Vetterschaft

[12] Nach einer Abendunterhaltung

Sah jüngst ich einen alten Herrn,

Von unansehnlichster Gestaltung,

Der küßt ein Mädchen aus der Fern.


Dann kam er auf sie zugegangen,

Die Sitte schien mir äußerst bunt,

Und küßte zwischen beide Wangen

Sie grad auf ihren rothen Mund.


Das ist ein großes Glück auf Erden,

Ein Vetter schöner Basen sein!

Ein Vetter möcht ich gerne werden

Von also schönen Jungfräulein!


Er ist vorhanden, auszuüben

Ein herrlich Privilegium,

Er ist schon überm Graben drüben

Durch sein behaglich Vetterthum.


Und ist beneidenswerth vor Allen,

Denn fällts ihm eben bei, er küßt

Die schöne Base nach Gefallen,

Gerad weil er der Vetter ist.
[13]

Ach! könnt ich auf ein Augenblickchen,

Nur manchesmal, zu zweitallein,

So ein privilegirtes Stückchen

Von einem alten Vetter sein!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 12-14.
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