IX.

[123] Am nächsten Tage schwankte Adam unaufhörlich in seinen Stimmungen hin und her. Er wußte wieder einmal nicht ein noch aus. Es war ihm wieder einmal das Talent ganz abhanden gekommen, sich von der Widerspenstigkeit der Objecte anziehen, belustigen zu lassen. Das kann doch zuweilen wirklich sehr amüsant sein. Zweifelte er an sich, an seinen Kräften und Fähigkeiten? Er besaß ein sehr schlechtes Gedächtniß für sich. Eine erneute Stimmung nahm ihn immer so ganz hin. Und war das gerade eine Stimmung marternder Geisteszerrissenheit, so mußte er ganz vergessen, daß ihm einmal klarer, einfacher, unmittelbarer, praktischer zu Sinn gewesen. Es lastete ein unerklärlicher Druck auf ihm, eine gerechtfertigt-ungerechtfertigte Trauer ... eine peinigende, gegenstandslose Betrübniß ... kein schneidender Gethsemaneschmerz ... eine lähmende, zusammenzwingende Schwere. Er hatte keine Freude daran, die kleinen Arbeiten des Lebens auf sich zu nehmen. Nichts Großes erschütterte ihn, das kleine Gewürm halber, angedeuteter Gefühle verleidete ihm das Leben, welches ihm doch manchmal mit seinem bunten Wirrwarr, seinem unermüdlichen Farben- und Formenspiel so unendliche Reize bieten konnte. Warum[124] sollte er heute Abend zu Lydia gehen? Es war doch eigentlich nicht der geringste Grund dazu vorhanden. Gewiß! Er wollte ihr im letzten Augenblick noch abschreiben – das war das Gescheiteste. Er konnte nicht für sich gutsagen. Er hatte die Empfindung, als müßte er heute Frau Lange gegenüber zu bizarr in seinem Betragen, zu willkürlich sein. Oder würde ihn die fremde, gewiß vornehme, in eigener Ordnung ausgebaute Umgebung doch einengen? Würde seine zwar nicht besonders große, aber noch immerhin genügende Fähigkeit: Cavalier, Gesellschafter zu sein, hervortreten, sobald er Lydia gegenüber stand? Er hatte ja schon, wie er sich äußerlich erinnerte, eine ganze Reihe derartiger Jongleurkunststücke fertig gebracht. Aber Hedwig? Hedwig? Wie stand er zu ihr? Liebte er sie? Er hatte sich allerdings sehr oft eingebildet, ein Weib zu lieben – und er hatte sich für dasselbe schließlich nur interessirt, ganz beiläufig »interessirt«. Er hatte Gefallen an ihm gefunden, irgend Etwas hatte ihn gereizt: schönes Haar; schöne Augen; graciöse Beweglichkeit des Oberkörpers; Halbfülle der Gestalt; ein kurzer, entschiedener Tritt; oder Naivetät des Herzens; das Parfum geistiger Selbständigkeit; Unbeholfenheit oder Schlagfertigkeit ... Vorurtheilslosigkeit ... Coquetterie ... ehrliche oder gemachte Verschämtheit ... oder so etwas Aehnliches ... Und Hedwig? Ja! Ja! Es wurde ihm mit bezwingender Deutlichkeit klar: er liebte sie – liebte sie mit all' der Glut und Leidenschaft, deren er noch fähig[125] war ... die er noch für sie aus allen seinen früheren, engeren oder loseren Beziehungen und »Verhältnissen« hatte retten müssen. Der Gedanke an sie hatte doch unwillkürlich – jetzt wurde er sich dessen bewußt – in den letzten zwei Tagen die stete Unterströmung seines Seelenlebens gebildet. Immer wieder war ihr Bild vor ihm aufgetaucht, manchmal schärfer, deutlicher, manchmal unklarer, schwächer, linienmatter. Er hatte der einzelnen Gelegenheiten gedenken müssen, die ihn mit ihr zusammengeführt. Er hatte sich die Worte ... das Herüber und Hinüber ... das bewegte Widerspiel der Gefühle und Gedanken wiederholen müssen, die ihn in ihrer Gegenwart besessen, die sie ihm zu verstehen gegeben, die sie ihn hatte ahnen lassen, oder die er ihr anvermuthet. Er hatte viel an sie gedacht, viel über sie nachgedacht ... hatte sich gefragt: wo sie wohl in dieser Stunde wäre ... was sie thäte ... wie sie jetzt ihr Verhältniß zu ihrem Vater auffaßte ... ertrüge ... ob er selbst vielleicht schon eine kleine Rolle in ihrer Welt spielte? ... Aber was zog ihn nur zu ihr hin? Reizte sie seine Sinnlichkeit? Eigentlich nicht. Seit jenem Abend bei Herrn Quöck, wo der Wein sein Blut aufgejagt, wo ihm Lydia's Raffinement und Coquetterie brennendes Begehren in die Brust getropft ... mit berechnender Grausamkeit langsam getropft hatte; wo er sich wohl nur aus Trotz gegen das schöne, verführerische Weib – wenigstens wie er sich heute einbildete – Hedwig genähert – seit jenem Abend hatte deren Gegenwart oder die Erinnerung an sie eine immer[126] nur mit geringen Sinnlichkeitsaffecten verbundene Sympathie in ihm ausgelöst. Nun denn! – so mußte es eben ihr Schicksal sein, was ihn reizte. Oder etwa ihre Sprödigkeit? Ihre Art, kalt und bestimmt abzuweisen ... ihre wie selbstverständlich dargestellte ... Selbständigkeit? Es war doch merkwürdig! Und da! ... da schäumte es auch in ihm auf ... da begehrte er plötzlich, diese Ungeberdigkeit zu zähmen, diesen Trotz zu brechen, diese Kälte zu bezwingen ... Da wußte er, wie süß und berauschend es sein müßte ... es wahr und wahrhaftig sein würde, diese herben Lippen zu küssen ... diesen verschlossenen Mund zu köstlichen Geständnissen zu bewegen ... Ein fanatischer Sehnsuchtsrausch war jäh über ihn gekommen. Ein starkes Leben durchpulste ihn ... ein einziges Wollen erfüllte ihn ganz. Seine Phantasie umhing die Geliebte mit Reizen, die sie kaum besaß. Aus allen Poren strömte Adam der Drang ... quoll ihm das glühende Begehren der entfesselten Leidenschaft heraus ... Aber da verflüchtigte sich auch die heiße Sehnsucht des Blutes schon wieder. Eben war Adam noch der Gedanke gekommen, daß es doch eigentlich ganz praktisch sei, in dieser sinnlich-empfänglichen Stimmung zu Lydia zu gehen. Hedwig ... oh! Die Erinnerung an sie konnte seine Phantasie wohl mit tausend verführerisch-reizvollen Bildern speisen. Aber die Wirklichkeit? Die Dame war doch eigentlich schon zu eingefroren, zu steif, zu erkaltet. Und Adam liebte das Spontane, das Tumultuarische[127] am Weibe ... das plötzlich Hervorbrechende, elementar Hinreißende. Und doch reizte ihn im Grunde ein Weib ... jedes Weib nur so lange, als es sich ihm entzog, als es seine Selbstständigkeit mit starkem Nachdruck aufrechterhielt. Die geringste Nachgiebigkeit kühlte ihn ab ... kühlte ihn besonders dann sofort ab, wenn sie mit einer gewissen Apathie und gleichgültigen Nachlässigkeit in Scene gesetzt wurde. Adam liebte es, Quellen aus Felsen zu schlagen. Die erste stürmische Glut, mit der das junge Wasser an's Licht trat, reizte ihn. Nachher ... nachher wurde ihm das Wasser in der Regel bald ... bald sehr, sehr langweilig. Er beobachtete es höchstens noch mit dem Interesse des objectiven Wissenschaftlers. Nein! nein! Das war Unsinn – er liebte Hedwig nicht ... nicht im Mindesten. Wie war er nur in aller Welt darauf gekommen, sich das einzubilden, sich das vorzudeclamiren! Es dünkte ihn nur pikant ... weiter nichts als pikant, auf sie zu wirken, sie zu beeinflussen, sie zu beunruhigen ... in den zähen, träge geronnenen Lauf ihres verstockten und verkümmerten Lebens allerlei neues, eckiges, strudelerweckendes Zeug hineinzuwerfen. Er wußte, daß er das Weib eines Tages einmal küssen würde. Vielleicht war er auch im Stande, im Aufruhr der Stunde noch intimere Leidenschaftsbeweise zu erzwingen. Und dann? Dann mußte er die angebissene Frucht nach den Gesetzen seines Organismus eben wegwerfen. Eine grausame Unzuverlässigkeit gehörte ihm an[128] Oh! Er wußte: einmal hatte er mit dieser grenzenlosen Gleichgültigkeit nur gespielt. Es war ihm pikant gewesen, sich ihren Besitz anzudichten, vorzulügen. Und nun? Nun besaß er sie wirklich – und die Brutalität dazu, sie halb bewußt, halb unbewußt vor sich und Anderen verleugnen zu können ... oder er prunkte mit ihr. Und da gefiel es ihm öfter, sie für harmlose Coquetterie auszugeben, wo sie doch wohl nur traurige Thatsache war. Nein! Fräulein Irmer war Adam in diesem Augenblicke nichts ... absolut nichts. Warum sollte er heute Abend also nicht zu Lydia gehen? In seinem Spiegelschränkchen trieb sich eine Anzahl verbrauchter Glacéhandschuhe ... eine sehr niedliche Sammlung abgetragener Shlipse und Schleifen herum. Die Sippschaft fiel Adam in die Augen, als er nach seiner Eau de Cologne-Flasche suchte. Er nahm einen Handschuh zwischen die Finger und betrachtete ihn sehr gedankenvoll. Das Leder war mürb, brüchig, rauh, hier schlaffer, dort härter, steifer geworden .... wie gedörrt, runzelig zusammengetrocknet. Die Farbe unreinlich, verschossen, stark verschmutzt. Allenthalben geplatzte Nähte ... ein Knopf war abgesprungen, ein anderer ließ seinen schmutzig-gelben Messingscheitel todestraurig herabhängen. Warum schmeißt man das Gesindel nicht in die Lumpen? philosophirte Adam sehr tiefsinnig. Und er dachte an sein Individuum. Ob ... hm! ... ob man seine »Seele« nicht einmal ... nicht einmal – rasiren lassen könnte? – –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 123-129.
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