1

[91] Wie viele glänzende Fünffränkler sind mir schon durch die Finger gegangen! Rund sind sie und rollen weg und rollen zu, – und wenn einem am Abend des Lebens noch einer zur Zehrung der letzten Stunden bleibt, ist's gut und ist's auch genug. Aber ein ehrlicher muß es sein.

Springt mir – doch nein, es pressiert ihm ja nicht! – spaziert mir so ein Silbermond in die Hand, dann schaue ich flugs, was für ein thronendes Wesen er trägt. Ist es die freie Mutter Helvetia, so lacht mir mein eidgenössisches Herz im Leibe. Obwohl sie ein so rauhes und steifes Gesicht macht wie eine junge Stiefmutter, wenn sie zum erstenmal in die Stube voll Stiefbuben und Stiefmädchen blickt und merkt, daß dies Geschlecht schwer zu bändigen ist und gleich tiefe Augen macht und die Knochen hart in die Wangen springen läßt: – es muß eben doch meine richtige Frau Mama sein und wer's nicht glaubt, der sehe einmal ringsum die Urnerberge und vor allem dieses Weibes goldene Bernerzöpfe an! Ist das nicht helle, dicke Schweiz? – Die Welschlandkönige, Sohn, Vater und Großvater lassen ihren Schnurrbart zugleich mit ihren Staatsschulden weit über die Münze hinauswachsen. Das stört mich wie alle Prahlerei.

Wogegen der dritte Napoleon mit seinem spitzen Bärtchen und Ludwig XVIII. im Behagen seines Doppelkinns mich weder kalt noch warm machen.[91]

Aber gern seh' ich das lange, verlebte Gesicht des belgischen Leopold. Nicht als ob ich für diesen eisigen Monarchen schwärme, – da wäre ich wohl ein selten dummer Hans. – Aber an dieses Silbergeld knüpft sich ein sündiges Abenteuer meiner Jugend, das ich nie vergessen kann. Unter den Augen des belgischen Leopold habe ich meinen ersten Diebstahl verbrochen. So oft ich nun den Fürsten sehe, erröte ich, selbst heute noch, wo ich glaube, daß auch die Könige zuweilen vor uns erröten dürften. Und jedesmal wird mir doch wieder seltsam leicht. Denn es war auch mein letzter und schwer gesühnter Diebstahl.

Das schöne Silber lag im Papierkorbe von einem dicken, gelben Briefumschlag zugedeckt. Die Mappe unter dem Arm, wollte ich eben in die Vormittagsschule. Gerade hatte ich eine Rechnung, die ich selber nicht zu lösen vermochte, noch rasch aus dem entlehnten Hefte meines Mitschülers Jakob Bronn abgeschrieben und dabei wie immer den Daumen und Zeigefinger mit Tinte beschmutzt. Solche Hände aber konnte Lehrer Philipp Korn nicht sehen. So spie ich denn recht bubenhaft in einen Fetzen Papier, wusch die Flecken vom Finger und wollte das zerknüllte Papier in den Korb werfen, als mir das gleißende Geld aus der Tiefe wie ein Dämon entgegenflimmerte.

Ich ging damals ins zwölfte Jahr. Meine Mutter führte nach dem Tode des Vaters ein ernstes, schweigsames Regiment über mich und meine beiden Schwestern.[92] Wir liebten sie in aller Heimlichkeit. Nach außen wagten wir aber nur Achtung und Furcht zu bezeigen. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit der leicht geröteten Wange, den ernsten Brauen, den dunkelsten Augen, die ich je gesehen habe, Augen, deren goldbrauner Stern sich mit seinem Lichte gleichsam nach innen wandte, und dazu eine Stimme, die jedes Wort deutlich aussprach, aber nie wiederholte, – das flößte von selbst Respekt ein. Besonders aber von der glatten, hellen Stirne, über der das schwarze Haar glatt den Scheitel hinaufgekämmt war, schien mir jene strenge, scharfe Luft zu wehen, die um die Gipfel der Berge herrscht.

Sie hatte viel Ungemach des Lebens ertragen. Aber wir erfuhren nichts davon. Das war für uns ein siebenmal versiegeltes Buch. Wir hätten uns nicht einmal getraut, das Siegel zu berühren.

Und diese Mutter hielt uns knapp. Wohl war der Tisch genügend, aber nie sah man eine Leckerei aufgetragen. Wir wurden in warme und dauerhafte Kleider gesteckt, aber nie durfte der Kragen meines Röckleins mit Samt besäumt oder mit Seide gefüttert sein, wie Jakob Bronn auf dem Gasthof zur Krone und an dere Bürschlein die Jacke trugen. Für unsere Ausbildung waren die Mittel sogar reichlich bemessen, aber auch da gab es keinen Luxus, und sowie sich zeigte, daß ich auf dem Klavier nur ein höchst mittelmäßiger Spieler und mit dem Pinsel nur ein Pfuscher würde, hörten die Stunden beim Kaplan sogleich auf.[93]

Vor allem aber für die süßen Verlockungen der Kinder an den Buden und Kramladen und für kurzweiliges Spielzeug hatte die Mutter keinen Nickel übrig. Selbst auf dem Weihnachtstisch wieherte nie ein hölzernes Pferd und lagerten keine braunen Beigen von Schokolade, sondern da gab es Bausteine zum Zusammenfügen und geographische Rätselspiele, Zeichnungsvorlagen, neue Lesebücher und Federschachteln. Taschengeld erhielten wir nicht, und das schmerzte uns sehr. Denn die reicheren Kinder – und Lachweiler ist ein sehr vermögliches großes Dorf – führten immer welches mit sich und behaupteten damit ein unbestreitbares Übergewicht über die Genossen. Nur am Sonntag nach dem Gottesdienst, wenn unsere Aufführung in der Kirche tadellos gewesen war, händigte uns dreien die Mutter je dreißig Rappen ein, woraus wir täglich in der Vormittagspause ein Fünferbrötchen bei der Bäckerei des Kronenwirtes kaufen konnten. Aber gewöhnlich hatte ich die Barschaft schon am Dienstag verpraßt.

Doch da lag nun kein gemeiner Fünfräppler, sondern ein echter Fünffränkler vor mir im Korbe. Ich stutzte. Die Münze mußte wohl meiner Mutter unversehens mit dem gelben Briefumschlag in diese Fetzen geraten sein. Sie würde also, wenn ich sie nicht bemerkt hätte, auf den Kehricht geworfen und wäre verloren. Ich könnte sie daher wohl zu mir stecken. Die Mutter litte keinen größeren Schaden dadurch. So erwog ich rasch mit der wunderbaren Logik der Sünde,[94] die den Kindern ebenso tüchtig wie den Ergrauten ins Gehirn schießt.

Hastig schaute ich mich nach den Fenstern und der Türe um, ob jemand zusähe, langte blitzschnell hinunter und schob den Taler in meine Hose, indem ich dazu hüstelte, als ob mir was in der Kehle stecke. Es summte mir im Kopfe und mir ward heiß und schwindelig. Rasch sprang ich die Stiege hinunter, viel zu scheu, um nochmals zurückzublicken, und pfiff dazu, wiewohl mir die Lippen zitterten: »Ich hatt' einen Kameraden«. Das Singen lief mir leicht vom Munde, aber beim Pfeifen geriet mir die einfachste Weise falsch. Ich merkte es zwar nicht oder wollte es nicht merken. Denn ich wollte um jeden Preis pfeifen. Pfeifen war Bubensache, singen mochten die Zöpfe! Jetzt aber merkte ich selber erschreckt, wie außer allen Noten ich das Marschliedchen spielte.

Ich ging nicht, nein, ich floh zur Schule, als könnte man mich zurückrufen und untersuchen. Das Geldstück hielt ich mit der rechten Hand in der Tasche fest; es wurde allmählich ganz warm. Weder nach rechts noch nach links wagte ich einem Fußgänger ins Gesicht zu blicken. Denn ich glaubte, alle sähen mich sehr argwöhnisch an. Ich fühlte ihre Augen, sie stachen mich förmlich. Würde ich den Blick erwidern, man sähe mir sogleich den Dieb an.

Wir wohnten am Kirchplatz nächst dem Schulhaus. Nun hatte man in den Herbstferien dieses gebrechliche[95] Gebäude leidlich aufbessern wollen, wenngleich jeder rote Heller an diese Baracke wie weggeworfen schien. Denn die Lachweiler setzen ihren Stolz darein, seit hundert Jahren kein neues Haus errichtet zu haben. Ihre Privathäuser sind denn auch wahrhaft von festgefügtem Stein und dauerhaftem Holz gebaut; aber die stärkste Natur erliegt zuletzt dem Alter! Noch mehr gilt das von den Gemeindehäusern, die weit sorgloser erstellt und unterhalten wurden. Wollte nun die hinfällige Küsterei vornüberfallen, so wurde die Front auf jede erdenkliche Weise mit neuem Balkenwerk gestützt, bis das arme Haus nun hintenüber zu stürzen drohte. Jetzt wurde es im Rücken bearbeitet, gestoßen, gereckt, wie ein buckliger Patient, bis es schließlich wieder sich gegen die Straße neigte. So hing auch das Schulhaus zwischen Leben und Sterben. Diesmal hatte es weder nach hinten, noch nach vorne, sondern mitten in sich selber vor Schwäche zusammenbrechen wollen. Es schwankten die Fußböden, es rissen die Balken, und die Stützen im Keller neigten sich schief, wie die Nase des Lehrers Philipp Korn. So war man denn mit Seufzen an eine gründlichere Erneuerung des Gebäudes gegangen. Man hoffte bis zum Schulbeginn damit fertig zu werden. Aber der undankbare Patient zeigte Tücken. War auf einer Seite geholfen, so offenbarte sich urplötzlich von der anderen ein boshafter Schaden, – und ward auch der kuriert, so platzten nun an zwei Stellen zugleich verborgene Gebrechen heraus. Man mußte an einen[96] Kranken denken, der Bauchgrimmen bekommt, wenn der Magen hergestellt ist, und Kopfweh spürt, sobald man die Bauchschmerzen gestillt hat, weil eben seine ganze Natur verdorben ist.

Uns Jungen war es recht, zu unterst ins Dorf hinunter zu laufen, wo eine Doppelstube im alten Schmithaus nun für den Notbehelf zur Schule eingerichtet worden war. Als der alte Schmitmatis ohne Erben starb, vermachte er das weitläufige Haus der Gemeinde, um darin ein kleines Dorfspital zu errichten. Aber das Haus blieb leer. Denn die Lachweiler sind sehr gesunde und zähe Leute und halten sich aufrecht, solange noch ein Knöchlein hält. Auch haben sie in ihrem fleißigen Sinne nicht Zeit, lange krank zu liegen. Legen sie sich nun hellen Tags zu Bette, so kann man hundert für eins nehmen, daß sie den Tod schmecken. Die letzten zwei, drei Tage würden sie aber um keinen Preis anderswo als in ihrer wenn auch noch so dürftigen Kammer zubringen, wo an der Wand ihr Taufbild in Glas und Rahmen hängt, wo über dem Kopfe ein geliebtes Porträt und ein alter frommer Kupferstich angebracht sind, und wo sie auch wissen, an welchem Nagel ihre Hosen hängen und unter welchem Stuhle ihre Schuhe stehen, um sie gleich für die lange Wanderung auf der ewigen Straße bei der Hand zu haben.

Zwei Straßen führen in das Dorf hinunter: die Ringelstraße schlängelt sich verschmitzt zwischen den Häusern zum linken Zipfel des Weichbildes, wo das[97] Ammannhaus die Gasse beschließt; auf der Hauptgasse aber gelangt man zum rechten Ende der Ortschaft, wo das Schmithaus in der äußersten Zeile steht. Ungefähr in der Mitte des Weges liegt der halb mit Gras, halb mit Kies bedeckte Marktplatz, ein großes Viereck, wo zu Martini aus allen umliegenden Weilern und Dörfern das käufliche Vieh zusammengetrieben und unter haarsträubendem Lügen und Fluchen feilgeboten wird. Rechts hält sich mit verzweifelter Liebe zum Leben das alte Arresthüttlein noch in seinen morschen Knochen aufrecht, so gut es geht; links hatte der Dorfverschönerungsverein zwei Bänklein angebracht, die nicht mehr angestrichen wurden, weil die Martiniochsen die Farbe abgeleckt hatten und der Gemeinderat sich weigerte, auch nur eine Kupfermünze an die Möbel zu geben, die ganz gegen seinen hohen Willen dahergesetzt worden seien. – Über diesen Platz kam ich nun mit meiner Mappe und dem Taler in der Tasche.

Die Münze fing mich an zu brennen. Sollte ich nicht umkehren und sie wieder in den Papierkorb werfen? – Ich ahnte unklar, daß dieses Geld mir weit mehr Ungelegenheiten als Freuden verursachen werde. Wo konnte ich es auf die Länge verstecken? – Wenn ich es immer in der Hand behalte, immer in der rechten Tasche, so wird man merken, daß ich da etwas verstecke. Ich zog also die Hand aus der Tasche, aber sogleich wurde mir bange, ich könnte das Geld verlieren oder eine fremde Hand greife mir unversehens in die Tasche[98] und zeige den Taler: »Seht da, einen gestohlenen Fünffränkler trägt das Bürschchen mit sich herum!« Sofort schlüpfte ich mit der Rechten wieder in die Hosentasche und umklammerte die Münze noch fester.

Gewöhnlich befanden sich auf dem Marktplatz während des Tages zwei Männer, ohne die wir Knaben uns diese Stätte so wenig vorstellen konnten, wie ein Zifferblatt ohne die beiden Zeiger. Der kleine Zeiger, das war ein Bettelmännchen mit krummen, kurzen Beinen, tauben Ohren, weinerlicher Stimme, einem vollständigen Kahlkopf und einem so verzogenen und verschnörkelten Munde, daß man glaubte, das Männchen könne ihn leicht zu einem Knoten oder zu einer Masche verknüpfen. Das ganze kleine Gesicht war so verschrumpft, aber noch hellfarbig, daß man an einen kleinen, wohlgelagerten Apfel im März oder April denken mußte, der in der gerümpften Hülse noch Farbe und Geschmack bewahrte. Dieser Krüppel bettelte mit hergehaltenem Hute Almosen von den Vorübergehenden; auch von uns Knaben, die wir regelmäßig mitleidslos vorübergingen.

Auf der andern Seite, dem Arresthäuschen entlang, spazierte der große Zeiger, ein alter, langer, pfeilgerader Polizist, mit einem ergrauten, dicken Schnurrbart, den er immer in den Mund zog. Sein Kinn war violett und in der Mitte gehackt. Unablässig, wie ein Vogel, bewegte er die kleinen, runden Augen. Die Hände in den Taschen, den Kragen aufgesteckt, den Schild seiner[99] verblichenen Mütze aus den neapolitanischen Diensten in die Stirne gedrückt, musterte er die Vorübergehenden wie ein Gott, der Herz und Nieren durchschaut.

Es war ein kalter Januarmorgen. Der gefrorene Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Über den Dächern lag ein feiner Nebel und verwehrte den Himmel. Allmählich floß er zwischen den Häusern wie ein weißer duftiger Vorhang herunter, und in seinem Zwielicht erschien mir der Polizist zweimal so groß als sonst.

Bisher war mir der »Herr Hauptmann« – so betitelte man ihn aus irgendeinem neapolitanischen Andenken – sehr harmlos vorgekommen. Ja, wir Knaben erdreisteten uns sogar, Witze über den Gestrengen zu verbrechen, wobei wir nicht am Hauptmannskäppi und am vergilbten Kragen stehen blieben, sondern sogar am Ledergürtel und dem gefährlichen Säbel rüttelten. – Nun aber, wie von selbst, fühlte ich, daß mich dieser Mann sehr viel angehe; er wuchs in meinen Augen sogleich zu einer ernsthaften Macht heran. Der Glanz seines Mützenschildes und seines Säbelgehänges war mir furchtbar. Jetzt kehrte er mir den Rücken. Wohlan, nun vorwärts! Vielleicht, daß ich unbeachtet durchkomme. O Gott, da wendet er sich auf dem Absatz, das eine Bein militärisch vorstreckend, und schaut geradeswegs auf mich. Nun wird er kommen und fragen: ›Junge, was versteckst du da in der Tasche? Heraus mit der Hand!‹

›Herr Hauptmann, es ist nur ein – ein Hosenknopf!‹[100]

›Zeige mir diesen Hosenknopf!‹

›Ach nein, es ist nur eine – eine – eine Kupfermünze!‹

›Her damit!‹

›Das heißt, sie ist von Silber – ich habe sie gefunden – ich –‹

Entsetzlich, es wird unmöglich sein, die Sache zu verheimlichen! – ich konnte sehr viel Schlimmes tun: schlagen, beißen, quälen, ausspotten – aber lügen konnte ich nicht. Nicht, weil ich es etwa nicht gewollt oder versucht hätte, – aber jedesmal fing ich an, rot wie eine Rübe zu werden, zu stottern, und das verriet mich.

Indessen kam es nicht zu dem gefährlichen Examen. Der Polizist drehte sich wieder mit energisch vorgestrecktem Bein nach der andern Seite.

Mit der Linken wischte ich über die Stirne. Sie tropfte von Schweiß.

»Ich friere und hungere, lieber Herr!« wimmerte es neben mir.

Obwohl der Krüppel sich kaum besinnen konnte, daß ihm einmal ein Knabe ein Kupferstück in den Hut geworfen hatte, der Walomer Theodor vielleicht an der Fastnacht im Übermut seines Reichtums und der verrückten üppigen Tage – so hielt er doch seinen vom Alter grünen, schäbigen Filz jedem Buben hin. Auch mir jetzt. Wie ich ihn so sah, huschte mir der Einfall durch den Kopf, das Fünffrankenstück in diesen Hut zu werfen und davonzuspringen. Da wäre ich der Last[101] ledig, und die Sünde – die Sünde wäre wohl in Gnaden verziehen.

Aber der Bettler sah durchaus wie ein Ehrenmann aus. Er würde staunen, daß ein so geringes Bürschchen so schweres Geld hinwerfe. Er würde das Almosen zurückweisen. ›Das hast du gestohlen,‹ würde er unfehlbar sagen. ›Ich nehme kein gestohlenes Geld an!‹ Ja, er könnte wohl den Polizisten herüberwinken, und dann wäre alles verspielt. Nein, das ging nicht!

»Ich hungere und friere,« rief es geduldig nochmals.

Gott! und ich hatte einen Fünffränkler und wußte nicht, was damit anfangen und konnte ihn ihm doch nicht geben.

Mächtig hatte ich gefrühstückt, und ich trug unter dem schottischen Wams ein wollenes Leibchen. Meine Kappe aus echtem Fuchspelz ließ sich infolge eines beliebten Schneiderwitzes wie ein Visier über Ohren und Kinn herunterziehen, so daß nur die Augen, die Nase und der Mund noch ein wenig hervorguckten. Dennoch hatte ich gestohlen! Aber der Krüppel hier trägt ein fadenscheiniges Röcklein, das er vorne, wo die Knöpfe abgerissen sind, vor dem Luftzug immer wieder mit den gichtischen Fingern zusammenklemmen muß. Seine Schuhe sind rot und schief getreten und die Hosen aus elendem Zwillich. Er hat vielleicht noch nichts Warmes genossen. Dennoch, er stiehlt nicht. Nicht einmal für ein Fünferbrötchen oder ein Süppchen! – Er hält lieber den Hut her und wiederholt zum hundertstenmal[102] seine demütige Bitte: ›Ich hungere und friere, lieber Herr!‹

Und ich stehle!

In diesem Augenblick kam ich mir so schlecht und so niedrig vor, daß ich Mühe hatte, das Schluchzen zu verhalten, das mir die Kehle heraufwürgte. Eine Übelkeit stieg mir vom Magen auf wie nach einer schlechten Speise.

Es war Samstag. Wie schade, daß ich schon am Montag mein Wochengeld für drei Marken, das Braunschweiger Rößlein, den persischen Löwen und eine Amerikanerin, die sich nachher als eine unechte Stempelmarke entpuppte, ausgeworfen hatte. Alles hätte ich dem Bettler hingereicht.

»Ich hungere und friere, junger Herr!« rief es zum drittenmal im Rücken nach, genau so geduldig wie die ersten Male.

Plötzlich erscholl ein schriller Pfiff. Ich zuckte zusammen. Dann lief ich weiter. Das galt sicher mir. Ich wollte tun, als merke ich nichts.

Ein noch schärferer Pfiff.

»Halt' ihn!«

Wie atmete ich auf! Das waren ja meine Kameraden Theodor Walomer und Joseph, die eine Seitengasse heraufsprangen, Joseph voran. Der kleine schmächtige Bursche packte mich am Ärmel, während der befehlshaberische Theodor hinterher kam und mich am Genick faßte. »Gefangen!« schrie er. »Hörst du[103] nichts? Kannst du nicht warten, wenn wir pfeifen? – Strafe!«

Mit einem kräftigen Ruck riß ich mich los.

»Strafe!« wiederholte der willige Joseph Ilsig, ein wahres Knechtlein seines Herrn und Gönners Theodor Walomer.

»Hast du die dritte Rechnung gelöst, Heireli?« fragte nun viel milder der Walomer. »Wir haben den Schund nicht fertig gebracht.«

»Ich hab' sie,« entgegnete ich etwas verlegen.

»Sicher vom Jakob abgeschrieben! He?«

»Ja.«

Theodor wagte darauf nichts zu sagen, doch rümpfte er hochmütig sein Näschen.

»Wie ist's denn mit dem Apfel?« fragte er weiter.

»Ja, wie ist's?« wiederholte Joseph.

Man sollte nämlich drei Achtel Apfel so teilen, daß die sieben Schüler unserer Klasse ein gleich großes Stück und der Lehrer ein doppelt so großes empfinge. Ich erklärte nun, wie Jakob die Aufgabe ausgeführt hatte.

Theodor zog seine schwere, silberne, am Rücken mit einem Jägersmann und seinen Hunden gezierte Uhr, um die ihn alle zwölfjährigen Knaben und ich wohl am meisten beneideten, nachlässig aus der Westentasche. »Noch zehn Minuten!« las er ab. »Hier,« gebot er und legte die Mappe auf die Gartenmauer des Bauern und Ratsherrn Jeremias Sonder. »Diktiere[104] uns schnell die Rechnung! Wir haben noch hübsch Zeit dazu!«

Beide Knaben zogen ihr Heft aus der Mappe und schrieben meine Angaben nieder.

»Mein Lebtag hab' ich noch nie auf gefrorenem Schnee geschrieben, das ist lustig,« sagte Theodor lachend.

»Aha, drei Achtel in neun Teile zerlegen,« sagte Joseph, »wie einfach!«

»Gibt drei Zweiundsiebzigstel,« las ich vor.

»Da muß man abkürzen,« bemerkte Theodor, der die Sache nun begriffen hatte. »Jeder Schüler erhält einen Vierundzwanzigstel.«

»Faule Buben!« schrie der Ratsherr lachend. Er ging eben zum Bienenstand. »Müssen die Aufgaben noch auf dem Schulweg machen!«

Ich und Joseph erröteten, Theodor aber fuhr unbekümmert fort: »Der Lehrer erhält ein Zwölftel vom Apfel. – Daß er ihm doch im Halse stecken bleibe!«

Auch diese Kürzung schrieb ich nach.

»Und bei der vierten Rechnung, was hast du da herausbekommen?« fuhr jener fort.

»Drei Kühe, vier Ziegen, fünf Schweine und sechs Schafe, wovon du das größte bist,« fügte ich schnell ohne alle Bosheit hinzu. Wenn mir etwas Spaßiges in den Sinn kam, mußte ich es herausrülpsen, mochte es mir noch so große Beschwerden verursachen.

»Immer noch lieber ein Schaf als ein Schwein!« versetzte Theodor und zeigte neckisch auf meine Tintenkleckse.[105] »Die Rechnung hab' ich auch so!« fügte er bei, während ich eifrig mit Schnee die Hand zu reinigen versuchte und noch immer auf eine gesalzene Erwiderung sann.

Aber Theodor war viel gutmütiger als ich und fragte nun, den Arm über meine Schulter schlagend, mit versöhnlich einlenkendem Tone: »Was macht Elschen? Gestern kam sie wieder nicht in die Schule.«

»Bah, ein wenig Kopfweh! So ein Mädchen hält dir keinen Floh aus!« machte ich großartig, obwohl ich ganz gut wußte, daß meine jüngere Schwester diesen Winter immer leidend war und es sich nicht bloß um einen Floh handelte. »Blase, und die fallen dir alle um!«

Wir lachten alle drei. Es gehörte zum guten Ton, die Mädchen recht stark zu verunglimpfen. Doch während die Buben von der fünften Klasse dies ausnahmslos taten, sonderte sich der Sechstkläßler bereits etwa eine Rosa oder Klara oder sonst eine Bevorzugte aus dem großen Haufen ab. Die Siebentkläßler jedoch nahmen schon nicht mehr an den Schimpfereien gegen die Zöpfe teil, – eine gewisse männliche Ehrfurcht begann sich in ihnen gegen das Weibliche zu rühren.

»Kommt sie bald wieder?« fragte der Walomer.

»Sie ging ja schon hinunter. Ich band mir gerade die Schuhe, als sie an der Kammer vorbeiging. Weißt du, sie geht wie ein Mäuschen, aber ich höre sie doch.«

»So?« machte Theodor gedehnt, augenscheinlich hätte[106] er gern noch mehr von Elschen gehört. Überall, wo er konnte, gab er meinem Schwesterchen, das zur vierten Klasse zählte, Beweise seiner bäuerlich groben, aber treuen Galanterie.

Wir hatten unsere Mappen zusammengeklappt und näherten uns dem Schmithause.

»Kommst du mit heute nachmittag?« fragte neuerdings Theodor, der nie ruhig sein konnte und sich gerade eine Flocke von der vollen roten Backe wischte.

»Was gibt's denn?«

»Wir gehen über den Melzberg zum See. Vielleicht ist er gefroren.«

»Aber du mußt den Schlitten auch mitnehmen,« fügte Joseph bei.

»Denn,« erklärte Theodor, »wir fahren über den Holzweg zum See hinunter. Meinst du, der See sei wirklich gefroren?« fragte er und schob seine roten geschwollenen Hände in die Tasche.

»Er ist jedenfalls gefroren,« bemerkte ich, »es ist ja furchtbar kalt.«

»Ja, sieh nur!« rief Theodor und zog den Atem an. Mit geschlossenen Lippen schnaubte er jetzt aus aller Macht, und siehe, zwei dichte blaue Wölklein flogen aus den aufgeblasenen Nasenlöchern.

»Hhhhhhoaaa!« machte er und blies eine dritte Wolke nun aus dem aufgerissenen Munde dem kleinen Joseph ins Gesicht, der ihn verwundert über seine Künste angestarrt hatte.[107]

»Ach was!« klagte der Bursche und wischte sich die Augen.

»Ich komme,« entschied ich indessen.

»Mit Jakob?« fragte Joseph endlich, der in jedem Stärkeren einen Feind witterte.

»Den brauchen wir nicht!« rief Theodor barsch.

»Doch, Jakob muß mitkommen,« meinte ich, »es wird lustiger.«

»Meinethalben, ich fürchte ihn nicht,« entgegnete der Walomer großmütig und spuckte aus zum Beweise, daß er den Gegner wirklich nicht fürchte.

Wir traten in den dunklen Gang des Schmithauses. In meinem knabenhaften Sinn hatte ich alle Besorgnisse wegen des Diebstahls auf einmal verloren. Jenes muntere, unternehmungsfrohe, mit hundert Kleinigkeiten so wichtig tuende Leben eines Jungen von zwölf Jahren hatte mich beim Geplauder mit Theodor und Joseph wieder in seine frische, kräftige Zugluft gerissen und mir alle Nachdenklichkeit genommen. Besonders beim Anblick des groß und schön gebauten Theodor, der von Kopf zu Füßen von Gesundheit und Mutwillen eigentlich leuchtete, war der Geist der Gasse, der Bubenstreiche, des knabenhaften Leichtsinns wieder über mich gekommen. Meine vorigen Ängste versanken in nichts, ich schämte mich ihrer. ›Da hab' ich nun einen Fünffränkler in den Hosen, der nicht mir gehört, das ist freilich wahr,‹ dachte ich; ›je nun, es wird sich schon zeigen, was sich damit machen läßt.‹

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 91-108.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon