Neunundzwanzigstes Kapitel

[482] Erst um sechs Uhr – es war längst dunkel geworden, und nur der Schnee leuchtete – trafen unsere Freunde wieder in Nogat-Ehre ein, wo man ihrer Rückkehr seit Stunden in banger Erwartung entgegengesehen hatte, selbst von seiten Obadjas, zu dessen Lebensregeln es sonst gehörte, sich nicht mit Vorängstigungen zu quälen. Seltsamerweise war es diesmal Maruschka gewesen, die, während all dieser Stunden voll Angst und Sorge, das recht eigentliche Trosteswort gefunden hatte. Sie seien ausgefahren, so hatte die gute Alte gesagt, um dem Christkind einen Baum zu holen, und das Christkind werde die liebe Ruth auch schützen. Denn Ruth sei ein darling und ein pet, im Himmel geradesogut wie auf Erden, und die liebe Jungfrau Maria – Maruschka vergaß in ihrer Aufregung ganz Obadjas Gegenwart –, die liebe Jungfrau Maria wisse nur zu[482] gut, daß die alte Maruschka ohne Ruth nicht leben könne, und werd ihr das nicht antun. So hatte Maruschka getröstet, und Obadja, der wohl wußte, was ein treues und gläubiges Herz bedeute, auch wenn es in der alten Irrlehre stecke und seine Gebete bloß an die Heilige Jungfrau richte, hatte der Alten Hand genommen und mit bewegter Stimme gesagt: »Ja, Maruschka, du hast recht. Das Christkind wird unsere Kinder schützen.« Zeuge dieser Unterredung war auch L'Hermite gewesen, der schon seit Stunden unten war und beinah noch ängstlicher als die beiden Alten nach dem Gefährt auslugte, noch ängstlicher, weil sein Vertrauen auf eine Hilfe von oben, trotzdem er eben ein Christkind in Wachs bossiert und es einer gleichfalls von ihm herrührenden Jungfrau Maria in den Schoß gelegt hatte, ziemlich gering war. Nebenher aber verschwor er sich ein Mal über das andere gegen diesen preußisch-hyperboreischen Tannenbaumkultus, der an all dieser Angst und Sorge törichterweise schuld sei. Warum es denn durchaus eine Tanne sein müsse? Das sei nichts als eine bêtise allemande, deren Vater oder Urahne niemand anders als dieser wohlgenährte »Monsieur Luther« sei, ein Mann ohne Taille, so recht der Typus eines Deutschen, mit seinen Päffchen und seinem tête carrée. Schade, daß man ihn nicht zu Beginn seiner Laufbahn verbrannt habe, denn Ruth sei wichtiger als Luther.

Dieser Groll über den Tannenbaumkultus hielt aber nicht vor, ja, ging rasch in sein Gegenteil über, als man, tags darauf, den Baum ohne Rücksicht auf seine Wurzellosigkeit in eine mit kleinen Steinen und Erde gefüllte Tonne gepflanzt und beides, Baum und Tonne, neben dem in der großen Halle stehenden Eßtisch aufgestellt hatte. Ihn hier auszuschmücken war, von Stund an, die Freude aller, am meisten L'Hermites. Bis zu Mannshöhe machte sich dies leicht, dann aber mußten Stehleitern aushelfen, um zunächst, und zwar oben an der Spitze des Baumes, einen Weihnachtsengel anzubringen. L'Hermite, glücklich damit zustande gekommen, blieb eine Viertelstunde lang oben in seiner Höhe, während welcher Zeit Ruth[483] und Maruschka hinaufreichten, was alles in den voraufgehenden Tagen ausgeschnitten, vergoldet und versilbert worden war. Lehnert und Toby aber beschäftigten sich mittlerweile mit Herstellung einer transparenten Krippe, in deren Vordergrund alle die bekannten auf Pappe geklebten Christnachtfiguren standen. Nur einer der drei Könige aus dem Morgenland, der Alte mit dem Bart, war von L'Hermite plastisch ausgearbeitet worden und sah aus wie Obadja. Das alles geschah im großen Hause. Natürlich verhielt sich auch Mistress Kaulbars nicht träge. Sie buk, tagaus, tagein, ihre Mandel- und Rosinenkuchen, auch solche mit Ingwer und Kardamom, deren würziger Duft, trotzdem das Küchenwesen im Nebenhause lag, das ganze Vorderhaus durchzog. Zugleich rieb sie Mohnpielen und beschäftigte sich mit der Frage, wie Bierkarpfen auch ohne Bernauer Bier gekocht werden könne. Wie sich denken läßt, wurden auch Enten, Hühner und Gänse geschlachtet, und Totto saß in der Wintersonne und rupfte das geschlachtete Federvieh, das ihm die Arapahomädchen unter Lachen und kleinen Neckereien beständig zutrugen. Jeder im Hause nahm teil und freute sich, und am vierundzwanzigsten früh erschienen auch noch die beiden Missionsschulen, die von Krähbiel und die von Nickel. Denn für die Kinder dieser beiden Schulen war ja recht eigentlich das Fest.


Und nun war der Abend da, und Totto wurde beauftragt, um sechs Uhr an den großen Schild zu schlagen. Das tat er denn auch. Und nicht lange, so kam man von allen Seiten herbei: Maruschka, Ruth und Toby vom linken, Lehnert und L'Hermite vom rechten Korridor her, während Mister und Mistress Kaulbars die verschiedenen Mägde, Krähbiel und Nickel aber die Indianerkinder herbeiführten, Knaben und Mädchen, die man bis dahin im Tabernakel untergebracht und mit Tee bewirtet hatte.

Der große Flur (Totto noch immer unter dem Tamtam) war vorläufig Versammlungsplatz, und nun endlich öffnete Obadja die große Tür, und während einer der Lehrer auf dem Harmonium[484] spielte, das man zu diesem Zweck aus Ruths Zimmer heruntergeschafft hatte, trat alles in langem Zug in die Halle, wo der Baum mit seinem Christengel und seinen Lichtern stand, vor allem aber über die lange Tafel hin die hundert Geschenke ausgebreitet lagen: in der Mitte die der Hausgenossen und Gemeinde, links und rechts die für die Cherokee- und Arapahokinder. Die Freude zu sehen bildete doch die Hauptfreude. L'Hermite vor allem war entzückt, gab jedem der kleinen Rothäute, männlich wie weiblich, die bedenklichsten französischen Namen, unter denen petit bougre von den mildesten war, stellte dabei mehrere Jungen auf seine Schulter und blies ihnen ein Stück auf einer Blechtrompete. Das Bewundertste blieben aber doch die Tiere der Arche Noah, und Krähbiels und Nickels Anstrengungen, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Krippe hinzulenken, waren nur von halbem Erfolg. Das Natürliche war und blieb ihnen das Liebere, und so kam es denn, daß sie von dem alten weißbärtigen König aus Morgenland, trotzdem sie lächelnd Obadja in ihm erkannt hatten, nicht viel wissen wollten und immer wieder zur Arche Noah zurückkehrten. Im Flur wurde mittlerweile das Abendbrot genommen. Aber schon nach kurzer Zeit begab man sich wieder in die Halle zurück, wo jetzt von den Kindern Obadjas Lieblingslied gesungen wurde:


»Valet will ich dir geben,

Du arge falsche Welt,

Dein sündlich böses Leben

Durchaus mir nicht gefällt;

Im Himmel ist gut wohnen,

Hinauf steht mein Begier,

Da wird Gott ewig lohnen

Dem, der ihm dient allhier.«


Obadja, der schon vorher mit seinen Hausgenossen am Kaminfeuer Platz genommen, erhob sich während dieses Gesanges, alle mit ihm, sogar L'Hermite, der zwischen Spott und Rührung kämpfte. Dabei zog er die Stirn in immer krausere Falten[485] und versuchte hinter Gesichterschneiderei zu verbergen, was in ihm vorging. Als die Kinder dann zum dritten Mal an Obadja vorüberzogen, sangen sie die Schlußstrophe des schönen Liedes:


»Schreib meinen Nam'n aufs beste

Ins Buch des Lebens ein,

Und bind mein Seel gar feste

Ins schöne Bündelein

Der'r, die im Himmel grünen

Und vor dir leben frei,

So will ich ewig rühmen,

Daß dein Herz treue sei.«


Die zwei letzten Zeilen erklangen schon draußen im Flur und gingen, zur Genugtuung Obadjas, der nicht nur ein Verständnis, sondern auch eine Freude für den natürlichen Menschen hatte, sofort in Kinderlachen und heiterstes Geplauder über. Dann schritten alle, die Geschenke vorläufig noch auf dem Weihnachtstische zurücklassend, bei klarem Sternenhimmel auf die Nachbargehöfte von Nogat-Ehre zu, wo man sie, je nach der Größe der Farmen, in größeren und kleineren Trupps unterzubringen wußte. Nur die, die nach ihrer Lehrer Zeugnis die Besten waren, blieben zur Auszeichnung und Belohnung in Obadjas Hause zurück und bezogen hier ein paar Zimmer auf demselben Korridor, auf dem Lehnerts und L'Hermites Zimmer gelegen waren.


Die Hausangehörigen ihrerseits, während die Mehrzahl der Kinder in den Farmen verteilt wurde, blieben noch beisammen und gruppierten sich wieder um den Kamin. Nur Mistress Kaulbars blieb in Bewegung, machte, vom Buffet her, die Wirtin und erntete viel Lob und Zuspruch für die von ihr bereiteten Weihnachtsgerichte. L'Hermite fand die Mohnpielen »un peu curieux«, aber doch »admirable« und erklärte, wenn's irgend ginge, sich auf diesem Wege milderer Observanz zum Opiumesser heranbilden zu wollen, was er, ihm selber unerklärlich,[486] bis diesen Augenblick ungebührlich versäumt habe. Denn des Lebens Bestes sei doch immer das Ins-Vergessen-Sinken, das lehre nicht bloß le grand Buddha, sondern auch le petit L'Hermite.

Obadja lachte herzlich, gab ihm dabei die Hand und sagte: das könn ihm in Nogat-Ehre nie und nimmer bewilligt werden; er werde hier vielmehr fortleben, genau wie die Mohnpielen, »un peu curieux«, aber doch »admirable«. Was aber wichtiger sei: wenn sich ihm (Obadja) das erfülle, was er von ganzem Herzen hoffe, so werde Camille L'Hermite dermaleinst auch an anderer Stelle nicht vergessen sein. Schon die Wege des Lebens seien wunderbar, aber am wunderbarsten seien die Gnadenwege. Wer die Gnade habe, der mühe sich umsonst, sie zu verscherzen.

L'Hermite lächelte, sei's, weil er im allgemeinen oder nur persönlich allerlei Zweifel unterhielt, Obadja aber sah über das Lächeln hin und fragte Lehnert, der die zuletzt gesprochenen Worte gierig eingesogen, ob er das eben von den Kindern gesungene Lied schon gekannt habe, das »Valet will ich dir geben«.

Ja, sagte Lehnert, er hab es gekannt, denn es habe dem Liederschatze seiner heimatlichen Dorfkirche mit angehört.

»Dann weißt du auch wohl, von wem es ist?«

»Nein.«

»Aber das solltest du doch. Es ist nämlich ein Landsmann von dir, der es gedichtet hat, und hieß Valerius Herberger. Ein schöner Name, nicht wahr? Denn unsere Kirche soll eine Herberge sein, und der, der darin waltet, ein rechter Herberger. Und ein solcher Herberger war unser Valerius auch wirklich. Ihr Schlesier seid überhaupt bevorzugt in solchen Stücken, und ich möchte wohl, ich könnte von meiner alten heimischen Weichsel- und Nogatgegend dasselbe sagen. Aber wenn ich auch stolz bin auf meine Nogatheimat, so sind uns doch die Gaben, die so viel bedeuten und so mächtig sind (auch für die noch, die sich der rechten Lehre rühmen dürfen), versagt geblieben. Wir sind arm, und ihr seid reich. Da habt ihr den[487] herrlichen Mann, den Zinzendorf, denn die Sachsen und Lausitzer sind schon wie halbe Schlesier, und da habt ihr den herrlichen Paul Fleming und vor allem auch den Opitz.«

Lehnert verfärbte sich.

Als er aber sah, daß der Name voll Unbefangenheit gesprochen worden war, kam er rasch wieder zu sich und folgte mit scharfem Ohre, während Obadja fortfuhr: »Und zu diesen Erwählten unter euch, die nun dastehen als eine Säule der neuen Kirche, zählt auch der Valerius Herberger, und wie sein Glaube in seinen Liedern lebt, so lebt er auch in seinen Werken. Und ich beuge mich vor diesem Manne. Kein Märtyrer, im Sinne der alten Kirche, hat er doch dem Tode Tag um Tag ins Auge gesehen. Er war Prediger in Fraustadt in Schlesien, und in neun Wochen starb die Stadt aus, denn der schwarze Tod ging in ihr um. Mehr als dreihundert hat er persönlich unter Schulgesang mit bestatten helfen, und doch blieb er ohne Furcht und Ekel. Manche Leiche begrub er mit dem Totengräber allein. Er ging voran und sang; der Totengräber aber führte ihm die Leiche auf einem Karren nach, an dem ein Glöckchen hing, damit die Leute der Begegnung ausweichen konnten. Sein Trost war: wer Gott im Herzen und ein gut Gebet und einen ordentlichen Beruf hat und den Vorwitz meidet, dem kann der Teufel nicht ankommen und die Seuche noch weniger.«

»Ah, das ist schön«, sagte Ruth. Obadja aber nickte Ruth zu und fuhr dann fort: »Und als die Seuche fort und aus dem Lande war, da schrieb er: ›Es war all die Zeit über, als ob ein Engel mit dem Schwert mein Haus verteidigt hätte, so daß mir kein Leid widerfahren durfte.‹ Und während dieser Zeit war es auch, daß er das schöne Lied dichtete, das, wie's ihn aufrichtete, seitdem soviel tausend andere mit aufgerichtet hat.«

Die Lichter am Baum waren schon lange vorher gelöscht worden. Auch im Kamin fiel das Feuer zusammen und glühte nur noch dunkel. Aber die goldnen Nüsse blinkten in dem tiefen Licht um so goldner, und der Christengel schwebte darüber.

»Ich denke, wir trennen uns«, sagte Obadja. »Ruth, singe[488] mir noch einmal die erste Strophe. Das soll heute mein Nachtgebet sein.«

Ruth tat, wie ihr geboten.

Dann nahm Obadja das zunächststehende Licht, grüßte die noch Versammelten und ging auf sein Zimmer zu.

Auch die anderen erhoben sich bald.

»Ihr scheint bewegt«, sagte Lehnert, als er sich an L'Hermites Tür von diesem trennte.

L'Hermite lächelte. »Oui, oui. Mais cela n'importe rien. Wir sind verpfuscht, cher Lehnert, verpfuscht durch die alte Legende. Heiland, Erlöser. Bah! Le grand Sauveur c'est l'idée.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21973, S. 482-489.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Quitt
Das erzählerische Werk, 20 Bde., Bd.12, Quitt (Fontane GBA Erz. Werk, Band 12)
Quitt
Werke, Schriften und Briefe, 20 Bde. in 4 Abt., Bd.1, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes: Grete Minde / Ellernklipp / Quitt / Unterm Birnbaum / Schach von Wuthenow / Graf Petöfy
Theodor Fontane: Quitt
Quitt

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon