[170] Die Marquise erwartete mich, aber ohngeachtet meine erste Empfindurg mich trieb, Heinrich zu fliehen, so war es mir dennoch unmöglich, diesen Abend ohne ihn zuzubringen, und um ihn nicht zu verfehlen, eilte ich sogleich auf sein Zimmer.
Alles, was ich hier fand, überzeugte mich von seinem unabläßigen Streben nach Vervollkommnung. Seine Papiere verriethen ein so tiefes und ausgebreitetes Studium, daß ich jetzt sehr wohl begriff: warum er sich des Morgens vor jedem Besuche verleugnete.
Endlich kam er, und ich sprang auf, um mich an seine Brust zu werfen. Aber[170] es war etwas so Hohes, Ueberirdisches in seinem Wesen, daß meine Arme unwillkührlich sanken, und meine Knie sich beugten. Wer wüßte, was ich gethan haben würde, hätten mich nicht Schaam und Stolz aufrecht erhalten.
Aber sie siegten und der Neid erwachte mit ihnen. Ich both ihm einen kalten guten Abend, entschuldigte mich, daß ich in seinen Papieren gekramt hätte, und eilte sehr übler Laune auf mein Zimmer.
Hier bestürmten mich eine Menge unangenehmer Empfindungen, und die Marquise würde sich eben nicht geschmeichelt gefunden haben, wenn sie gewußt hätte, was mich so spät noch zu ihr führte.
Ihr spöttischer Witz, der mit vormals so reitzend schien, dünkte mich diesen Abend beleidigend; bald waren wir in einer sehr unfreundschaftlichen Stimmung, und versöhnten[171] uns nur auf Kosten meiner Ruhe und meiner Gesundheit.
Diese hatte seit einiger Zeit merklich gelitten, und ich konnte mir nicht verbergen, daß das etwas zu lebhafte Temperament der Marquise die Ursach davon war.
Die Anmerkungen meiner Bekannten, – Heinrichs thränenvolles Auge, wenn ich nach einer leichten Geistesanstrengung mich erschöpft und muthlos fühlte – ach das Alles machte mich freylich für Augenblicke aufmerksam; aber dann rissen mich wieder Sinnlichkeit und Gewohnheit dahin, und bald fing ich an, an mir selbst zu verzweifeln. –
Ich war verlohren, wenn mich der Zufall nicht rettete.[172]