Besuch

[111] Eine treue Seele lag

still zuhaus mit krankem Leibe;

zwischen ihren Fingern staken

zwei drei blühende Weidenzweige,

und die Sonne schien aufs Bett.


Zögernd rührte sich die Hand,

tastete nach meinem Haupt,

aus den sanften Blütenfasern

fiel der gelbe Samenstaub,

wie am Morgen unsrer Liebe.


Trat ein Mädchen blaß herein,

brachte eine blasse Rose,

legte die gebeugte Blume

nieder neben meinem Schooße,

wie zum Abend unsrer Liebe.
[112]

Folgte eine hohe Frau;

rot von Nelken eingefaßt

duftete in ihrem Arme

goldgelb eine Ananas,

wie der Mittag unsrer Liebe.


Und die treue Seele sprach:

Sieh, aus allen Himmelsstrichen

bringt mir heute deine Liebe

Frucht und Blüten und Gerüche.

Und ihr stiller Aufblick stach

uns ins Herz.


Quelle:
Richard Dehmel: Weib und Welt, Berlin 1896, S. 111-113.
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