es Ihrem Herrn Vater, Fräulein Irmer –?« fragte der Wirth des Hauses und schob ein ansehnliches Stück Rehrücken zwischen die Zähne.[48]

Fräulein Irmer, die soeben nach ihrem Theeglase gegriffen, setzte es wieder nieder und antwortete: »– Papa war gerade in den letzten Tagen recht leidend – hatte viel nervösen Kopfschmerz ... Er läßt sich Ihnen übrigens bestens empfehlen, Herr Quöck –«

»Danke, liebes Fräulein, danke –! Ich glaube, Ihr Herr Papa arbeitet zu viel ... er sollte sich mehr Ruhe gönnen ... das viele Denken strengt so an –«

»Mag sein, Herr Quöck – aber das ist nun einmal sein Leben – und ich glaube, man kann die Gesetze, nach denen sich ein individuelles Leben regelt, nicht ungestraft verletzen –«

Herr Quöck kaute gerade an einem etwas heißen Stück Bratkartoffel herum und konnte darum nicht sogleich zu Wort kommen. Adam wandte sich zu seiner Nachbarin hin –:

»– Wenn ich mich nicht irre, mein gnädiges Fräulein, hörte ich neulich – ich erinnere mich freilich nicht gleich, wo? –, daß Ihr Herr Vater auch – hm! auch Bücher zu schreiben pflegt –? – Ich huldige zeitweilig leider auch dieser tristen Praxis – es wäre mir darum ganz interessant und zudem eine hohe Ehre, Ihren Herrn Vater gelegentlich persönlich kennen lernen zu dürfen – ›Collegialität‹ ist zwar sonst nicht gerade –«

»Papa ist, wie gesagt, sehr leidend ... wir leben sehr zurückgezogen ... empfangen selten Besuche ... Papa ist so ungesellschaftlich geworden ... das ist ja natürlich ... Aber wenn Ihnen daran liegt, Herr Doctor – – ich werde Papa vorbereiten – –«[49]

Hedwig hatte sehr kalt, sehr zurückhaltend, beinahe abweisend, gesprochen. Es schien ihr persönlich gar nichts daran zu liegen, eine Beziehung zwischen ihrem Vater und Herrn Doctor Mensch herzustellen oder hergestellt zu sehen.

»Sehr liebenswürdig, mein Fräulein!« dankte Adam reservirt und wollte sodann fortfahren: »Der Werth des Lebens –«

Da fiel Frau Lange ein: »Pardon, Herr Doctor, wenn ich Sie unterbreche – ich – ich –«

Frau Lange wußte entschieden nicht recht, was sie eigentlich von Adam wollte in diesem Augenblick. Es schien ihr nur unbequem zu sein, ihn und Fräulein Irmer in ein ernsthafteres, längeres Gespräch kommen zu sehen.

Als Adam die Worte »– Werth des Lebens –« über die Lippen gebracht, war Hedwig zusammengefahren. Er wird doch nicht – – –

»Ja!« fuhr Frau Lydia fort, »Sie haben, Herr Doctor –«

»Darf ich Ihnen noch einmal Thee eingießen, Herr Referendar –?« fragte Frau Möbius an ...

»Wenn ich bitten darf, gnädige Frau – –.«

»Mir auch noch 'n Schluck, liebe Tante, ja –?« bat Herr Quöck.

»Recht gern, Traugott –«

»Ich mache Ihnen mein Compliment, gnädige Frau,« hub Herr Oettinger an, »– Ihre Küche ist vorzüglich! Ich habe selten ein so delikates Stück Fleisch – –«[50]

»Ach, bitte, bitte! ...« wehrte Frau Möbius bescheiden ab.

»Uebrigens,« wandte sich Lydia an Adam – »sagen Sie, Herr Doctor: – sind Sie denn immer so ... so steif ... so ceremoniell –? Ich hörte zufällig vorhin, als Sie zu Fräulein Irmer – Sie geben ja in der That keinen einzigen ... wie soll ich sagen –? keinen ... keinen einzigen Naturlaut von sich –.«

Adam war ein Wenig verblüfft. Er reichte gerade die Schüssel mit Bratkartoffeln seiner Nachbarin hin.

»Immer so –?« wiederholte er befangen-mechanisch. Er wußte nicht sogleich, was er antworten sollte.

Lydia lachte hell auf: »– Aber, Herr Doctor–«

»Aber, Lydia –!« monirte verlegen-unwillig ihr Vetter.

Herr Oettinger schmunzelte. Um diese süße Freude über Adams kleine Abfuhr ein Wenig zu verhüllen, griff er schnell nach seiner compote mêlée ...

Adam hatte sich gefaßt. Er schlug die Augen groß auf und sah scharf zu Lydia hinüber. Dann kniff er den Blick etwas zusammen – und während ihm ein wegwerfendes Lächeln Mund und Nase umkräuselte, fragte er seine schöne Gegnerin: »Wollen Sie es dem Schornsteinfeger verdenken, gnädige Frau, daß er sich zuweilen ... wäscht –?«

Fräulein Irmer blickte ihren Nachbar erstaunt-erwartungsvoll von der Seite an. Was meinte er damit –?[51]

Auch Frau Lange wußte nicht recht, was sie von dieser Antwort denken sollte.

Der Herr Referendar hielt das Gesicht gebeugt und stocherte mit dem kleinen Löffel in seinem steifschleimigen Fruchtbrei herum. Seine rosigen, wohlgepflegten Fingernägel glänzten.

Adam legte Messer und Gabel über seinen Teller und lehnte sich zurück. Er sah Frau Lydia herausfordernd an.

Herr Quöck blickte bei seinen Tischgästen fragend herum und machte sich dann an das Geschäft, seinen goldgelben Rüdesheimer zu verschenken.

»Pythius –!« warf Lydia provokant hin.

»›Pythius‹ –?« – Adam lachte. »Nein! gnädige Frau scherzen ... Ich weiß ganz genau, was ich will ... was ich gesagt habe ... Uebrigens gestehe ich recht gern zu, daß Ihnen meine Worte weniger dunkel –«

»Heraklitisch dunkel –« warf Herr Oettinger ein.

»Ganz Recht, Herr Referendar! ... also ›heraklitisch‹ dunkel und räthselhaft erscheinen würden, wenn ich die Ehre genösse, von Ihnen näher gekannt zu werden –«

»Na! Dazu kann ja eventuell noch Rath werden –« äußerte Lydia offen und sah Adam groß und coquett- versprechend an. –

Hedwig machte ein ziemlich müdes und gelangweiltes Gesicht. Was wollten eigentlich diese Leute von ihr –? Was gingen sie diese Menschen an –?[52] Was hatte sie in dieser leichtsinnig phosphorescirenden Welt zu suchen –? Nichts! Rein gar Nichts! Vertrug sich überhaupt dieser Aufenthalt in einer Sphäre, die ihr im Grunde absolut gleichgültig ... ja! ja! ... ganz bestimmt! ... ganz bestimmt absolut gleichgültig war – vertrug er sich überhaupt mit ihrer ›Weltanschauung‹ –? Nein! Sie that es nur ihrem Vater zu Gefallen, wenn sie zeitweilig in diesen Kreisen verkehrte. Ihr Vater zwang sie allerdings nicht dazu, diesen lächerlich leeren Formencultus mitzumachen. Aber er sah es im Grunde doch ganz gern. – gewiß! ›ideell‹, ›theoretisch‹ verwarf er den Humbug ... aber so »lebensklug« war er immerhin doch noch – schien er immerhin doch noch zu sein, daß er sich und seiner Resignation Nichts zu vergeben glaubte, wenn er seine Tochter den Firlefanz bisweilen mitmachen ließ. Hedwig sagte sich sehr klar, daß ihr Vater sich nur als Denker bethätigen konnte, wenn er lebte – wollte er aber ›leben‹, mußte er mit gewissen Verhältnissen klug und praktisch rechnen – sonst konnte er eben einpacken. Oder – oder war sie heute Abend bloß so übellaunig, so verstimmt, wenigstens so gleichgültig, weil ihr Lydia unsympathisch? Weil ihr Nachbar sie störte, dieser suffisante Doctor Mensch, der sich ihr neulich so impertinent frech aufgedrängt hatte –? Aber nein! Diese Welt war nicht ihre Welt – und sie durfte sich mit dem Bewußtsein trösten, daß sie dieselbe nur zuweilen besuchte, um ihre eigene Welt – selbstverständlicher zu finden.[53]

»Prosit, meine Herrschaften –!« lud Herr Quöck ein und erhob sein Glas zum Anstoßen.

Die Gläser klangen zusammen.

Frau Lydia hatte ihren ›Kelch‹ zuerst an den Adams klingen lassen. Der lächelte ironisch. Dann wandte er sich auffallend seiner Nachbarin zu. Er begegnete ihrem müden, theilnahmslosen Blicke. Und er bemühte sich, diesen Blick festzuhalten und ihm damit ein eigenes Feuer, einen besonderen, selbständigen Werth zu geben. Plötzlich stieg ein leises, diskretwolkiges Roth in Hedwigs Gesicht.

Lydia, welche diese kleine, überflüssige Scene beobachtet hatte, war etwas pikirt und kehrte sich mit nervöser Plötzlichkeit zu ihrem Nachbar: »– Wie lange waren Sie in Italien, Herr Referendar –?«

Herr Oettinger, der soeben von seinem Weine getrunken, schluckte den köstlichen Tropfen hinunter, jedenfalls zu hastig für sein Gefühl, und antwortete: »Fünf Monate, gnädige Frau! Gerade genug, um die Schönheiten und, wie gesagt, auch – den Schmutz dieser Dorados der guten Nordländer kennen lernen zu können –«

»Fünf Monate –« wiederholte Lydia mechanisch und sah zu Adam hinüber, der zerstreut-gedankenvoll an seiner Serviette herumspielte.

»Wollen Sie nicht einmal von diesem Apfelsinencompot kosten –?« wandte sich Frau Möbius an Hedwig. Diese nahm dankend an, schöpfte ein paar Löffel des Nachtisches auf ihr Tellerchen und gab die kleine Terrine weiter an Adam.[54]

Herr Quöck hatte wieder einmal an seinem Glase genippt und schnalzte befriedigt mit der Zunge.

»Wissen Sie übrigens schon, lieber Doctor –« hub er jetzt zu Adam Mensch zu sprechen an, »– daß meine verehrliche Frau Base auch – auch – schriftstellert – das heißt –«

»Bester Traugott –«

»Ich bin erstaunt, gnädige Frau –,« heuchelte Adam –: er wunderte sich doch ein Wenig, daß Herr Quöck manchmal so merkwürdig taktfest im gesellschaftlichen Lügenspiel sein konnte.

»Na! So schlimm ist das nicht –« gab Lydia lachend zu – »schwache Versuche, die –«

»Nette ›schwache Versuche‹, wenn man gleich 'ne ›moderne Bibel‹ schreiben will –« flüsterte Herr Quöck mit drolligem Geheimnißvollthun über den Tisch –

»Das ist ja außerordentlich interessant –« versicherte der Herr Referendar –: »eine ›moderne Bibel‹ –«

»Ja –? finden Sie?« fragte Lydia neckisch-boshaft.

»Auf Ehre, gnädige Frau –!«

»Ich habe einen Gedanken, liebe Cousine –« nahm Herr Quöck wiederum das Wort –

»Und das wäre –? Du hast, wenigstens so weit ich es vorläufig beurtheilen kann, so selten Gedanken, bester Herr Vetter – daß ich wirklich gespannt bin –«

»Sei doch nicht so ... so eigenthümlich liebenswürdig, Lydia – höre mich doch erst an – vielleicht[55] genüge ich Deinen hohen Ansprüchen ausnahmsweise doch einmal –« ließ Herr Quöck beleidigt-zurechtweisend verlauten ...

»Na! – nur nicht böse sein, Vetter! Ich widerrufe ja gern, wenn – –«

»Also ... Ja! ... Wie wäre es, wenn Du im Verein mit ... Herrn Doctor Mensch Deine ebenso schöne wie tiefe Idee ausführtest –? Der Herr Doctor ist wohl, wenigstens soweit ich urtheilen darf – ich habe ja die Ehre, ihn schon seit mehreren Jahren zu kennen – also der Herr Doctor möchte Dir ein ganz famoser – verzeihen Sie gütigst, Herr Doctor, dieses etwas burschikose Beiwort – aber mein Jugendfreund Saldern gebrauchte das Wort öfter – und da habe ich es mir denn auch un poco – –«

»Ah! ›un poco‹! Süßer Laut der schönen Fremde –« fiel Herr Oettinger affektirt-pathetisch ein. Der Wein schien ihm die Zunge etwas schwippig gemacht zu haben.

»Also auch etwas angewöhnt – – ja! ... um den Satz endlich fertig zu bringen –« fuhr Herr Quöck fort – »ein ganz prächtiger Mitarbeiter sein ... Ich glaube nämlich ehrlich, daß das Buch Aufsehen machen – unter Umständen sogar einen sensationellen Erfolg haben würde, wenn es nur erst ... erst fertig wäre –«

Frau Lange sah zu Adam hinüber. Der war immerhin etwas betreten. Diese Wendung des Gesprächs kam ihm zu unerwartet. Sollte das den[56] Weg bedeuten, auf welchem sich seine Beziehungen zu diesem schönen Weibe, das ihn ausnehmend reizte, anknüpften ... enger zusammenfädelten –? Und ... und Hedwig? ... Er sah sich zu ihr um. Fräulein Irmer machte ein etwas maliciöses Gesicht. Die Schmerzensfalten um die Nase waren schärfer hervorgetreten. Und doch lag in diesem Gesicht zugleich ein Zug des Gespanntseins, der Neugier, der Theilnahme.

»Hm! ... hm! –« begann Lydia. Sie wunderte sich ein Wenig, daß Adam nicht sogleich freudig und hingerissen auf den Vorschlag einging. Das ärgerte sie.

»Ja! Ja! Der Gedanke ist ... ausnahmsweise wirklich nicht so übel ... Ich danke Dir, lieber Vetter ... nur fragt es sich, ob ... ob der Herr Doctor – ich – ich – gewiß! – mir behagt die Idee sehr ... sehr ... ich finde sie ganz ausgezeichnet, aber eben –«

»Na! Mir gefällt sie natürlich auch –« versicherte Adam brüsk.

Lydia stutzte. Der Ton, in welchem diese Worte gesprochen waren, mußte ihr auffallen. Sie wollte eben eine spitze Bemerkung loslassen – sie hatte allerdings vorläufig bloß das Gefühl, das thun zu müssen, ohne im Augenblick schon zu wissen, wie sie die Unart dieses ... unverschämten Menschen rügen sollte – als dieser, ein Wenig moquant-lächelnd, seine Worte wieder mit den alten Farben der steif-gespreizt-ironischen Höflichkeit zu bemalen begann –: »Vorausgesetzt natürlich, gnädige Frau, daß Sie es der Mühe für werth halten, mich intimer in Stoff und Motiv einzuführen –«[57]

Lydia war wieder versöhnt. – »Also Sie spielen mit –?« fuhr sie lebhaft auf, »– das enchantirt mich aufrichtig, Herr Doctor! Sie sollen sehen –: wir kriegen ein ganz prächtiges Gesch – – also – nicht wahr –? auf gute Kameradschaft! Wahrhaftig der Stoff fängt wieder an, mich stärker zu interessiren –«

Sie reichte ihre kleine, fleischige, ringblitzende Hand über den Tisch zu Adam hinüber. Der brachte seine Finger mit der Sammthaut Lydias in eine vornehm-zurückhaltende Berührung. Frau Lange's Augen strahlten. Adam fragte scherzend –: »Theilen wir nun, gnädige Frau, die Arbeit systematisch–? Dann möchte ich mir das moderne neue Testament zur Bewältigung ausbitten –«

»Wie wir's anstellen – nun! das werden wir ja noch finden, Herr Doctor! Sie trinken vielleicht in den nächsten Tagen, wenn Sie über sich verfügen können, eine Tasse Thee bei mir –? Dann können wir ja das Problem in aller Ruhe einmal näher anschauen. Aber warum erbaten Sie sich vorhin das ›neue‹ Testament zur Bearbeitung –? Ist Ihnen das alte –«

»Das alte – hm! – das alte Testament, gnädige Frau, ist mir, wenn ich offen sein soll, ist mir ein Wenig zu ... zu semitisch ... Gewiß! es hat gewaltige, von der bewußten ›elementaren‹ Poesie strotzende Capitel – aber –«

»Ah! das freut mich, Herr Doctor! Sie scheinen auch Antisemit zu sein?« – fragte Herr Oettinger[58] lebhaft – »das einzig Vernünftige heute – versteht sich ...«

»Ob ich gerade regelrechter ›Antisemit‹ bin – ›Antisemit‹ mit allen Chikanen – – das – das weiß ich eigentlich nicht recht, Herr Referendar ... Aber ich glaube kaum ... Die Frage, die gewiß eine ›moderne‹ und zudem gewiß auch eine sehr ›brennende‹ ist, bedeutet bei mir weniger eine neutrale Angelegenheit des Intellekts mit dem Stempel der Selbstverständlichkeit – selbstverständlich aus wirtschaftlichen, politischen, socialen, philosophischen und tausend anderen ›Vernunfts‹-Gründen – als vielmehr eine Art von Herzensbedürfniß ... Meine Weltanschauung ist, den Haupttendenzen, der Polarität meiner Natur gemäß, eine vorwiegend ästhetische ... Sogenannte ›Principien‹ habe ich nicht, höchstens nur in sehr schwachen Ansätzen – sie ›liegen‹ meiner Natur nicht ... und ich halte sie darum für geschmacklos und langweilig ... u.s.w. – aber verzeihen Sie! – ich bin ganz abgeschweift – –«

»›Abgeschwiffen‹ – Pflegte Otto von Saldern immer zu sagen« – warf Herr Quöck lachend ein.

»Also! . ja! . – sehen Sie« – nahm Adam das Gespräch wieder auf, halb zu Lydia, halb zu Oettinger hingewendet – »der große Marx z.B. war auch ein Jude – dann Lassalle- und nehmen wir Heine, Börne – –«

»Marx? – Marx? – Ist das nicht – nicht der ... der –«

»Ganz recht, Herr Referendar, der ... der –[59] der große Werthanalytiker nämlich – Sie werden gewiß seine Werke kennen, wenigstens seine Sätze, seine Resultate, seine Definitionen –«

»Nein! – Gott sei Dank! nicht –«

»Aber – Pardon! – Sie sind doch Jurist–«

»Allerdings! Und ich muß zu meinem allergrößten Bedauern bemerken, daß ich sehr – sehr viel jüdische Collegen habe ... Diese Herren mögen die Thesen ihres Heros besser kennen, als ich – ich bin streng – ich bin à tout prix monarchisch, Herr Doctor – stockconservativ, wenn Sie wollen – mein Kaiser braucht bloß zu winken, so lege ich mit tausend Freuden mein Haupt auf den Block für ihn – dulce et decorum, pro imperatore mori, Herr Doctor! Heilig – heilig ist mir die Regierung – unantastbar – –«

»Unfehlbar –« warf Lydia ein, die sich zurückgelehnt hatte und amüsirt, ein verhaltenes, halb spöttisches, halb gutmüthiges Lächeln im Gesicht, den Versicherungen ihres Nachbars zuhörte.

»Jawohl, gnädige Frau! In gewissem Sinne sogar ›unfehlbar‹ ist mir die Regierung! Und ich wäre glücklich, sollte es mir vergönnt sein, dereinst einmal ein guter Hüter und Wahrer und Pfleger des Gesetzes zu werden – des Gesetzes, das für mich vorläufig nur einen Fehler hat – nämlich den, daß es in mancher Beziehung zu mild, zu tolerant ist. So sollte z.B. Jeder – ich wähle das Beispiel, weil mir gerade kein anderes einfällt – so sollte also Jeder, der im öffentlichen Besitze einer Waffe gefunden[60] wird, quasi als Mörder behandelt werden, denn er hat, respective hatte es ja jeden Augenblick in der Hand, einen seiner Mitmenschen das Leben, dieses höchste, kostbarste Gut, wie Sie mir zugestehen werden, zu nehmen –«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Herr Referendar –?« fragte Adam belustigt.

»Wollen Sie nicht auch einmal den Käse kosten, Herr Doctor?« bot Frau Möbius, die aufmerksame Wirthin, an. Sie benutzte den Moment, wo das Gespräch sich wieder gabeln zu wollen schien.

Auch Hedwigs Gesicht hatte einige Ausdrucksgrade seines Ernstes verloren. Auch ihr mußten die Geständnisse Herrn Oettingers etwas drollig und schattentöterig-bizarr vorkommen.

»Zweifeln Sie daran, Herr Doctor? – Ich bitte doch sehr ... Allerdings – Sie scheinen mir in dieser Beziehung etwas laxere Ansichten zu haben –« entgegnete der Herr Referendar ein Wenig indignirt. Er führte sein Weinglas an die Lippen und sah furchtbar moralisch entrüstet aus.

»›Laxere‹ ... hm! – ich weiß nicht, Herr Referendar, ob gerade ›laxere‹ – – jedenfalls ... hm! nun! jedenfalls modernere ...« warf Adam mit einem kleinen Anflug von Spott hin.

»Was verstehen Sie eigentlich unter ›modern‹, Herr Doctor? – Man hört das Wort heute so oft. Man kann sich gar nicht mehr retten vor ihm –« fragte Lydia dazwischen. Sie schien momentan ganz[61] vergessen zu haben, daß sie ja selbst eine – ›moderne‹ Bibel schreiben wollte.

»Ja! das ist schwer zu sagen mit einem Worte, gnädige Frau ...« begann Adam. Auch ihm fiel der Umstand, daß gerade Lydia ihn um eine Art von Begriffsbestimmung gebeten, weiter nicht auf. »›Modern‹ sein heißt, heißt, gnädige Frau – ja! also sagen wir – heißt: sich auf Etwas vorbereiten, was Einen im Grunde gar nichts angeht – – ich meine: auf Etwas, dessen Eintreten in die Welt man sicher nicht erleben wird, das sich vielleicht erst in einer sehr fernen Zukunft erfüllt – ›modern‹ sein heißt aber zugleich: – bei dem Vorbereiten auf dieses problematische Etwas ganz gefälligst ... zu Grunde gehen –« fuhr Adam sodann mit einem spröden Stich ins Paradoxe und Bittere fort.

Hedwig sah ihren Nachbar erstaunt-theilnehmend an. Herr Oettinger machte ein verblüfft-ungläubiges Gesicht. Von Lydia erhielt Adam einen sehr eigenthümlichen Blick. Und nun erkundigte sie sich etwas leichthin –: »Gehört das ›Zu-Grunde-Gehen‹, wie Sie sich ausdrückten, Herr Doctor, absolut dazu –?«

»Allerdings, gnädige Frau,« erwiderte Adam ernst, »das gehört dazu, wenn man treu sein will ... und sich, wenigstens in der Hauptsache, in den Grundzügen, in den Kernlinien seiner Natur, erkannt hat – das heißt: wenn man weiß, daß man nicht treu sein kann ... Der incarnirte Widerspruch ist immer Subtrahent –«

»Herr Gott! Wieder einmal Pythius! Wenn Sie[62] im Alterthum, zu Zeiten Frau oder Fräulein Pythia's gelebt hätten, Herr Doctor, – ich bin fest überzeugt: aus Ihnen und jener ehrenwerthen Dame wäre ein Paar geworden ...« scherzte Lydia lachend.

»Meinen Sie, gnädige Frau? – Ob aber die Concordanz immer addirt –?«

»Himmlischer Vater! Nun fehlt bloß noch das Multipliciren und Dividiren ... Die armen vier Spezies! –«

Hedwig konnte sich nicht mehr verbergen, daß Adam sie jetzt interessirte. Und sie mußte sich gestehen, daß sie in ihrem Denken und Fühlen diesem merkwürdigen Causeur unter den Anwesenden jedenfalls am Nächsten stände. Das machte sie immerhin eine Idee stolz und befriedigte sie. Tiefer in Anspruch genommen wurde sie allerdings auch kaum, es war ihr nur lieb, daß in das Gespräch einmal ein paar kühnere, neuere Töne hineinklangen.

»Sie scheinen nicht gerade religiös zu sein, Herr Doctor–?« interpellirte jetzt Oettinger Adam.

»›Religiös‹? Sie etwa, Herr Referendar–?« fragte Adam barsch entgegen.

»Ich – ich schmeichle mir allerdings, mein Herr, in gewissem Sinne religiös zu sein – ja! Gott sei Dank! noch religiös zu sein –« gab Oettinger etwas von oben herab zur Antwort.

»Na! das ist kennzeichnend –: ›in gewissem Sinne‹ – hm!« –

Herr Quöck wurde unruhig: »Prosit, meine[63] Herrschaften!« Die Gläser klangen wieder einmal zusammen. Und wieder ließ Lydia das ihrige zuerst an das Adams tönen.

Dieser hatte plötzlich die ganze Situation, zumal sein Verhältniß zu Frau Lange, klar erfaßt und wandte sich jetzt mit einer auffälligen Wendung zu Hedwig hin ... und zwar so beklemmend nahe, als wollte er dieser Dame Etwas ins Ohr flüstern. Hedwig sah verwundert auf. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Verstand sie das Manöver –?

»Ich muh doch bitten, Herr Doctor –« nahm Oettinger das Gespräch wieder auf.

»Um was –?« flegelte Adam.

»Ja! . Aber ... Gewiß bin ich religiös ... wenn auch – – wie ich mir schon einmal zu bemerken erlaubte –: in erster Linie bin ich conservativ – und dieser Standpunkt schließt ja ein mehr oder weniger intimes Verhältniß zu den Satzungen der Landeskirche ganz von selber ein – – ich klebe durchaus nicht am Dogma – gehe sogar so weit, in gewissem Sinne – verzeihen Sie! – nun! wie soll ich sagen? – ja! – frei – vielleicht ›modern‹ zu sein – es ist wahr: ich besuche selten die Kirche – vertrete aber als Jurist, als Gesetzeshüter, ganz entschieden die Ansicht, daß die Masse der Religion bedarf – und sollte das – Sie sehen, ich bin ganz aufrichtig – und sollte das auch nur nothwendig sein, damit sie, die Plebs, der Mob, kurz: das Volk – damit dieses also stets in der Gewalt, in den Händen der ›oberen Zehntausend‹[64] bleibt ... Ich bitte, in meinen freimüthigen Worten weiter keinen Cynismus zu suchen –«

Adam lächelte sehr ironisch.

Er spielte mit den Fingern der rechten Hand an dem Griffe seines Weinglases herum und warf nun mit gutmüthig-boshaftem Gesichtsausdruck die Frage über den Tisch zu seinem Gegner hinüber: »Dann gehören Sie also, Herr Referendar, so ungefähr zu den Leuten, die im Grunde als erste Autorität über sich ihren – Cylinder anerkennen –?«

Frau Möbius sah recht erschrocken aus. Lydia lächelte wie zustimmend, lenkte dann aber mit feinem Takte ab: »Und die Cigaretten, Herr Vetter –?«

Traugott Quöck verstand. Er erhob sich, warf dabei Adam einen nicht gerade »gnädigen,« kaum freundlichen und aufmunternden Blick zu und wünschte seinen Gästen »Gesegnete Mahlzeit!« –

»Sie rauchen doch, Herr Referendar –?«

Oettinger starrte noch immer auf Adam hin. Es schien ihm unbegreiflich zu sein, daß dieser Mensch gerade ihm mit seinen Impertinenzen zu kommen wagte. Sollte er die Beleidigung auf sich sitzen lassen –? Sollte er einen Skandal provociren –? Er war unschlüssig. Adam machte ein unschuldig-heiteres Gesicht. Er wandte sich jetzt zu Fräulein Irmer, die hinter ihrem Stuhle stand und theilnahmslos vor sich hinsah, mit der Frage: »Rauchen Sie auch, mein gnädiges Fräulein?«

»Nein!« kam es kurz und schroff von Hedwigs Lippen.[65]

»Wollen die Herren in mein Zimmer treten –?« forderte Herr Quöck auf.

Man verbeugte sich ziemlich steif gegen einander.

Lydia sah nach ihrer kleinen, goldnen Uhr. »Schon Zehn durch! Um Elf kommt mein Wagen –«

»Um Elf schon –?« fragte Frau Möbius, wohl nur, um überhaupt Etwas zu sagen.

»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Irmer, fahren Sie mit mir –? Wir wohnen ja nicht weit auseinander. Ich werde Friedrich sagen, daß er durch Ihre Straße den Weg nimmt –«

»Sehr liebenswürdig, Frau Lange, ich nehme mit Dank an –«

»Aber was fangen wir nun an -–?« überlegte Lydia. »Die Herren spielen natürlich den unvermeidlichen Scat ... Ach! Wir armen Frauen –!«

»Traugott spielt eigentlich selten Scat –« bemerkte Frau Möbius schüchtern.

»Ich werde mir wahrhaftig noch die Geheimnisse dieses verteufelten Scatspiels beibringen lassen – man ist ja sonst rein verloren heute ... Ob der Doctor Mensch auch spielt –? Er sieht gar nicht so aus ... Was meinen Sie, Hedwig –?«

»Warum sollte er nicht –?« antwortete die Gefragte kurz, etwas geringschätzig. Die beiden Frauen sahen sich an. Eine jede wußte, was die andere im Stillen dachte, was sie wissen wollte, zu hören verlangte, und was doch keine von ihnen aussprach .... keine aussprechen mochte.

»Bitte, Cousine –!« Herr Quöck war aus dem[66] Nebenzimmer getreten und hatte eine Schachtel amerikanischer Cigaretten auf den Tisch gestellt.

»Versuchen Sie es doch auch einmal, Fräulein Irmer –!« forderte er halb im Scherz, halb im Ernste auf. »Die Damen rauchen heute alle ... Es ist so fashionable ...«

»Ich danke, Herr Quöck –«

Lydia saß im Fauteuil und spie ganz respectable, weißgelbe Rauchwolken durch die Lippen. Sie hüstelte ein Wenig.

»Wir spielen natürlich Scat, Lydia. Der Doctor ist nämlich auch ein leidenschaftlicher Scatverehrer, wie er neulich versichert hat –«

»So –?«

Lydias und Hedwigs Augen fanden sich wieder einmal.

Aus dem Nebenzimmer klang gedämpftes Sprechen. So leise die Unterhaltung geführt wurde – man hörte doch immer den gereizt-markirten Ton heraus.

Hedwig hatte in einem Album geblättert. Jetzt sah sie auf und horchte gespannt hinüber.

Lydia erschien sehr gleichgültig. Sie blies eine dicke, weißgelbe Dampfwolke nach der anderen vor sich hin. Im Zimmer machte sich schon das Cigaretten-Parfüm deutlich riechbar. Es war Frau Lange entschieden sehr behaglich zu Muthe.

Herr Quöck war nach dem Salon hinübergegangen. Er arrangirte den Scattisch. Frau Möbius hatte sich nach der Küche begeben. Oettinger und Adam waren natürlich gegen einander gerathen.[67] Der Herr Referendar hatte den Herrn Doctor bezüglich dessen Bemerkung bei Tisch noch einmal interpellirt. Das hätte kaum unterbleiben dürfen. »Ich habe weiter nichts gethan, als gleichsam die Quadratwurzel aus Ihren Aeußerungen gezogen, Herr Referendar. Ihr conservativer Standpunkt mag ehrliche Ueberzeugung sein – das gebe ich sehr gern zu. Warum auch nicht –? In Puncto der Religion gestanden Sie selbst ein, daß Ihnen dieselbe nur noch als ein Mittel in den Händen der ›oberen Zehntausend‹ erschiene, das den Zweck hat, die Plebs geduckt und unterwürfig zu erhalten – Herrenmoral und Sclavenmoral – Punktum –«

»Aber bitte – das ist doch heute die Anschauung jedes gebildeten Menschen –«

»Das weiß ich recht gut. Der Standpunkt ist auch ein dieser gebildeten Menschheit vollkommen würdiger. Ich erlaube mir nämlich die Ansicht zu haben, Herr Referendar, daß diese famose ›Bildung‹ und der bodenlose Indifferentismus in religiösen, philosophischen, künstlerischen Dingen heutzutage so ziemlich identisch sind mit einander –«

»Hm! . Mag sein! ... Aber bitte, Herr Doktor – wir kommen ganz von dem Punkte ab, dessen Erörterung mir momentan zumeist am Herzen liegt – Sie gebrauchten bei Tisch ein Bild – einen Vergleich – ein – ei-n-e – nun! – es bleibt Ihnen ja unbenommen, auch mich unter diese Indifferenten zu rechnen – –«

»Pardon, Herr Referendar! Wenn mir das[68] unbenommen bleibt, nun! so ist doch die einfache Folge davon die, daß ich Ihnen einen großen Respect vor dem – Cylinder als dem Symbole der auf das Aeußerliche gestellten Bildung vindiciren darf – die einfache Consequenz, nichts weiter –«

»Ich glaube aber kaum, Herr Doctor, daß es erlaubt ist, derartige etwas – verzeihen Sie! – immerhin – immerhin etwas boshaft-gesuchte Consequenzen öffentlich auszusprechen ... Ich kann – ja! ich muß das geradezu als eine persönliche Beleidigung auffassen – und ich sähe mich genöthigt, wenn Sie nicht revociren – –«

Adam lachte: »›Beleidigung‹! – – ›revociren‹ – – Sie scherzen, Herr Referendar! Sie scherzen jetzt, wie ich vorhin – gescherzt habe – wir sind also quitt – nicht –?«

»Das ist eine sonderbare Auffassung, Herr Doctor –«

Herr Quöck trat wieder ein.

»Wie schmeckt Ihnen das Kraut, Doctor –?«

»Vorzüglich, Herr Quöck ... etwas schwer zwar–«

»Ach! Nee! schwer –? Finden Sie auch, Herr Referendar –? Aber bitte, meine Herren – – es ist Alles bereit – kommet und gehet ein in den Freudenhimmel, allwo duftende Blumen in Fülle wachsen – wo es Könige giebt und Fürsten – –«

»Auf Kartenblättern – famos, Herr Quöck! Die Herren dieser Welt sind doch eigentlich furchtbar witzige Kerle, daß sie ihre Bilder auf Münze und Karte malen lassen ... immer noch malen lassen ...[69] Wollen sie damit etwa sagen, – symbolisch andeuten, daß – daß – – na! manchmal wirft man eben das Geld weg –« scherzte Adam.

»Still, Doctor, – das klingt ja ganz gefährlich – Sie sind des Teufels –« wehrte Herr Quöck erschrocken ab.

»Pflegen Sie das ... Geld auch so ... wegwerfend zu behandeln, Herr Doctor –?« fragte Oettinger.

Man trat gerade in den Salon ein. Lydia hatte ihren Fauteuil im Speisezimmer verlassen und stand jetzt am Spieltisch. Sie hielt die rändervergoldete Scatkarte zwischen Daumen und Mittelfinger ihrer kleinen, weißen, rechten Hand, ungefähr in Schritthöhe über dem Tisch, und ließ nachlässig, träumerisch, gedankenabseits ein Blatt nach dem anderen auf die Fläche niedertaumeln.

»Leider!« erwiderte Adam, einen komisch-drolligen Ton des Bedauerns in der Stimme.

Lydia wandte sich um. Sie sah die Herren fragend an.

»Wo steckt denn Tante Möbius–?« ärgerte sich Herr Quöck laut. Er schien irgend ein Anliegen zu haben.

»Die wird wohl noch in der Küche sein –« vermuthete Lydia.

»Es ist doch genug Wein da –? ... Nein! Wo die alte – ich hätte beinah' was gesagt – nur steckt –?«

Hedwig erschien im Rahmen der Thür. Sie sah sehr verschlossen und gelangweilt aus.

»Die Damen werden entschuldigen – aber der Scat – dieses jöttlichste aller Spiele – – bitte,[70] placiren Sie sich, meine Herren! Sie führen Buch, Doctor, nicht –? ... Also um die Ganzen – nicht wahr –? Sie geben, Herr Referendar – bitte! Jüngstes Semester – ich denke wenigstens – jenöthigt wird nicht – übrigens so ein Scätchen – Teufel –! es geht doch Nichts drüber! Ich bitte nochmals die Damen um Entschuldigung –!« Herr Quöck war ganz Feuer und Flamme. »Und ein guter Tropfen dabei« – fuhr er befriedigt fort ...

»Und schöne Frauen!« complimentirte Oettinger, indem er den Scat auslöste –

Lydia brannte sich eben eine neue Cigarette an. Hedwig hatte sich wieder ins Nebenzimmer zurückgezogen. Das knisternde Umschlagen von großen Buchseiten drang ab und zu herüber.

»Sie reizen, Herr Doctor –«

»Ich passe –«

»Tournée –?«

»Carreau! Carreau-Solo aus der la main! ...«

Die Karten flogen auf den Tisch. Man spielte sehr flott. Herr Quöck beschrieb beim Ausspielen immer erst einen Halbkreis mit seinem Blatte. Adam warf seine Karten mit einem gewissen pathetischen Bogenschwung von oben herunter, Oettinger ließ sie nachlässig-graziös fallen.

»Einundsechzig! ... Teufel! ... Das Spiel war überhaupt gewagt. Ohne Renonce in Pique –« begann Herr Oettinger frohlockend ...

»Das fängt ja jut an –« brummte Herr Quöck, ein klein Wenig erbost. –[71] Adam schrieb an, dann mischte er die Karten. »Sie langweilen sich gewiß recht, gnädige Frau–« fragte er zu Lydia hinüber. Frau Lange hatte sich einen Fauteuil in die Nähe des Ofens gerückt.

»Langweilen – warum, Herr Doctor –? Eine Cigarette ist eine vorzügliche Gesellschafterin. Uebrigens – Scat mußt Du mir doch noch beibringen, lieber Cousin! Wenn Ihr Männer so versessen darauf sein könnt, muß das Spiel doch etwas ... Anziehendes, etwas Pikantes haben ...«

»Gewiß hat es das!« versicherte Herr Oettinger eilfertig. »Vielleicht dürfen wir Sie, gnädige Frau, schon heute Abend in unsere köstlichen Geheimnisse einweihen –?«

»Na! na!« wehrte Herr Quöck erschreckt ab. Der Herr Referendar war doch etwas zu galant! Sie hatten kaum angefangen zu spielen – und nun womöglich erst wieder das umständliche Dociren – die langwierige Erklärung – und nachher dann noch die ersten stümperhaften Spielversuche Lydias mitaushalten müssen – nein! nein! – ganz undenkbar –!

Aber Lydia war schon aufgesprungen. »In der That – eine ganz prächtige Idee, Herr Referendar – ich danke Ihnen! Ich muß Ihnen nämlich gestehen, Herr Doctor, daß Sie nicht so ganz Unrecht hatten mit Ihrer Vermuthung, daß ich mich ... langweilte ... Wir Frauen sind ja alle so ... so gedankenarm ...«

Adam erhielt einen herausfordernden Blick. Lydia war zu ihm hingetreten.[72]

»Auch die Verfasserin der ›modernen Bibel‹ – wenigstens die bessere Hälfte der Firma –?« fragte die schlechtere Hälfte boshaft-galant.

»Man braucht doch nicht immer Gedanken zu haben!« schmollte Lydia neckisch.

»Aber, liebe Cousine –« versuchte Herr Quöck das drohende Scatverderben noch einmal zu beschwören, einen zärtlich abrathenden Ton in der Stimme –

»Die Grundgesetze des Seats, gnädige Frau –« hub Oettinger an.

Adam klappte mit pathetischer Resignation sein zierliches, goldschnittgeziertes Rechnungsbüchlein zu.

Frau Möbius trat über die Schwelle. »Wo steckst Du nur in aller Welt, Tante –?« mußte sie sich von ihrem Herrn Neffen etwas barsch anfahren lassen.

»In der Küche, lieber Traugott – Du weißt ja: auf Marien ist kein Verlaß ... Und die Herren wollten ja auch spielen – –«

Herr Quöck leerte sein Glas. »Ist denn noch genug Wein oben –?« fragte er ärgerlich.

»Ich denke –« antwortete Frau Möbius mit sanfter Gelassenheit.

Man sprach nun viel und trank im Ganzen recht tapfer. Herr Quöck hatte sich einigermaßen gefügt. Er wanderte im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken, stellte sich gelegentlich an den Ofen, blies dicke, blauschwarze Rauchwolken aus Nase und Mund. Ab und zu warf er eine humoristischkaustische[73] Bemerkung in den Spielunterricht, welchen Frau Lydia zu ertheilen, der Herr Referendar Oettinger auf sich genommen. Frau Möbius lachte mit ängstlicher Aufrichtigkeit zu den Bemerkungen ihres Neffen. Oettinger führte seine Schülerin sehr geschickt in die schwierigen Scatprobleme ein. Und Lydia war eine gelehrige Schülerin. Es ärgerte sie nur ein Wenig, daß Adam jetzt im Ganzen so zurückhaltend gegen sie war. Wollte er demonstrativ merken lassen, daß dieser erste beste Herr Referendar gerade gut genug war für die Rolle des Scatpräceptors –? Plötzlich hatte sich Adam erhoben und war in das Nebenzimmer verschwunden. Man plauderte im Salon gerade sehr eifrig durcheinander. Herrn Quöck schien der genossene Wein schon recht tüchtig angefranst zu haben. Auch Oettinger sprach schärfer und lauter als gewöhnlich, betonte unregelmäßig und falsch. Lydia war nicht minder unruhig. Ihre Gedanken waren zerstückt, ihr Blut kochte auf. Alkohol und Nicotin hatten sie aus den Geleisen der normalen Selbstbeherrschung geschleudert.

Adam war zu Hedwig getreten.

Diese hatte ihren rechten Oberarm weit, nachlässig, unkritisch, über den aufgeschlagenen Band, in dem sie geblättert, gelegt und den Kopf in die Handhöhlung gestützt. Der linke Arm hing schlaff herunter. Der Blick gedankengebannt oder phantasieverloren. Da fiel der Schatten einer fremden Gestalt in ihren Kreis. Sie schrak zusammen.

Adam trat ganz dicht an sie heran. Er athmete[74] schwerer. Hedwig zog den zurückgeglittenen Aermel bis zum Gelenk herunter und sah zu Adam empor, erschreckt und doch zugleich fragend, erwartend – abweisend und doch zugleich normal verwundert, unwillkürlich aufreizend.

Aus dem Salon klang buntes, sich gegenseitig verhakendes Stimmengewirr. Aber wie ferne, dumpfe, monotone Brandung dünkte es Adam. Die Situation nahm ihn ganz hin. Jetzt allerdings schnellte die Stimme Oettingers scharf, zackig, hart in die Höhe. Dann sprach Lydia auch lauter, auch artikulirter.

Adam hatte nach der rechten Hand Hedwigs gehascht, sie hatte sie ihm mit zufahrender Heftigkeit entzogen. Und doch neigte sie jetzt den Kopf ein Wenig. Ein schmales Stück des weißen, glänzenden Halses wurde sichtbar.

Da packte es Adam. Es rüttelte und schüttelte an ihm, schlug ihm die Zähne in die Nerven. Er wußte nicht, wie es so jäh, so bezwingend über ihn kam. Der Wein hatte sein Blut aufgejagt, hatte zuckende, von unten herauf bohrende Flammen hineingeschmissen. Er war seiner nicht mehr mächtig. Es flimmerte ihm roth vor den Augen. Er beugte sich nieder, sog sich eine Sekunde lang fest an diesem weißen, glänzenden Halse und lallte Fräulein Irmer im nächsten Augenblicke ein heißes, leidenschaftliches »– Hedwig!« in's Ohr.

Jetzt fuhr die Dame auf. Ihr Gesicht war weiß, die Augen starr, groß aufgerissen, ohne Pol.

Durch den Salon kugelte sich gerade ein lautes[75] Lachen. Herr Quöck schien so etwas wie eine Anekdote, wie einen guten Witz erzählt zu haben.

»Hedwig –!« wiederholte Adam dringend, bebend vor Erregung. »Weib! ich liebe Dich ja –!« fuhr er wie im Taumel fort.

Hedwig schoß mit einem jähen Rucke in die Höhe.

»Ich muß Dich sprechen, Hedwig – laß mich Dich nach Hause be-gleiten –« bat Adam mit mühsam geduckter Leidenschaft. Seine Stimme rasselte heiser, die Finger zuckten.

»Ich danke, Herr Doctor –« erwiderte Hedwig auffallend laut – »ich fahre mit Frau Lange –« Und zugleich ging sie an ihm vorüber, der Thür nach dem Salon zu.

»Verflucht! –« knurrte Adam wüthend vor sich hin, zugleich bedeutend ernüchtert. Dann begann er mit gemachter Hast in dem großen Bande zu blättern, über welchen Hedwig vorhin ihre Träumereien ... oder die Nachtfalter ihrer schwarzen Schwermuth hatte hinflirren lassen.

In dem Augenblicke, da Hedwig über die Schwelle in den Salon trat, war dort das Gespräch jäh verstummt. Unwillkürlich, wie auf Verabredung, richteten sich aller Augen auf sie. Was wollten diese Augen nur von ihr –? Was zwang die Leute da, so plötzlich ihre vorher doch recht laute, auffallend laute Unterhaltung abzubrechen –? Hatte man Hedwigs letzte, mit unwillkürlich gesteigerter Stimme gesprochenen Worte verstanden – diese[76] Worte, die sie allerdings halb bewußt, halb unbewußt, in der Absicht, daß sie gehört würden, so laut hinausgestoßen –? Lydia machte ein fast spöttisches, beinahe beleidigendes Gesicht. Hedwig fühlte, wie sie verwirrt, immer verwirrter wurde, wie ein unzurückdrängbar in die Höhe siedendes Roth ihr über Stirn und Wangen schoß. Hülflos, haltlos irrten ihre Blicke von Einem zum Anderen.

Herr Quöck, der sich schon vorhin bei Tische im Besitze des glücklichen Talentes gezeigt hatte, einem Gespräche, das eine unwillkommene Wendung genommen, ungezwungen eine andere zu geben, verstand es auch jetzt vorzüglich, durch eine an sich recht banale Bemerkung über die peinliche Situation hinwegzuhelfen.

»Aber! Fräulein Hedwig – wir haben Sie ja ganz vergessen – ich glaube entschieden, Sie sind zu kurz gekommen in Puncto des Weins – Sie müssen nachholen – – und nun wollen wir wieder einmal anstoßen, meine Herrschaften – wo steckt denn nur wieder der Doctor –? – – Doctor! – Kommen Sie! – Prost! – Prost! – Auf daß meine innig verehrte Frau Base den auch in weiteren Kreisen mit Recht so beliebten Scat, wie mein Busenfreund Saldern immer zu sagen pflegte, recht bald capirt habe – auf daß sie eine würdige Partnerin werde, die ihrem würdigen Scatmentor Ehre mache – die – die – aber Prost! – Prost – meine Herren und Damen – wollte sagen: meine Damen und Herren – und trinken Sie aus, Fräulein Hedwig[77] – denn der Wein erfreut des Menschen Herz, sagt schon der alte Homer – oder irgend ein anderer Zechkumpan hat also geweissagt – bravo, Doctor! – das war ein Männerschluck – kommen Sie her: – Sie sollen 'gleich neue Füllung haben –«

Adam hatte sein Glas auf einen Zug geleert. Er sah düster, geärgert aus. Lydia coquettirte mit dem Referendar. Sie blickte ihn schwärmerisch, dankbar, beinahe herausfordernd an. Adam's und Hedwig's Augen waren noch einmal kurz aneinander vorbeigegangen. Beide wußten, daß es nun ein Etwas für sie gab, das einer dem ander'n nicht restlos vergessen konnte.

Da tönte das eckige Rasseln eines mit fast beleidigender Exaktheit angefahren kommenden Coupés von der stillen Straße her in's Gemach.

»Mein Wagen!« fuhr Lydia auf.

»Nanu! Schon so spät?« fragte Herr Quöck verwundert. Er zog seine große, schwere, goldene Uhr.

»Gnädige Frau –!« bat Oettinger geschmeidig-vor wurfsvoll. Er war ganz selig. Er glaubte an seine Zukunft. Er war überzeugt von seiner Unwiderstehlichkeit.

Lydia blickte zu Adam hinüber, der mit forcirter Ruhe seine Cigarre wieder in Brand setzte. Adam sah nicht auf, obwohl er den Blick Lydia's deutlich auf sich fühlte. Es war ihm, als ob ihm die Netzhaut plötzlich brennend heiß würde.

»Wenn Sie nun noch mit mir fahren wollen,[78] liebes Fräulein –?« fragte Frau Lange Hedwig, mit scharfer Betonung des »noch« –

»Wenn Sie gestatten –«

Die Damen verabschiedeten sich. Oettinger küßte hingerissen Lydias Hand. Dann wandte sich Frau Lange zu Adam ... und ohne ihm die Hand zu reichen, meinte sie leichthin, gleichgültig: »– Also, vergessen Sie unsere Verabredung nicht, Herr Doctor –! Kommen Sie in den nächsten Tagen einmal zu einer Tasse Thee – – wie wäre es, wenn Sie mir schon etwas ... Fertiges mitbrächten – – vielleicht – vielleicht eine Art von – – von ...nun! – vielleicht ein modernes ... ›hohes Lied‹ oder etwas Aehnliches – ja? – – Aber, pardon! – ich vergaß ganz – Sie baten sich ja das neue Testament aus – nun! – ich überlasse Ihnen die Auswahl – es wäre zu nett, könnten wir 'gleich mit einem kleinen fait accompli an die Arbeit gehen –«

Lydia hatte die Worte langsam, zögernd herausgestoßen, als fiele es ihr schwer, sie zu sprechen – und doch zugleich in einem Tone, mit einem Accente, der deutlich verrieth, daß sie ärgern, spotten, sich rächen, aber auch stimulieren wollte.

Adam verneigte sich stumm. Er behielt Hedwig im Auge, er verfolgte jede ihrer Bewegungen. Diese verabschiedete sich mit einem oberflächlichen Gruße von ihm. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und sah sehr hochmüthig aus.

Frau Möbius zog sich bald zurück.[79]

Die Herren waren wieder allein. Der Scat konnte fortgesetzt werden. Und man fühlte sich bald ganz unter sich. Die Unterhaltung wurde freier, die Worte wurden nicht mehr abgewogen, nicht mehr peinlich bedacht, gewählt, gesetzt. Adam verhielt sich allerdings im Ganzen ziemlich schweigsam. Herr Quöck sprudelte verschiedene pikant gewürzte Anekdoten heraus und mußte oft so herzlich über seinen eigenen Ulk lachen, daß ihm die Brille überschweißt wurde. Dann kramte er sein großes, gelbseidenes Taschentuch heraus und putzte mit zwinkernden Weinaugen über die Gläser hinweg. Die Hände waren roth, etwas aufgeschwollen, und ganz sicher gehorchten sie auch nicht mehr.

Herr Oettinger erzählte allerhand italienische Reiseabenteuer. Die Ueberzeugung von seiner Unwiderstehlichkeit, die er heute Abend aus dem Benehmen Lydias ihm gegenüber folgern zu müssen geglaubt, verleitete ihn, seine an sich recht harmlosen Geschichten mit kühneren erotischen Pointen auszuschmücken. Der Herr Referendar bekundete in seiner Weinlaune eine ganz respectable Phantasie.

Man spielte sehr unregelmäßig ... und man erlaubte sich schon allerlei kleine Freiheiten. Man guckte sich gegenseitig in die Karten und ignorirte kühn die Unantastbarkeit des Scats. Dabei wurde dem Weine wacker zugesprochen. Und die Stunden schienen etwas Besonderes darin zu suchen, sich überschnell aus dem Staube zu machen.

Mit der Zeit wurde Adam matt, abgespannt.[80] Er unterdrückte nur mühsam das Gähnen, und Wein und Cigarren verloren immermehr ihre Reize für ihn. Er trank öfter, nippte aber immer nur kleine Schlucke und kaute mechanisch den Nicotinsaft aus seiner Cigarre heraus. Ab und zu warf er ein gleichgültiges Wort in das Gespräch, welches Oettinger jetzt fast allein führte. Denn auch Herr Quöck kämpfte mit der überhandnehmenden Müdigkeit.

Nach drei Uhr trennte man sich. Der Herr Referendar wankte und schwankte ein Wenig. Adam nahm sich des armen Kerls an und schob seinen Arm unter den Oettingers.

Die Straßen lagen in tiefer Stille. Ab und zu begegnete den einsamen Nachtwandrern ein langsam heranspazierender Wächter. Manch' einer dieser edlen Herren blieb breitspurig auf dem Trottoir stehen und beäugelte kritisch die vorüberstapfenden Spätlinge. Der Herr Referendar konnte einige herzhafte Redensarten über diese »zu–dringliche, ganz ver–fluchte O–cu–cular-Inspection« nicht unterdrücken. Er sprach überhaupt etwas laut, der ehrenwerthe Cylinderenthusiast. Die »Angströhre« saß ihm allerdings schief und verrätherisch nach hinten geschoben auf dem jugendlichen Haupte, das der erste, zarte Flaum einer discreten ... Platte zierte, wie Adam heute Abend mit dem banalen Genugthuungsgefühl eines berechtigten Sarkasmus wahrgenommen.

»Feudales Weib, diese Lydia, nicht, Doctor –?« phantasirte Herr Oettinger, »Göttergestalt – fescher[81] Corpus – und dieser Busen – möchte wohl 'mal – nur 'mal küssen diese L...l...ippen – – Ah! ... ah! .... ent–zückend! ... Uebrigens, Doctor – – sind doch 'n famoser Kerl – – gehen so ein–ein–trächtig Arm in Arm – wollen uns nur wieder ver–vertragen – ha ...ha ... Wollen nächstens 'mal Sect kneipen zusammen – ja –? gloriose Idee – – bringen kleine Hedwig mit – na? ... na? ... Verhältniß anbändeln – – auch nicht übel – – auf Ehre! werde das reizende Scheusal gelegentlich 'mal pou–pou–ssiren – – –«

Adam ließ die Rede Oettingers Monolog bleiben. Er begnügte sich, die kargen Ueberreste seiner geistigen Wachbarkeitskräfte vor Allem zur Steuer ihrer nicht mehr ganz seetüchtigen Leibesfahrzeuge zu verwenden. Er hatte seine liebe Noth, den Herrn Referendar von allzu intimen Berührungen mit verschiedenen Häuserwänden zurückzuhalten.

Plötzlich fühlte Adam das brennende Bedürfniß, allein zu sein. Ein Gedanke war in ihm aufgezischt, ein Wunsch war in ihm emporgesprungen, dessen Erfüllung der merkwürdigen, halb träumerisch-müden, halb bewegt-reizsuchenden Stimmung, die ihn gekapert hatte, entsprach. Er wollte noch einmal durch die Straße gehen, in welcher Hedwig wohnte, wollte noch einmal vor ihrem Hause stehen, noch einmal zu ihrem Fenster hinaufschauen. Vielleicht ... vielleicht gab es hinter den Gardinen, hinter den Vorhängen noch ein spätes, heimliches[82] Leben, das ihm zarte Zeichen, eine geheimnißvolle, süße Kunde brächte. Doch er mußte allein sein. Und ganz Egoist, suchte er dem schwer athmenden, prustenden, oft ausspuckenden Oettinger begreiflich zu machen, daß es das Beste wäre, wenn er nun allein nach Hause wanderte. Der Herr Referendar war schon viel zu acut über sich hinausgekommen, um eines kräftigeren Widerstandes noch fähig zu sein. An der nächsten Ecke machte sich Adam von ihm los und überließ ihn seinem Schicksal. Man verabschiedete sich sehr kurz und abgerissen.

Adam trottete eine Weile hin, ganz im Zwange seiner hüpfenden Gedankenschemen. Da merkte er, daß er sich in der Richtung geirrt. Er mußte umkehren. Und am Besten wäre es, wenn er die Straße, in die vor einer kleinen Weile Oettinger hineingeschwankt, kreuzte. Wahrhaftig! Da drüben auf der andern Seite – da stapfte sein wackerer Zechgesell immer noch redlich fürbaß. Adam konnte sich nicht enthalten, mit verstellter, dumpf gurgelnder Stimme ein diabolisch-mysteriöses »Oettinger!« über den Straßendamm hinüberzuknurren. Der geheimnißvoll Angerufene wandte sich jäh um und blieb stehen. Adam setzte seinen Weg mit großen Schritten fort und kicherte leise in sich hinein.

So! ... Nun war der Herr Referendar in den Schatten der Nacht hinter ihm verschwunden. Adam schluckte mit Behagen den kühlen Wind ein und setzte seine Füße emphatisch auf die Asphaltflächen. Grell, in scharf abgekantetem Rhythmus,[83] hallte sein Gang wider. Einförmig und unförmlich lagen die Häusermassen da. Selten klebte sich in der Gegend der oberen Stockwerke ein magerer Lichtschein an die Riesentafeln. Die Gasflammen hüpften nervös in ihren Glaskäfigen hin und her. Es hatte geregnet. Ueber das Pflaster hin lagen hier und dort dunkelgelbe Reflexe gestreut. Oefter leuchtete verschwommen-schmutzig ein Stück einer angebrochen-verkümmerten Iris auf.

Adam traf auf eine Brücke. Er lehnte sich eine kleine Frist hindurch über das Geländer und sah auf das träge, gleichgültig hinschleichende Wasser hinab. Ein nörgelnder, zupfender Wind pustete jetzt über die Fluth hinweg. Und es nahm sich aus, als wäre der Spiegel mit einer Legion von kleinen, braungrünen Schildkrötenrücken gepolstert.

Nun stand Adam vor dem Hause, da Hedwig mit ihrem Vater wohnte. Aber oben war Alles dunkel. Allenthalben tiefe, nur von den verhaltenen Athemzügen des feuchten Nachtwindes monoton durchsummte, zaghaft durchmunkelte Stille.

Und der einsame Wandrer setzte sein Wandern fort, das ihn endlich nach seiner Klause führen sollte. Verworrener Gedanken, einer dunklen Sehnsucht war seine Seele voll. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 37-84.
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