Die Vestalin

[231] In den stillen Tempel lärmend

Bricht das Volk, empört in Wut:

»Auf und schleppt sie vor den Prätor,

Tilgt die Schuld in ihrem Blut,

Denn kein Rauch steigt mehr zum Himmel,

Und erloschen liegt die Glut.


Priesterin, wo war dein Eifer,

Priesterin, wo war dein Herz?

Träumtest du der Liebe Träume,

Pflogest du der Liebe Scherz?

Sucht den Buhlen und zerfleischt ihn

Glied für Glied mit scharfem Erz.


Doch sie selbst scharrt in die Erde

Lebend ein mit ihrer Schmach.«

Also tobt die blinde Menge,

Von den Säulen schallt es nach.

Doch erwacht aus tiefem Schweigen

Trauervoll die Jungfrau sprach:


»Wehe, rohe Männer, wehe,

Die ihr scheulos, wild, im Streit,[231]

Auf den Lippen Zorn und Flüche,

In dies Haus getreten seid:

Nicht die Priesterin, ihr selber

Habt das Heiligtum entweiht.«


»Heuchlerin, da sieh die Asche!

Sprich, was löschte diese Glut?«

»Unauslöschlich lodert Vestas

Herd in meines Herzens Hut:

Und was diese Brände löschte, –

Das war meiner Tränen Flut.«


»Tränen? was hast du zu weinen,

Du der Göttin Dienerin?«

»Vor drei Tagen sank bei Cannä

Romas Ruhm und Macht dahin,

Und als Priesterin ich worden,

Blieb ich dennoch Römerin.«


»Nicht um Rom, um einen Buhlen,

Der gefallen, weint sie wohl:

Auf! ergreift sie, sie soll sterben,

Schleift sie fort aufs Kapitol.«

Doch die Priesterin umklammert

Fest der Göttin Steinsymbol:


»Höre mich, du große Göttin,

Die du reiner dort nicht thronst

In den Hallen des Olympos,

Als du mir im Herzen wohnst,

Die du schrecklich strafst den Frevel,

Wunderbar die Unschuld lohnst:


Höre mich, die alle Feuer

Mit dem heil'gen Atem schürt:[232]

Bin ich rein an Leib und Seele,

Wie der Priesterin gebührt, –

Auf, entzünde diese Kohlen,

Wie sie meine Hand berührt.«


Spricht's, und auf die schwarzen Brände

Legt sie leis die weiße Hand: –

Und ein Donnerschlag erdröhnet,

Licht umflutet ihr Gewand,

Und empor vom Opferherde

Lodert goldig heller Brand.


Auf die Kniee stürzt die Menge:

Doch die hohe Jungfrau spricht:

»Wenn der Unschuld hier auf Erden

Jeder letzte Schutz gebricht,

Mutig greift sie in den Himmel,

Holt herunter sein Gericht.«

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 231-233.
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