Zauberblick

[331] Die Burg, die liegt verfallen

In schöner Einsamkeit,

Dort saß ich vor den Hallen

Bei stiller Mittagszeit.


Es ruhten in der Kühle

Die Rehe auf dem Wall

Und tief in blauer Schwüle

Die sonn'gen Täler all.


Tief unten hört ich Glocken

In weiter Ferne gehn,

Ich aber mußt erschrocken

Zum alten Erker sehn.


Denn in dem Fensterbogen

Ein' schöne Fraue stand,

Als hütete sie droben

Die Wälder und das Land.[331]


Ihr Haar, wie 'n goldner Mantel,

War tief herabgerollt;

Auf einmal sie sich wandte,

Als ob sie sprechen wollt.


Und als ich schauernd lauschte –

Da war ich aufgewacht,

Und unter mir schon rauschte

So wunderbar die Nacht.


Träumt ich im Mondesschimmer?

Ich weiß nicht, was mir graut,

Doch das vergeß ich nimmer,

Wie sie mich angeschaut!


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 331-332.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1841)
Gedichte
Fünfzig Gedichte
Und es schweifen leise Schauer: Gedichte (Lyrik)
Sämtliche Gedichte und Versepen
Gedichte (Fiction, Poetry & Drama)