Neuntes Kapitel
Wilhelm von Merckel

[295] »Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern find'st du nit« ... Dieser mir Unvergeßliche, dem ich durch mein Leben hin als einem freundlich väterlichen Helfer verpflichtet bleibe, war Wilhelm von Merckel.

Wilhelm von Merckel war 1803 in Friedland in Schlesien geboren, Sohn aus einem reichen Kaufmannshause – Leinenindustrie – und Neffe des ausgezeichneten schlesischen Oberpräsidenten von Merckel. Die Studienjahre führten Wilhelm von Merckel nach Heidelberg, welchem Ort er eine große Liebe bewahrte. Gern sprach er davon, auch von einem Besuche, den er, ein Menschenalter später, der geliebten alten Stätte noch einmal abgestattet hatte. »Während ich da von der Schloßruine her in den schönen Grund hinabsah, war mir, als stünd' ich am Grab meiner Jugend.« Anfang der dreißiger Jahre kam er nach Berlin und sah sich hier in das Haus des Justizministers Mühler, des Vaters von Heinrich von Mühler, eingeführt. Er wurde der Freund des Hauses und bald auch der Verlobte von Heinrich von Mühlers Schwester Henriette. Die Vermählung fand 1836 statt. Drei Jahre später – er war inzwischen Kammergerichtsrat geworden, in welcher Stellung er bis zu seinem Tode blieb – trat er in den Tunnel. Als ich 1844 Mitglied wurde, stand Wilhelm von Merckel schon in hohem Ansehen. Ich sah mich von Anfang an weniger durch Wort und Tat als durch sein Auge, das freundlich auf mir ruhte, beachtet[295] und beinah ausgezeichnet. Es hing das wohl damit zusammen, daß er, über alles andere hinaus, in erster Reihe von Grund aus human war und in seinem tief eingewurzelten Sinne für das Menschliche, sich mit relativen Nebensächlichkeiten wie Standesunterschiede, Wissens- und Bildungsgrade gar nicht beschäftigte. »Was ist das für ein Mensch«, nur auf das hin gab er sich Antwort, und wenn diese günstig lautete, so hatte der Betreffende gewonnen Spiel. Er war das Gegenteil von dem, wofür unser Berliner Jargon jetzt allerlei groteske Bezeichnungen hat, Bezeichnungen, unter denen »Mumpitz« noch als das Zitierbarste gelten kann. Alles, was ein preußischer Patent- und Schablonenmensch mit mehr oder weniger Berechtigung gegen mich hätte beibringen können, existierte für ihn nicht oder war ihm ein Grund mehr, einem armen Jungen von Anfang an seine Liebe zuzuwenden. Und hinter meinem Rücken lieh er diesem seinen Gefühl auch Worte. Mein guter Lepel, der die schöne, hierlandes so seltene Tugend hatte, sich zu freuen, wenn einer gelobt wurde, hinterbrachte mir die guten Worte, und alle sind mir im Gedächtnis geblieben. Ich werde mich aber hüten, sie hier niederzuschreiben.

Es ging das so durch Jahre hin. Ich hatte mich seinerseits allerhand kleiner Auszeichnungen zu erfreuen, aber es kam zu keinem persönlichen Verkehr, bis das Jahr 1850 auch darin Wandel schuf. Unmittelbar nach der Schlacht bei Idstedt ging ich von Berlin fort, um, wie so viele, die mit ihrem Leben nichts Rechtes anzufangen wußten – ein Fall, der bei mir, der ich damals im fünften Jahre verlobt war, eminent zutraf –, in die schleswig-holsteinische Armee einzutreten. Was von patriotischem Gefühl so nebenher noch mit unterlief, davon will ich hier nicht reden. Ich nahm von den Berliner Freunden Abschied, natürlich auch vom Tunnel, wo man mir, eh ich noch allen ein Lebewohl gesagt hatte, ganz en passant erzählte, daß unser »Immermann« (W. von Merckel) Chef der ministeriellen Preßabteilung, des sogenannten »Literarischen Bureaus« geworden sei. Bei der Aufregung, in der ich mich befand, war ich ziemlich gleichgültig gegen diese Mitteilung, die ich nur so obenhin mit anhörte, nicht ahnend, welche Bedeutung gerade sie für mich gewinnen sollte. Den 31. Juli brach ich auf. Ich installierte[296] mich in Altona, kam aber über diese Etappe nicht hinaus, denn schon den zweiten Tag danach erreichte mich ein eingeschriebener Brief von halb dienstlichem Charakter, in dem der neue Chef der ministeriellen Preßabteilung, W. von Merckel, mir eine diätarische Stellung in seinem Literarischen Bureau anbot. Auch die Summe, die mir bewilligt werden könne, war genannt. Das alte »Jetzt oder nie« stand mir sofort vor der Seele; der Egoismus war stärker als der Patriotismus, ich nahm an, und ehe der Herbst auf die Neige ging, war ich als »Diätar im Preßbureau« installiert und sogar verheiratet. Aber wie mir kluge Leute vorausgesagt hatten – es dauerte nicht lange: zwei Monate später flog die ganze ministerielle Preßabteilung, wenigstens in ihrer damaligen, aus der Radowitz-Zeit stammenden Zusammensetzung in die Luft, und nur eine Tatsache von in gewissem Sinne sehr zweifelhaftem Werte blieb übrig: meine Verheiratung. Es sah schlimm aus. Aber das Schlimme hatte doch auch sein Gutes, und dies eine Gute war, daß Merckel von ebendiesem Augenblick an meine Frau und mich sozusagen als »sein Ehepaar« ansah, das ohne seinen so gutgemeinten Schreibebrief nach Altona hin gar nicht existieren würde, weshalb er denn auch für dasselbe zu sorgen habe. Seine Hülfe wurde nun zwar durch mich nicht angerufen – was er mir wohl auch zum Guten hin angerechnet haben wird –, aber auch ohne diesen Anruf war die Hülfe jederzeit da, vor allem dadurch, daß ich mich moralisch immer an seiner und seiner Frau Hand über Wasser halten konnte.

Zu dieser Zeit war es auch, daß ich in sein Haus kam, und da die Krisis verhältnismäßig rasch vorüberging, so brachen, als ich den Kopf wieder oben hatte, sehr glückliche Tage für mich an, die Tage Merckelschen Hausverkehrs und Merckelscher Gesellschaftlichkeit.

Ich habe später an reicheren, auch wohl amüsanteren und namentlich an politisch und international mehr bietenden Tafeln gesessen, aber einer in ihrem innersten Wesen höherstehenden Gastlichkeit bin ich nicht wieder begegnet, deshalb nicht, weil es sich bei diesen kleinen Gesellschaften niemals um eine mehr oder weniger pflichtmäßig, durch Gewohnheit oder Sitte vorgeschriebene Repräsentation handelte, sondern um[297] etwas rein Ästhetisches, das in kunst- und zugleich liebevollster Weise bieten zu können die Gastgeber fast noch mehr erfreute als die Gäste. Bis ins kleinste hinein war alles einer Idealvorstellung von Gastlichkeit angepaßt. Wirte, die sich mit einer Einzelsache beschäftigen, vom Sterlett an, der eben frisch von der Wolga kommt, bis hinunter zu Bellachini oder einem spiritistischen Nadelsucher – solche Wirte gibt es viele, Merckel aber richtete seine Aufmerksamkeit nicht auf ein Einzelnes, sondern auf das Ganze. Selbst eine harmonische Natur, mußte denn auch rund um ihn her alles stimmen und klappen; jedes Zuviel wurde vermieden, weil es nur gestört und in den bescheidenen Rahmen nicht hineingepaßt hätte.

Ja, dieser Rahmen war bescheiden, selbst nach damaliger Anschauung. Wir saßen in einem grünen Hinterzimmer, im Sommer bei geöffneten Fenstern, und hörten gedämpft den Lärm, der unten vom Hofe her heraufdrang. An den Wänden hingen Lithographien, so primitiv, als ob sie dem ersten Jahr der Steinzeichenkunst ihre Entstehung verdankten. Es waren Waldpartien aus dem Riesengebirge, Tannen und wieder Tannen. Jeder andre Zimmerschmuck fehlte. Die Zahl der Gäste stieg selten über acht oder zehn, waren es mehr, so wurde der Tisch, um mehr Platz zu schaffen, in die Diagonale gestellt, was Merckel dann seine »schräge Schlachtreihe« nannte. Epaminondas und Friedrich der Große hatten so gesiegt, und Merckel tat es ihnen nach. Die Gäste waren fast immer Tunnel-Freunde: Lepel, Eggers, ich und meine Frau, seltner Kugler und Blomberg, die, so gut sie sonst passen mochten, den leichten heitren Ton nicht trafen, den beide Merckels, er wie sie, so sehr liebten. Freilich mußte man auch aufpassen, und ich will nicht behaupten, meinerseits immer die rechte Grenzlinie gezogen zu haben. Aber es wurde mir verziehn. Dann und wann waren auch Familienmitglieder zugegen, unter ihnen die jüngste Schwester der Frau von Merckel (Fräulein Auguste von Mühler) und Gustav von Goßler – der spätere Kultusminister –, Neffe des Hauses. Ihnen gesellten sich drei schöne Fräulein Baumeister, Nichten des Generals von Werder, des Siegers vor Belfort, von denen die älteste – in Erscheinung und Wesen eine Dame von seltenem Charme – die intime Freundin der Frau von Merckel[298] war. Das Gespräch drehte sich, nach Altberliner Art, zunächst um Theater, Musik und literarische Fragen, und wiewohl ich offen bekenne, daß mir andere Themata stets lieber waren, so möcht' ich doch, soweit ich mich der Gespräche von damals noch erinnere, hier aussprechen dürfen, daß die Debatten meist sehr anregend und pointiert waren, was wohl daran lag, daß das rein Literarische, das so leicht abschmeckig wirkt, durch Persönliches immer aufgefrischt wurde. Dazu gab denn unser alter Scherenberg, den ich auch hier wieder in erster Reihe nennen muß, die schönste Veranlassung. Wie man über seine Dichtungen auch denken mag – die Schwächen derselben erkannten einige von uns auch damals recht gut –, der ganze Mann als solcher war eine nie versagende Quelle der Erheiterung für uns: seine merkwürdigen Wohnungsverhältnisse, seine Geldverlegenheiten, sein Hinundhergezerrtwerden von zwei sich befehdenden Parteien, sein Diplomatisieren mit dem ganz undiplomatischen und zur Scherenberg-Begeisterung heraufgepufften Buchhändler Hayn, seine klugen Naivitäten, sein Gefeiertwerden in Sanssouci, vor allem seine Kriegsministerialstellung, in der er sich durch seinen Freund und Vorgesetzten Heinrich Smidt gelegentlich gerüffelt sah, um dann zwei Stunden später unter Generalitäten der Gast des Kriegsministers zu sein – alle diese Dinge waren ein unerschöpflicher Unterhaltungsstoff für uns, bei dem es nicht nötig war, in öder Kunstbetrachtung immer wieder auf Ligny und Waterloo zurückzugreifen. Und solcher scherenbergisch eigenartigen Gestalten hatten wir im Tunnel sehr viele – Rhetor Schramm, Assessor Streber, Wollheim da Fonseca, Saint Paul, Leo Goldammer –, wenn auch Scherenberg selbst unbedingt der Sanspareil blieb.

Es kam übrigens noch ein andres hinzu, was unser Gespräch gerade bei diesen Merckelschen Réunions immer wieder beleben mußte. Das war der Umstand, daß uns um ebenjene Zeit, Anfang der fünfziger Jahre, die Herausgabe der »Argo« beschäftigte, von der wir uns alle viel versprachen, niemand aber mehr als unser liebenswürdiger Wirt selbst. Und das konnte kaum anders sein. Ein lebelang war er herzlich bemüht gewesen, sein Talent zu bekunden, hatte sich aber durch seine Scheuheit an jedem Erfolge behindert gesehn; er war eben nicht der Mann[299] des Umherschickens von Manuskripten oder gar des Sichbewerbens um redaktionelle Gunst. Und so kam er denn zu nichts. Aber daß es so war, das zehrte doch an seinem Leben. Und nun mit einem Male sollte das alles in ein Gegenteil verkehrt und er, der sich immer bescheiden zurückgehalten, in den Vordergrund gestellt und sogar ein Pilot unserer »Argo« werden. Denn er war ausersehn, unsrem Schiff auf dem Titelblatt den Spruch für seine Fahrt in die weit ausgespannten Segel zu schreiben. Das geschah denn auch buchstäblich. Er war wie trunken davon, und ich sage wohl nicht zuviel, wenn ich jene Zeit die glücklichste seines Lebens nenne. Jeder Plan, jeder Beitrag wurde bei Tische durchgesprochen, und wenn dann das Mahl zu Ende ging und die mit zierlich eingeschliffenen Bildern ausgestatteten, ganz altmodischen Ungarweingläser herumgereicht wurden, die schon vom Großvater her in der Familie waren, und dazu ein Wein, der an Alter hinter den Gläsern kaum zurückstand, so tranken wir auf »gute Fahrt«.

Das waren schöne Tage, schön durch vielerlei, vor allem durch den innren Gehalt dessen, an dessen Tisch wir saßen, und das führt mich dazu, hier von seinem Charakter zu sprechen. Er war der lauterste und gesinnungsvornehmste Mann, den ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe, dabei von einem tiefen Bedürfnis nach Freundschaft und Liebe. Daß er dies Bedürfnis so tief empfand und so rührend dankbar war, wenn er dem gleichen Gefühle begegnete, das hing damit zusammen, daß sein scheues, weltabgewandtes Leben ihn daran gehindert hatte, nach Art andrer um Freundschaft und Liebe zu werben. Und daß es so war, das lag wiederum daran, daß er in seinem überfeinen Sinn seiner äußeren Erscheinung von Jugend an mißtraut hatte. Klein, aber doch eigentlich wohlgebildet, zog er diese Wohlgebildetheit beständig in Zweifel und mochte sich den Blicken Fremder – und nun gar erst richtiger »Berliner« – nicht gern aussetzen. Er behandelte sich selbst wie einen »heimlich Verwachsenen« und hat sich, eine fremde Gestalt vorschiebend, in seiner bedeutendsten Erzählung »Der Frack des Herrn von Chergal« in rührender Selbstironie wie folgt geschildert. »... Nun werden sich unter meinen Lesern sehr wahrscheinlich einige jener Stiefsöhne der Natur befinden, die nicht um ihrer[300] Seele, wohl aber um ihres Leibes willen an einem bösen Gewissen laborieren, und wenn nicht von Reue, so doch von stiller Verschämtheit bedrückt, ihren leiblichen ›Verdruß‹ durch das lange Leben zu tragen verurteilt sind. Ich meine natürlich nicht jene Glücklicheren, welche durch einen notorischen, aller Welt offenkundigen Höcker der Mühe des Verbergens und Vertuschens überhoben sind, ich meine jene geheimen Dulder, denen die Natur einen feineren Schabernack antat und ihnen dadurch die Versuchung nahelegte, das störende Zuviel oder Zuwenig auszugleichen, was dann gleichbedeutend ist mit der Notwendigkeit eines unausgesetzten Lügenspiels und der ewigen Furcht vor Entdeckung.« In dieser Schilderung des Herrn von Chergal haben wir ihn selbst. Er war denn auch ganz der Mann engster Kreise; nur kein Hinaustreten ins Öffentliche. Wenn in Sommertagen seine Frau zeitweilig in den Bergen oder an der See war und er durch Wochen hin das Hauswesen allein zu führen und zu Mittag und Abend in seiner Potsdamerstraßennachbarschaft herumzutabagieren hatte, so waren das immer qualvolle Zeiten für ihn; er hatte kein Talent und keine Lust, sich mit sonderbaren Tischnachbarn und noch sonderbareren Kellnern zu benehmen. Er war überaus sensitiv. Zugleich die Friedfertigkeit selbst. Aber daneben freilich, wie das nicht selten sich findet, von einem hohen moralischen Mut, so daß der, der den Glauben hegte, sich dem kleinen Manne gegenüber etwas erlauben zu können, einer Niederlage so gut wie gewiß sein durfte. Sein feiner, vornehmer Sinn ließ ihn jeder sogenannten »Szene« geflissentlich aus dem Wege gehn, zwang man ihm dergleichen aber auf, so focht er die Sache durch. Ich erinnere mich eines solchen Vorkommnisses, das kurz vor seinem Hinscheiden spielte. Merckel war gleich nach Gründung der Schiller-Stiftung um Vorsitzenden des Berliner Zweigvereins ernannt worden, und wir hatten das Jahr darauf eine öffentliche Beratung in dem Mergetschen Schulsaal. Alles nahm seinen guten Verlauf, bis sich, kurz vor Schluß der Sitzung, ein sechs Fuß hoher, breitschultriger Medizindoktor erhob und mit ungeheurer Unverfrorenheit versicherte, »alles, was da von uns betrieben würde, sei bloß Vettermichelei; Stümper würden unterstützt, und die richtigen Leute kriegten nichts. Alles Klüngel und wieder[301] Klüngel«. So sprach der Breitschultrige, keiner Erwiderung gewärtig, und kaum daß er mit dieser seiner Rede fertig war, so nahm er auch schon den Hut und wollte verschwinden. Aber ehe er noch die Türklinke fassen konnte, sah er sich von seinem Schicksal in Gestalt unsres Merckels ereilt. »Ich muß den Herrn Doktor doch bitten, noch einen Augenblick unter uns verweilen und das Beleidigende, was er da eben gesagt, auch begründen zu wollen.« Diese Worte waren mit solchem nervösen Nachdruck gesprochen, daß der Ankläger wirklich kehrtmachte und etwas stammelte, das, soweit es ging, eine Rechtfertigung seiner Anklage sein sollte. Was er aber da vorbrachte, bewies nur zu sehr, daß er einen speziellen Fall nicht namhaft machen konnte. Die Niederlage war ganz offenbar. »Ich denke,« replizierte jetzt Merckel, indem er sich lächelnd an uns um ihn her Sitzende wandte, »wir können mit dieser Erklärung zufrieden sein. Auf allgemeine Sätze haben wir uns hier nicht einzulassen.« Der so Entlassene war ein Bild des Jammers.

Um es zu wiederholen, der kleine Mann war ein seltner Mann. Aber auch er hatte den allgemeinen Tribut an menschliche Schwäche zu zahlen. Ein so fester Charakter er war, ein so schwacher, weil schwankender Politiker war er. Dies scheint sich zu widersprechen, aber es war so. In Zeiten, wie's die vormärzlich patriarchalischen waren, wäre diese Schwachheit Wilhelm von Merckels nie hervorgetreten, denn er wäre gar nicht in die Lage gekommen, sich auf diesem diffizilen Gebiete legitimieren zu müssen. Aber die neuen Zeiten ließen ihm keine Wahl, er mußte Stellung nehmen hüben oder drüben, und dabei war er nicht immer glücklich. Indessen muß doch gleichzeitig hinzugefügt werden, daß die hierbei hervortretenden Fehler nur die natürliche Folge seiner menschlichen Vorzüge waren. Nichts gibt es auf den Blättern der Geschichte, das mich so ergriffe wie die nicht seltne Wahrnehmung, daß bedeutende Menschen oft gerade da, wo sie fehlgreifen, ihren eigentlichen Charakter in das schönste Licht stellen. Unser großer König ist beispielsweise nirgends größer als in dem Irrtum, den er bei Gelegenheit des Müller Arnoldschen Prozesses beging, und wenn er in diesem Irrtume befangen einem in allen Lebenslagen erprobten Ehrenmanne wütend seinen Krückstock nachschleuderte,[302] so war das keine Tat tyrannischer Laune, sondern das Aufbrausen eines empörten Rechtsgefühls. Daß er schließlich unrecht hatte, hebt das schöne Gefühl, aus dem heraus er handelte, nicht auf. Genauso lag es mit meinem Wilhelm von Merckel. Er war immer, wenn auch freilich auf etwas altmodische Weise, für »Freiheit« gewesen, und als sie nach den Märztagen mit etlichen Überschreitungen sich einstellte, rief er nicht bloß nach der Polizei, sondern schrieb auch sein zu einer gewissen Notorität gelangtes Lied »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten«. Und auch damit schloß er den Wechsel seiner Stimmungsansichten noch nicht ab. Denn kaum, daß die »Soldaten geholfen hatten«, so mißfielen ihm auch wieder die konservativ-orthodoxen Tendenzen, die jetzt verdoppelt zur Herrschaft kamen, und er veröffentlichte seinen schon erwähnten »Frack des Herrn von Chergal«, eine politische Geschichte, die auf die Verhöhnung eines reaktionären oder wenigstens völlig unzeitmäßigen Gebarens hinauslief. Wer ein geringstes Abweichen von einem ihm als Ideal erscheinenden Mittelkurs seiner Natur nach nicht vertragen kann, vielmehr bei Wahrnehmung jeder kleinsten Ausschreitung nach links oder rechts hin sofort Veranlassung nimmt, in das entgegengesetzte Lager überzugehen, der ist zum Politiker absolut ungeeignet. Und das traf bei Merckel zu. So kam er denn, solang er in der Unruhe der vor- und nachmärzlichen Tage stand, aus dem Unzufriedensein über die damaligen Zustände nicht heraus, aber diese Schwäche wurzelte doch auch wieder in etwas menschlich Schönem: in seinem starken Rechtsgefühl, in seiner ganz auf das Maß der Dinge gestellten Persönlichkeit.

Daß er mit ganzem Herzen an dem Tunnel hing und in natürlicher Folge davon ein überaus beliebtes Mitglied war, hob ich schon hervor. Unser Verein hatte sehr viel von ihm, menschlich, gesellschaftlich, literarisch. Seine mit Sorgfalt und Liebe geschriebenen Protokolle leiteten unsere Sitzungen ein und waren Kabinettsstücke liebenswürdigsten Humors. Vielleicht sind sie das Beste, was er überhaupt geschrieben. Auch an der eigentlichen Tunnel-Produktion nahm er teil und versuchte sich auf jedem Gebiete, lyrisch, dramatisch, in Erzählung, Idyll und Satire. Allen gemeinsam ist eine bis ins kleinste gehende[303] Detailmalerei, die, wenn sie Schwerfälligkeit und Unklarheit zu vermeiden weiß, den Mann von Fach vom Dilettanten unterscheidet. Und so war er denn in diesem auf die künstlerische Behandlung gerichteten wichtigen Punkte kein Dilettant. Aber in der Hauptsache war er's doch. Er gab eben überall nur Gastrollen, versuchte dies und das, auch mit gelegentlich großem Geschick, aber niemals empfand man: das mußte geschrieben werden. Es waren Einfälle, nicht Notwendigkeiten; »Beschäftigung, die nie ermattet.« Sein Bestes lag nach der Seite der Satire hin. In einem, nach seinem Hinscheiden unter dem Titel »Kleine Studien« erschienenen Bande finden sich zwei kurze Geschichten: der »Zensor« und der schon mehrerwähnte »Frack des Herrn von Chergal«, Erzählungen, die diesen satirischen Charakter tragen und als Glanzstücke nicht bloß Merckelscher Schreibweise, sondern überhaupt als Musterstücke gelten können. Die erstgenannte Geschichte, das damalige Zensurunwesen persiflierend, ist unter den genannten beiden die künstlerisch bessere. Ein Assessor meldet sich bei Exzellenz, dem Minister des Innern, der in den letzten Tagen wieder mehrere Zensoren wegen Unfähigkeit entlassen mußte. Die Situation ist mithin eine für den Assessor denkbar günstigste und führt dann auch um so rascher zu seiner sofortigen Zensoranstellung, als er durch Schliff und Sicherheit sogar seiner Exzellenz zu imponieren weiß. Und schon am andern Tage gibt er die Beweise seines Könnens. Aber freilich so, daß sein Eifer noch furchtbarer empfunden wird als die Laxheit seiner Vorgänger, weshalb ihn Exzellenz mit den Worten andonnert: »Gehn Sie zum Teufel.« »Nichts leichter als das«, antwortet der so ungnädig Entlassene. Denn er ist eben niemand anderes als der gute alte Mephisto in einer seiner vielen herkömmlichen Verkappungen. Auch der Teufel hat es als preußischer Zensor nicht aushalten können, und in der nächsten Morgenzeitung liest die Hauptstadt die Freudens- beziehungsweise Schreckensnachricht, »daß Preßfreiheit ausgebrochen sei«.

Die zweite Geschichte – der »Frack des Herrn von Chergal« bleibt an künstlerischer Abrundung hinter der ersten zurück, steht aber doch höher, trotzdem sie das Schicksal so vieler Satiren teilt, ohne Kommentar gar nicht verstanden zu werden.[304] Wem dieser Kommentar fehlt, der erfährt nur von einem uralten legitimistischen Erbfrack, den sein Inhaber, eben der Herr von Chergal, à tout prix bei Leben erhalten will, was dann schließlich dahin führt, daß besagter Frack infolge beständiger Ausflickungen und Änderungen gar nicht mehr er selber ist, aber trotzdem noch immer als das »unantastbare Heiligtum von ehedem« angesehen und getragen wird. Die Wendungen und Wandlungen, die das arme Ding durchmacht und die doch alle darauf hinauslaufen, in ihm etwas »Unwandelbares« besitzen zu wollen, bilden den Inhalt der Erzählung, in der man es, oberflächlich angesehen, lediglich mit einem exzentrischen oder spleenhaften alten Herrn zu tun hat, der eigensinnig an einer Schrulle festhält. Was eigentlich dahinter steckt, davon merkt man nichts oder merkt es zu spät oder merkt es falsch. Dieser Frack des Herrn von Chergal ist nämlich nichts als die altmodische ständische Verfassung, die Herr von Gerlach – Chergal ist eine bloße Buchstabenumstellung dieses Namens – unter allen Umständen konservieren wollte. Man wird dem Ganzen ein gut Stück allerliebste Originalität nicht absprechen können, aber es ist doch verlorene Liebesmüh geblieben. So war's schon in den fünfziger Jahren, und jetzt liest es niemand mehr. Aber wenn ein Zufall einem literarischen Feinschmecker das Büchelchen auf seinen Tisch führen sollte, so wird er eine genußreiche Stunde von der Lektüre haben.

W. von Merckel starb in den Weihnachtstagen 1861; achtundzwanzig Jahre später, im November 1889, fand seine Witwe Henriette von Merckel geb. von Mühler neben ihm ihre Ruhestätte. Sie hatte die Liebe, die der so lange vor ihr Heimgegangene für mich und die Meinen gehabt hatte, wie ein Vermächtnis übernommen, und wenn meine Frau und ich, zu Beginn unserer Ehe, sein »Ehepaar« gewesen waren, so waren unsere Kinder die Kinder seiner ihn überlebenden Gattin. Sie haben denn auch zeitweilig ihr Leben mehr im Hause »Tante Merckels« als im eignen elterlichen Hause verbracht, und die Rückerinnerung daran erfüllt sie bis diesen Tag mit dankbarer Freude.[305]

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 15, München 1959–1975, S. 295-306.
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