An ***

[27] Hoch durch die Wipfel der Bäume

Brauste der Frühlingssturm,

Und rauschende Lieder

Entquollen den Kronen.

Hier unten aber,

In weinblattumschatteter

Traulicher Laube,

War Götterfrieden

Und Götterstille.

Die roten Lichter

Der scheidenden Sonne

Durchtanzten neckend

Das Blättergewirr,

Und brachen sich schimmernd

Im Gold Deiner Haare.

Lichtdurchtränkt und sonnenumwoben

Erschienst Du mir

Wie eine Madonnengestalt

Des alten Venedigs.

Anmuttrunken und schönheitselig

Sah ich hinein

In die meerfluttiefen

Und meerflutblauen,

Leuchtenden Augen

Und sah durch sie

In eine reine, süße Kinderseele,

In die zum ersten Male[28]

Farbenglühend

Die Liebe einzog.

Und zaghaft, wie des Mondes matte Sichel,

Die über jenen abenddunklen Wäldern

Schüchtern aufsteigt,

Zog der Gedanke ein in meine Seele,

Das schattentrübe, elendvolle Dasein

Gleich einer schweren Fessel abzustreifen

Und zu den Ungeborenen zurückzukehren.

Das heitere Sonnenkind,

Das nie den Schmerz gekannt,

Es würde

Den dunklen Träumer schnell vergessen haben;

Er aber stürbe

Im seligen Bewußtsein

Reiner Liebe.


Quelle:
Felix Dörmann: Neurotica, München und Leipzig 1914, S. 27-29.
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