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[11] Kurz nach dieser kleinen Begebenheit starb der einzige und nächste Verwandte des Marxele, nämlich sein Vater selber. Er war ein sehr braver Nachtwächter[11] gewesen, das heißt, er hatte die Bürger selten in der Nachtruhe gestört, da er selbst des Nachts gerne schlief, sei es unter einem Baume, auf der Kirchenstiege, neben dem Hundestall der Krone, wo Bary und der Kater sich seinethalben nicht im Stroh rührten, oder sogar auf dem Bänklein des Polizeihäuschens, wo ihm der Landjäger nicht selten um Mitternacht ein Schnäpschen zum Fenster heraus reichte. Alarm hat er zeitlebens nie geschlagen und gewöhnlich erst an der Asche konstatiert, daß hier ein Haus gebrannt hat. Den Nachtgruß sang er, obwohl er nur noch zwei gelbe Zähne im Kiefer trug und kein ordentliches »s« mehr zustande brachte, ungemein lieblich, und ich erinnere mich wohl noch, wie wir drei Geschwister eidlich einander gelobten, den Schlaf im Bette so lange zu verhalten, bis der Nachtwächter sein Lied vor unserem Hause gesungen hätte, um einander morgens damit zu wecken. Seine Weise tönte besonders im Winter so geheimnisvoll von ferne, daß mir darüber die wunderlichsten Gedanken kamen und ich mich im Bett aufsetzte und träumerisch zum Fenster blickte, in das die mondweißen Kirchenmauern, der Schnee auf dem Kronendach und, ich glaube, hundert grünäugige Märchen mit hereinschauten. Ferner hörte ich das Lied des Nachtwächters wieder erklingen, vom untersten Dorfe herauf, endlich erreichten mich nur noch einige hellere Töne, ich wußte nicht mehr recht, sang es außen oder tief innen in mir, ich sank zurück in die weißen Kissen und schlummerte weiter.[12]

Das war Marxeles Vater, der alte Nachtwächter gewesen. Gott hab' ihn selig und geb' ihm einen ruhigen Posten, etwa auf einer der hintersten Zinnen der Himmelsburg, die weit ins Unendliche schauen und so recht zum gesicherten Schlafen eingerichtet sind.

Es meldete sich nun Andreas Marxele zum Nachtwächter an. Der Posten ward ihm sogleich zuerkannt. Er hatte schon für seinen Vater das Amt hie und da versehen, das heißt auf dem Bänklein und auf der Kirchenstiege geschlafen. Aber ohne das – und sogar wenn Andreas unbeliebt gewesen wäre, er hätte das Amt doch bekommen. Denn in unserm Dorfe erben sich alle Ämter vom Vater auf den Sohn fort, der Küster, der Ammann, der Weibel, der Armenvogt, die Schulräte, selbst der Vorbeter in der Kirche, mag der Sohn eine noch so dünne Stimme haben, und selbst der Kaminfeger, mag der Erbe noch so engbrüstig sein.

Das neue Amt paßte für Andreas indessen wie für keinen zweiten. Sein unruhiger, schwärmerischer, an tausend Geheimnissen herumgrübelnder Geist fand Freude an diesem Herumschweifen durch die von Nacht und Mond erfüllten Gassen. Er schlief während der Nachtfahrt nicht mehr, ging dafür ziemlich weit zum Dorfe hinaus, spazierte im nahen Wäldchen und freute sich an den Glühwürmchen im Grase oder an dem heimlichen Getue der Nachtfalter in den Büschen. Er wollte wissen, wie der nahe Weiher um Mitternacht aussehe, ob wirklich beim zwölften Stundenschlag aus seiner[13] Mitte Schaumringe sich emporkräuseln und der Dreizack eines Wassergeistes heraus lange, oder ob man gar über den Spiegel gebeugt jene nackten, armen Seelen auf dem tiefen Grunde erschauen könne, die nach der Volkslegende sich in Wein und Schnaps versündigt haben und nun immer Wasser schlucken müssen.

Und vom Hügel aus sehen wollte er, wie das große Dorf sich nachts von da oben ausnehme, wenn die Sterne nur ganz kümmerlich wie tief herunter geschraubte Laternchen brennen. Man konnte dann die Gebäude kaum voneinander unterscheiden. Die schwarzen Massen der Dächer verschwammen ineinander, wie die Rücken einer dichtgedrängten Herde von Kühen und Kälbern. Nur den Kirchturm und das breite Dach der Krone, die gewaltige Linde auf dem Friedhof und den kaltblinkenden Spiegel des Weihers mochte man herausfinden.

Schweifte dann der Mond aus einer Wolke hervor, dann fiel es wie Gold über die Dächer, dann blitzten die gotischen Fensterbogen der Kirche mit den Guckscheiben der Bauernhäuser, den glatten, grauen Schindeln und den Weidenblättern am Bache um die Wette. Während die eine Hälfte der Gassen im tiefsten Schatten lag, in einem Schatten, der genau die Formen der Häuser und ihrer vorspringenden Giebel zeigte, – lag die andere Hälfte in goldigem Flimmer da, und man sah jede Katze, die in Minnediensten darüber lief, und die fliegende Zeichnung jeder darüberschwebenden[14] Fledermaus haarklein. Das Wasser im Bächlein hörte man kaum, weil es so tief und leicht zwischen den Gräsern floß. Aber die drei Brunnenröhren klangen um so lauter von den unermüdlichen Wassern, die sich schräg ins steinerne Becken gossen. Wie ein Terzett ungebrochener Stimmen, zweier Mädchen und eines Knaben, scholl es. Je nach der Richtung des Windes hörte man auch das tiefe, leise Rauschen des weit unter dem Dorfe in einer Schlucht dahinziehenden Flusses. Zwischen hinein ertönte ein Glockenschlag, langsam und feierlich, und einmal des Nachts hörte man aus stundenweiter Ferne den Schnellzug durch die Gefilde rasen. Wie ein kurzer, scharfer Trommelwirbel brummt es, und dann merkt man erst recht, wie man hier so ganz außerhalb der Zeit und gleichsam im Rücken der Welt liegt.

Andreas sann und träumte viel in solchen Nächten. Er sprach mit den Ahnen auf dem Friedhof und mit den Rittern des alten Schlosses, das in seiner zerbröckelten Armut auf einem kleinen Hügel stand. Und da war es, wo seine Seele Kraft und Mut sog, um in eine kleine und verdrehte Zeit große Worte zu werfen.

Um drei Uhr ging er heim, Tannennadeln im Haar und Harz an den Ärmeln. Dann schlief er bis acht Uhr, wohl auch bis zwölf, rüstete sich sein Junggesellenmahl und unterhielt sich dann ein Stündchen vom Fenster aus über die Gasse mit den Nachbarn, indem er zweimal[15] den Hundekopf seiner Pfeife ausrauchte. Hernach wurde ein wenig gelesen, wieder gewoben und nach dem Kaffee, den der Nachtwächter sich im Tage dreimal braute, legte er sich von sechs bis neun Uhr wieder aufs Ohr. Gegen zehn Uhr erhob er sich, und ebenso wach und ebenso neugierig ging er auf die alten Posten wie ein Astronom auf seine Sternwarte steigt und diese Nacht sicher einen Planeten erster oder doch mindestens zweiter Größe zu entdecken hofft.

Was Meister Andreas die Woche über entdeckt hatte, das wurde das Dorf am Sonntag gewahr. Dann sprudelte er eine Unmenge von Sagen und Märchen aus und erzählte von den alten Schloßherren so genaue Geschichten, als ob er ihre Tagebücher gelesen hätte. Er malte den Leuten die Farben der Mondnacht, das Leben des Nachtgeflügels, die Geräusche der Mitternacht und die gespensterhafte Stimmung des schlafenden Dorfes so aufgeregt vor, daß man nur hören und immer nur hören mochte und den Wächter um sein Amt oder um die Phantasie beneidete, die so viel aus diesem Amte zu machen wußte.

Besonders aber, wenn das Volk zur Gemeindetagung gerufen wurde, erkannte ein jeder, der nicht mit ewiger Blindheit geschlagen war, was man an Meister Andreas für einen wohlbedachten, im ernsten und einsamen Studium der Nacht gereiften Volksmann habe. Er allein wagte aus dem Ringe des stumpfen und so geduldigen Volkes heraus den Herren Oberhäuptern die Meinung[16] zu sagen. Wenn der Ammann einen Vorschlag einbrachte, so nickte ein Ratsherr nach dem andern: »Stimme zum Antrag!« – »Unterstützt!« – »Einverstanden!« – Ein gewöhnlicher Dörfler durfte da nichts einwenden und senkte den Kopf, wenn es vom Präsidentenstuhl her hieß: »Die geehrten Bürger sind überhaupt angefragt!« – Teils hielt sich der gemeine Mann für zu dumm oder ihn ängstigte die angeborene Scheu; teils fürchtete er, nicht die nötigen Worte und die richtigen Sätze zu finden. So brachte der Kirchenpräsident die Steuern vor, die Stuhlordnung, die Renovation der Kirche und den Bau eines neuen Ofens beim Kaplan, der immer friere – (in Wirklichkeit war es nicht der Kaplan, sondern seine Köchin, die auf einen neuen Ofen drang, weil das Wärmerohr des alten schief laufe, so daß alle ihre sonst vorzüglichen Kuchen auf der einen Seite zu fett, auf der andern zu mager gediehen!) – und peitschte jeden Antrag beim willigen oder widerwilligen, aber immer gehorsamen Volke durch. Und so diktierte der Ammann das Kopfgeld, die Fronarbeiten am Schulhause, verhinderte den Ankauf einer neuen Spritze und leitete die neue Straße gerade an seinen Äckern vorbei, wobei er die Wegmauer seinem Vetter zuhielt, der ein Pfuscher im Maurerfache war. Einige Bürger, die gerne widerstanden hätten, fingerten in der Hose am Sacktuch, an der Dose, an den Hausschlüsseln herum und klemmten sich wohl gar ins Bein, wenn die Steuer zu hoch[17] bemessen und die öffentlichen Arbeiten zu gevattermäßig verteilt wurden. Aber das war auch ihre ganze Heldentat. Erst am Abend in der Krone schlug man die Faust auf den Tisch und stülpte mutig das Glas um.

Nicht so Andreas Marxele. Er besaß den Mut des Widerstandes, diese göttliche Gabe der Volksfreiheit. Mit dem Zeigefinger rieb er sich nur ein wenig die grauen Äuglein, wie um klarer zu sehen, und begann dann mit den Worten: »Herr Präsident, Herren Genossen!« – alles zu sagen, was ihm nicht gefiel. Er sagte es mit einer dunkeln, glatten, gleichsam geölten Stimme. Aber sehr deutlich hörte sich seine Rede an, und Wort folgte auf Wort mit der Regelmäßigkeit des Tick-Tack an der Uhr.

Begann zum Beispiel bei den Wahlen die Komödie der Abdankungen, dann durfte das hohe Ratskollegium auf ein gründliches Spottverslein rechnen. Ja, einmal, als der Ammann wieder üblicherweise erklärte, er könne unmöglich das Amt wieder übernehmen, er sei zu alt, seine Gaben unzureichend, er wünsche einen bessern Nachfolger und danke – hier wurde seine Stimme weinerlich – für das fünfzigjährige Zutrauen seines lieben, ihm stets ans Herz gewachsenen Dorfes – als er dies gesagt und sich in der allersichersten Erwartung niedergesetzt hatte, nun erst recht einhellig wiedergewählt zu werden, – da war Andreas unverfroren genug, die Sache ernst zu nehmen und den Finger emporzustrecken.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 11-18.
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