Böser Traum

[107] Was kannst du gegen Träume, Mensch, die tückisch

selbst auch den Männlichsten mit Engelshänden

oder mit Teufelsfäusten in den Himmel

samt Hölle seines Kinderglaubens führen?

In solchem Traum erschien mir heute Nacht

der böse Feind und sah mich furchtbar an.

Er hatte das Gesicht von einem Freunde,

mit dessen Weib ich einiger bin als er,

und setzte auf mein wehrlos Herz ein Messer

und sprach – nein, was er sprach, vergaß ich schon.

Er sah mit Wollust, wie die rostige Spitze

auf meiner Haut im Takte meiner Pulse

sich hob und senkte, sah mich gierig an.

Ich aber bohrte meine blauen Augen

in seine braunen tief empor und sagte:

Wenn du mich kenntest, zögertest du nicht.[108]

Und als sein Blick ineins mit meinem sank

und bläulich wurde, dacht' ich: Wärst du nicht

der böse Feind, so müßtest du mich lieben,

ich habe dich von einer Last erlöst.

Was ich dir nahm, ist niemals dein gewesen;

was du mir nehmen kannst, war niemals mein.

Doch wenn du mußt, so töte mich! mein Tod

wird dir viel weher thun als je mein Leben,

das Keinem weher that als mir. Wach auf!


Quelle:
Richard Dehmel: Weib und Welt, Berlin 1896, S. 107-109.
Lizenz:
Kategorien: