Zweifel

[57] Psalm eines Verstoßenen.


Jetzt ist es aus! jetzt bin ich ganz zerrissen!

Nun brach vom Herzen mir das letzte kleine

Stück Hoffnung noch, das letzte eine

gerettete aus meinen Bitternissen.

Wimmernd zerbarst die letzte Saite

des Glaubens mir an Glück und Fried:

der Jammer heult in mir sein marternd Lied,

und gramverwüstet starr' ich in die Weite.


Hinaus, hinaus, wo keine Menschen sind!

O raffte mich empor ein glühender Wind,

verschlüg' er mein Gebein verdorrt in Steppen,

durch die aashungrig nur der Schakal schleicht!

ich kann die Last nicht weiterschleppen ...


In des Frühlingswaldes dichteste Schatten

flüchte hinaus, mein Leid, mit mir!

in die bangesten Schluchten will ich mich bergen,

daß ich allein sei, allein mit dir,[57]

bis du endlich magst ermatten,

bis ich auch dich dann zu den Särgen

schichten kann, die im Grabgewölbe

meines tiefdumpfeinsamen Busens stehn.


Oh, jetzt nicht mehr: »hinan, hinauf,

kühnen Wunsches, seligen Mutes voll,

mit Adlersfittigen, über steile Pfade,

zu Dir, Dir, Sonne meines Lebens« – –

vorbei! hinweg! –


O wie träumt' ich süß,

ich Wahnverzückter,

versunken in ihren Strahlenblick,

in das goldene Sonnenauge:

»Bin ich nicht auch stark und gut?

stärker als ich ahne?!

Sonnenauge, Du winkest mir?

Sonnenseele, sehnest dich nach mir?!

Sonne, dich fassen! Sonne, dich halten!

Sonne, für und für

deine reine Flamme lassen walten

durch die flackernde lodernde Seele mir!

Ueber Gipfel mich heben! auf Wolken schreiten!

Meine Gluten in deine gießen!

Sicher dich tragend, von Dir getragen,

zum Doppelgestirn uns zusammenschließen!

Sprühende Funken nach unten spreiten

den Erdensöhnen, den Menschenbrüdern!

Rauschend auf sausendem Feuerwagen,

Sonne dich singen, Sonne dich sagen

in ewigen Lauten, ewigen Worten, ewigen Liedern!«

– – Aus! aus! – –


Nein! nein! sah ich sie lächeln

ungerührt, ungetrübt:[58]

Verzichte, verzichte!

Entsagung übe!

sonst wirst du zunichte

an deiner Liebe!


Nein, ich fühl's: ich bin nicht stark!

konnte sie, ach, nicht an mich reißen

mit meinen Blicken, den schwellend heißen!

Meine Flammen nicht wärmend schaffen,

sengend nur mich selbst erschlaffen! –


Winselnder Thor, der nicht vermocht

Liebe um Liebe zur Blüte zu wecken:

und verwegen willst du die Fingerchen recken

nach den höchsten Früchten der Menschheit?!

Hörst du sie höhnen, die tollen Geister:

»Erhabener Meister,

hüte dich, Lieber,

du klimmst im Fieber,

leicht gleitet ein Leben zur Tiefe!

Nur Wenige führt auf der fährlichen Bahn

die Sonnengnade zum Gipfel hinan;

den Andern ist es, als riefe

im Abgrund lockend die Wasserfee,

und sie schauen hinunter die schwindelnde Höh'

und können es nicht ertragen

und wanken hinab

ins Grab!

Laß ab zu wagen,

du Wahnesmeister,

du Sonnendreister!

Hüte dich, Lieber,

du klimmst im Fieber,

du wirst zerschellen

unten in des Sturzbachs Wellen!« – –[59]

Wehe, wie sie mich zerfleischen!

wie sie gierig mein Herzblut heischen!

Gnade, Gnade, ihr Finstern!


Weichet von mir, ihr Nachtgedanken:

ich bin euer Herr!


Wie sie zerrend durchs Hirn mir schwanken –

Mitleid! Mitleid! – –


Oh meine Sonne, warum fliehest du mich?

warum den Schatten gabst du mich zum Fraß?

Soll ich denn immer nur in Tiefen ringen,

nie von den Gipfeln jauchzen meine Lust! –

Ach, genug der Seligkeit des Strebens!

habe genossen sie,

habe gelitten sie:

die bittere süße

Wunde der Menschheit,

in der wißgierig,

wollüstig uns weidend am eigenen Schmerz,

von Ewigkeit zu Ewigkeit

wir wühlen, weinen, wühlen! –


Und keine Rast dem selbstgehetzten

kranken Wild als nur der Tod?

keine? – –


Recke nicht wehrend den Arm mir entgegen,

du sanfter Gewaltiger! Nein, nicht zwingen

läßt sich Erlösung: ungerufen

sollst du mir die Ruhe bringen

einst ... einst?


Aber – wem winkest du?

welch ein Gebilde verbirgt dich mir?[60]

So feierlich wallt es einher!

doch thront der Friede auf den ernsten Zügen,

und diese Stirne scheint mir nicht zu lügen.

Was rührt mich an?!

Oh, rettend Licht!

ja – ich erkenne dich, Arbeit,

strenge Trösterin, herbe Helferin!

Dank –! Dank –!


Oh nimm mich ganz in deine Arme,

befreie Du mich von meinem Harme!

du bist der Menschheit beigesellt,

daß sie bei Dir Vergessen findet,

wenn nieder sie am Schmerz des Strebens fällt,

sich in den Wehen der Entsagung windet.

Denn auch ihr zwei Heilandinnen:

du, Kunst göttliche,

Hoffnung, himmlische du:

wurdet nicht ihr auch geboren

aus der Vermählung der Arbeit

mit dem qualvoll ringenden Erdensohn?!


An Deinen Busen will ich jetzt mich bergen,

Kunst, milde ernste Tochter der Mühsal,

wollen die Zweifel mich wieder beschleichen,

die mir die Kraft aus der Seele nagen,

die mir die Mannheit zerfressen,

daß ich ermattet sinke

aus der Umarmung der Arbeit ...


Und Du, Hoffnung,

Allerbarmerin,

totgeglaubte,

willst auch Du mir wiederkehren?

Quelle:
Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 57-61.
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