Weltlauf

[179] Was du gestern frisch gesungen,

Ist doch heute schon verklungen,

Und beim letzten Klange schreit

Alle Welt nach Neuigkeit.


War ein Held, der legt' verwegen

Einstmals seinen blut'gen Degen

Als wie Gottes schwere Hand

Über das erschrockne Land.


Mußt's doch blühn und rauschen lassen,

Und den toten Löwen fassen

Knaben nun nach Jungenart

Ungestraft an Mähn und Bart.


So viel Gipfel als da funkeln,

Sahn wir abendlich verdunkeln,

Und es hat die alte Nacht

Alles wieder gleichgemacht.


Wie im Turm der Uhr Gewichte

Rücket fort die Weltgeschichte,

Und der Zeiger schweigend kreist,

Keiner rät, wohin er weist.


Aber wenn die ehrnen Zungen

Nun zum letztenmal erklungen,

Auf den Turm der Herr sich stellt,

Um zu richten diese Welt.


Und der Herr hat nichts vergessen,

Was geschehen, wird er messen

Nach dem Maß der Ewigkeit –

O wie klein ist doch die Zeit![179]


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 179-180.
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