2. Münzkraut

[441] Der Frühling naht, es streicht der Star

Am Söller um sein altes Nest;

Schon sind die Täler sonnenklar,

Doch noch die Scholle hart und fest;[441]

Nur wo der Strahl vom Felsen prallt,

Will mählich sich der Grund erweichen,

Und schüchtern aus den Windeln schleichen

Der Gräser lichter dichter Wald.


Schau dort am Riff – man sieht es kaum –

So recht vom Sonnenbrand gekocht

Das kleine Beet, vier Schritte Raum,

Vom Schieferhange überjocht,

Nach Ost und Westen eingehegt,

Mit starken Planken abgeschlagen,

Als sollt' es Wunderblumen tragen,

Und sind nur Kräuter, was es trägt.


Und dort die Frau an Riffes Mitten,

Ach Gott, sie hat wohl viel gelitten!

Sie klimmt so schwer den Steig hinan,

Nun steht sie keuchend, löst das Mieder,

Nun sinkt sie an dem Beete nieder,

Und faltet ihre Hände dann.


»Liebe Münze, du werter Stab,

Drauf meines Heilands Sohle stand,

Als ihm, drüben im Morgenland,

Sankt Battista die Taufe gab,

Heiliges Kraut, das aus seinem Leibe

Ward gesegnet mit Wunderkraft,

Hilf einer Witw', einem armen Weibe,

Das so sorglich um dich geschafft!


Hier ist Brod, und hier ist Salz und Wein,

Sieh, ich leg's in deine Blätter mitten;

Woll' nicht zürnen, daß das Stück so klein,

Hab's von meinem Teile abgeschnitten;

Etwas wahrt' ich, Münze gnadenreich,

Schaffens halber nur, sonst gäb' ich's gleich.
[442]

Mein Knab' ist krank, du weißt es wohl,

Ich kam ja schon zu sieben Malen,

Und gestern mußt' ich in Bregnoles

Den Trank für ihn so teuer zahlen.

Vier hab' ich, vier, daß Gott erbarm'!

Mit diesen Händen zu ernähren,

Und, sieh, so kann's nicht länger währen,

Denn täglich schwächer wird mein Arm.


O Madonna, Madonna, meine gnädige Frau!

Ich hab' gefrevelt, nimm's nicht genau,

Ich hab' gesündigt wider Willen!

Nimm, o nimm mir nur kein Kind,

Will ihnen gerne den Hunger stillen,

Wär's mit Bettelbrod, nicht eins

Kann ich missen, von allen keins!


Zweimal muß ich noch den Steig hinan,

Siebenmal bin ich nun hier gewesen.

Heil'ge Fraue von Embrun, wär' dann

Welk die Münze und mein Knab' genesen!

Gerne will ich dann an deinem Schrein

Meinen Treuring opfern, er ist klein,

Nur von Silber, aber fleckenrein;

Denn ich hab' mit Ehren ihn getragen,

Darf vor Gott und Menschen mich nicht schämen;

Milde Fraue, laß mich nicht verzagen,

Liebe Dame, woll' ihn gütig nehmen,

Denk, er sei von Golde und Rubin,

Süße, heil'ge, werte Himmelskönigin!«


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 441-443.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon