[739] Paris, den 24. Wintermonds, 2.
Verzeihen Sie mir, mein Freund, daß ich Sie immer wieder von unserer öffentlichen Meinung unterhalte; allein sie ist das Werkzeug der Revolution, und zugleich ihre Seele. Folgen Sie ihr durch alle ihre Verwandlungen, die sie seit sechs Jahren und drüber, durchgegangen ist, und Sie werden von dieser Wahrheit eben so wie ich, durchdrungen seyn. Ich setze wohlbedächtig ihre ersten Umgestaltungen noch in die letzten Zeiten der Monarchie: denn die Größe der Hauptstadt, die in ihr concentrirte Masse von Kenntnissen, Geschmack, Witz und Einbildungskraft; das daselbst immer schärfer ätzende Bedürfniß eines Epikureisch kitzelnden Unterrichts, die Losgebundenheit von Vorurtheilen in den oberen, und mehr oder weniger auch in den mittleren und niederen Ständen; die ungezwungene Mischung in Gesellschaften; die stets gegen den Hof strebende Macht der Parlemente; die durch die Freiwerdung von Amerika, und Frankreichs Antheil daran, in Umlauf gekommenen Ideen von Regierung, Verfassung und Republikanismus; die Abhängigkeit der im Übermaß genießenden Klasse von der ihren Begierden dienstbaren, die sich dadurch immer mehr emancipirte; das böse Gewissen des Hofes und der Administration, die einem Staatsbanquerott entgegen sahen; endlich die dadurch entstandene Straflosigkeit der politischen Broschürenschreiber, die zu Hunderten jetzt die Wunden des Staats sondirten, und mit gränzenloser Keckheit und Quacksalberweisheit ihren Wundbalsam darauf zu streichen sich erkühnten; – dies alles bahnte der Denkfreiheit[739] und der Willensfreiheit dergestalt den Weg, daß schon eine geraume Zeit vor der Revolution eine entschiedene öffentliche Meinung durch ganz Paris, und aus diesem Mittelpunkt über das ganze Frankreich, beinahe unumschränkt regierte. Was ich hier in so wenige Worte zusammengepreßt habe, können Sie ausführlicher und bis zum Anschauen überzeugend, in Arthur Youngs vortrefflicher Beschreibung seiner Reise durch Frankreich lesen. Von jenem Zeitpunkte an, lassen sich die Verwandlungsstufen ordentlich zählen: die erste Versammlung der Notablen; die Weigerung des Parlements, den impôt unique zu registriren; Neckers Eintritt in das Ministerium; die zweiten Notablen; die Reichsstände (états generaux); der entscheidende Schritt des tiers, der sich zur Nationalversammlung erklärte; die Eroberung der Bastille; der 5te und 6te Oktober; die Aufhebung des Adels; die Asignate; die Föderation; die Flucht nach Varennes; die neue Verfassung der Klerisei; die Konstitution von 1791; der 20ste Junius, der 10te August, der 7te September; die Republik; die Eroberungsplane des vorigen Winters; die Hinrichtung Ludwigs XVI.; die Unglücksfälle des Frühlings; der Kampf der beiden Partheien im National-Convent; der Sieg der Bergparthei am 31sten Mai; die neuen Finanzoperationen Cambons, insbesondere die Zwangsanleihe; die Aushebung von 800000 Rekruten und 40000 Pferden; die gänzliche Erdrückung aller Gegenrevolutionsbewegungen; die Brot-Taxe und das Maximum; die neue Zeitrechnung; die Hinrichtung der Königin, des Herzogs von Orleans und der föderalistischen Deputirten; und endlich noch das merkwürdige Erlöschen des Katholicismus in der Sitzung vom 17ten dieses Monats.
Man darf als ausgemacht annehmen, daß die öffentliche Meinung in einer jeden dieser Epochen sich entschieden geäußert, und zugleich von den Hauptereignissen derselben einen besondern Charakter angenommen habe. Von Stufe zu Stufe entwickelte und läuterte sich die allgemeine Vernunft, und die letzten Schritte sind nicht die unbedeutendsten gewesen: zum sichern Beweise, daß diese Kraft noch im Wachsen ist und für die Zukunft noch merkwürdige Erscheinungen verspricht. Ich weiß, daß mancher Ihrer Landsleute hoch aufschreien[740] würde, wenn er diese Stelle zu lesen bekäme: »der Himmel wolle uns vor einer solchen Vernunft bewahren!« Es ist mir ordentlich, als ob ich's hörte. Wissen Sie mir aber nicht einen Aufschluß darüber zu geben, wie es doch kommen mag, daß in einem Lande, wo es seit dem Anfange dieses Jahrhunderts die tiefsinnigsten Philosophen gegeben hat, unter einigen Gelehrten und Schriftstellern die gevatternhafteste Ansicht der Dinge noch Statt finden kann? Wer möchte für die Revolution eine Lanze brechen, wenn es darauf abgesehen wäre, die Moralität und Vernunftgemäßheit aller einzelnen Auftritte und Begebenheiten in ritterlichen Schutz zu nehmen? Allein soll man deshalb auch den bewundernswürdigen Ideenreichthum, die Menge der erhabensten Vernunftwahrheiten, die unzähligen Berührungen und Schwingungen des edelsten Menschensinnes, kurz das große Schauspiel des Ringens und Hervordringens einer solchen Masse von Geisteskräften, die bei jenen Anlässen bald empfangen und bald sich mittheilen, schlechterdings verkennen und für Nichts rechnen? Leichter ist es unstreitig, einem ganzen Volke, einem Volke von so vielen Millionen Köpfen, Verstand und Tugend geradesweges abzusprechen, und nun alles, was dort geschieht, für Werke der Bosheit und der Finsterniß auf der einen, des Blödsinnes und der Schwäche auf der andren Seite auszuschreien; leichter, von einer relativen, konventionellen Immoralität der Begebenheiten und Handlungen auf die Ruchlosigkeit der handelnden Personen zu schließen – als sich die Mühe zu nehmen, den unermeßlichen, nicht zu berechnenden Antheil, den die unvermeidliche Verkettung der in's Ganze wirkenden Ursachen und Wirkungen auf die Ereignisse des Zeitalters hat, von dem was den handelnden Personen eigenthümlich ist, gehörig abzusondern, diesen sodann in ihre sämmtlichen Verhältnisse zu folgen, und zuletzt die tröstliche Überzeugung mit nach Hause zu nehmen, daß Unvollkommenheit und Irrthum zwar allenthalben der Menschen Loose, Unsittlichkeit und Unverstand aber, zur seligsten Beruhigung der Menschheit, im Durchschnitt immer nur Resultate der Unwissenheit und Unthätigkeit sind. Wenn bürgerliche und sittliche Freiheit, wenn die Ausbildung der Geisteskräfte, die Läuterung und Veredlung der Gefühle, mit[741] Einem Worte, wenn Vervollkommnung das Ziel ist, nach welchem Nationen streben: mögen sie dann auch manchen Umweg nehmen, manchmal fallen und wieder sich aufraffen, und in Augenblicken sogar auf dem steilen Pfade zurückzugleiten scheinen; dennoch bürgt ihr Streben selbst schon dafür, daß sie ihren Zweck nicht gänzlich verfehlen können; jeder Schritt vorwärts ist ein Sieg über Hindernisse, der sie dem Ziele näher bringt. Wenn der Khan; oder der Visir seinen Sultan bekriegt, wenn Pugatschew in Rußland einen Aufruhr stiftet, so sind diese Revolutionen, was auch immer ihr Erfolg seyn mag, für das Menschengeschlecht unfruchtbar; denn die Absicht ihrer Urheber ist bloß persönlicher Eigennutz, und die Beförderung der Humanität kann ihnen nicht einmal Vorwand und Mittel seyn.
Es könnte seyn, daß ich von Ihren Landsleuten auf einmal zu viel verlangt hätte; ich erinnere mich, daß ich selbst davon ausgegangen bin, die Übersicht, die ich mir jetzt von unseren Angelegenheiten entworfen habe, meinem Aufenthalte in Paris und der vortheilhaften Lage dieses Standpunkts zuzuschreiben. Wie manches mag nicht bei Ihnen zusammen kommen, um die Gegenstände in einem falschen Lichte und durch allerlei Media zu zeigen, deren verschiedene Refraktion sie verzerren und verunstalten kann, ehe sie bis ins Auge gelangen! Wenn dies aber der Fall seyn sollte, darf man nicht hoffen, daß Ihre Mathematiker diese Refraktionen berechnen werden, sobald man sie damit bekannt gemacht hat? Der Wunsch, ich kann es nicht bergen, liegt meinem Herzen sehr nahe, daß, indem wir uns verständigen, ein reiner Gewinn für Deutschland, oder warum nicht lieber gleich für das ganze Menschengeschlecht, durch die richtigere Beurtheilung und die darnach unausbleibliche Benutzung unserer Revolution erwachsen möge. Bliebe mir diese Aussicht mit einiger Wahrscheinlichkeit verbunden, so wollt' ich mir gern in der ersten Hitze des Argumentirens ein: Paule, du rasest! zu rufen lassen, und getrost erwarten, daß meine Gründe doch nachwirken müßten. Sehr traurig aber wäre die Gewißheit, die mir auf der andern Seite werden könnte, daß der Fehler an den Augen Ihrer Beobachter läge. Leider! spricht das Evangelium wohl von der Finsterniß, die daraus entsteht,[742] wenn das Auge ein Schalk ist; aber wie diese Krankheit zu kuriren sey, davon wird nichts erwähnt, und es steht daher zu vermuthen, daß für diesen Fall sogar die in einer andern Stelle vorkommende kräftige Augensalbe, aus Speichel und Koth, nichts helfen würde.
Die Riesenschritte unserer öffentlichen Meinung werden, dünkt mich, dann erst merkwürdig, wenn man sich der Überzeugung nicht länger erwehren kann, daß sie auf den Umsturz des in unserm Zeitalter mehr als jemals herrschenden Geistes gerichtet sind. Dieser Richtung waren sich weder die ersten Urheber unserer Revolution, noch diejenigen, die seitdem als Hauptfiguren auftraten, deutlich bewußt; jetzt liegt sie indessen so klar am Tage, daß man kaum mehr an die Revolution Hand anlegen kann, ohne sie zur Absicht zu haben; und mir beweiset sie augenscheinlich die höhere Einwirkung, die bei den Schicksalen unserer Gattung mit im Spiele gedacht werden muß, wenn wir nicht auf dem Ocean der Teleologie den Kompaß verlieren, uns einem blinden Ungefähr gänzlich Preis geben, und zugleich alle Begriffe von Recht und Wahrheit, von Güte und Größe für bloße Hirngespinnste und Spiele der Einbildungskraft halten wollen. Ich will Ihre Neugier keinen Augenblick über die Natur und den Nahmen dieses Geistes schmachten lassen; es ist der allvermögende Egoismus, der bis zum Widersinn und zur Unvernunft gehegte und gepflegte Trieb der Selbsterhaltung, der um des Lebens willen vergessen macht, warum man lebt.
Mit jedem Tage wird das Anschauen klarer in meiner Seele daß ohne unsere Revolution vor jener immer gewaltiger um sich greifenden Selbstsucht keine Rettung mehr zu hoffen war. Die Beweise von ihrer Existenz und dem unbegränzten Umfange ihres Wirkens können Sie mir füglich erlassen; es bedarf nur eines prüfenden Blicks auf die Geschichte des Jahrhunderts, so steht sie da in ihrer Ungeheuersgröße, und rechtfertigt die Klagen aller unserer Moralisten über die Kleinheit ihrer Zeitgenossen. Das vervielfältigte Bedürfniß der Sinne und der Eitelkeit verschlingt die ganze physische und moralische Thatkraft des Menschen, und läßt der edleren Eigenliebe, die sich im Andren sucht und erkennt, keinen Raum. Wo fände man Gedankengröße, Schwung der Gefühle,[743] begeisternden Schönheitssinn? wo Selbstverläugnung, Aufopferung, Unabhängigkeit des Geistes? Mit haben, gewinnen, besitzen, genießen, schließt der Ideenkreis eine Kette um den Menschen, die ihn an Staub und Erde fesselt4. – Und nun das Mittel alle diese Todesbande zu lösen, jene lebendigmachende hingegen wieder anzuknüpfen? Es ist allerdings so heftig als der Zustand des Menschengeschlechts verzweifelt war; allein von seiner Wirksamkeit macht man sich keinen richtigen Begriff, bis man nicht alles in der Nähe gesehen hat. Wie die öffentliche Meinung den Umsturz der Autoritäten und Stände vorbereitet, wie sie durch denselben alles Ansehen der Person vernichtet habe, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen; die letzte große Wirkung dieser Art hat sogar die gespannteste Erwartung überrascht, und eine Klasse, deren Vorurtheile sonst unheilbar scheinen, zur Selbsterkenntniß und Selbstverläugnung gebracht. Der sanfte Tod des Priesterthums und seiner Hierarchie in Frankreich ist der redendste Beweis von der Macht der öffentlichen Meinung. Man hat es gar nicht nöthig gehabt, durch ein Dekret die Pflege des Altars vom Staate zu trennen; der Aberglaube hatte so wenig Nahrung, daß er von selbst, wie ein verglommenes Licht, ausgegangen ist. Die Wunder des 17ten dieses Monaths werden noch katholische Heiden bekehren, und was die Reformation in Deutschland bisher nicht hatte bewirken[744] können, das echte, anspruchlose Christenthum des Herzens und des Geistes, ohne alle Ceremonie, ohne alle Meisterschaft, ohne Dogmen und Gedächtnißkram, ohne Heilige und Legenden, ohne Schwärmerei und Intoleranz, als eine praktische Moralphilosophie mit den Palmen einer frohen Ahndung, wird anfangen aufzukeimen. – »Unglaube und Atheisterei!« hör' ich mir entgegenrufen. Auch diese Erscheinungen will ich nicht läugnen, da sie von der mangelhaften Einsicht und Beurtheilung, von der Gewalt der Umstände, und ich möchte fast hinzusetzen von der Erscheinung des Guten, unzertrennlich sind. Wo wächst das Unkraut üppiger, als auf gegrabenem Erdreich? Allein es hieße doch ein gar zu schlechtes Zutrauen zu der Wahrheit haben, wenn man befürchten sollte, daß sie allein sich selbst gelassen, unter dem Schilde der Freiheit nicht gedeihen könne.
Ich komme zur letzten und mächtigsten Wirkung der Revolution und der ihr inwohnenden Kraft der öffentlichen Meinung. Sie hat der Habsucht, der Gewinnsucht, dem Geitze, mit Einem Worte, der ärgsten Knechtschaft, zu welcher der Mensch hinabsinken konnte, der Abhängigkeit von leblosen Dingen, einen tödtlichen Streich versetzt. Die Finanzoperationen des National-Convents zweckten schrittweise dahin ab. Indem man den Wechsel- und Aktienhandel verbot, indem man eine Zwangsanleihe ansetzte, die den Kapitalisten und Rentirer traf; indem man alle Staatsschulden in ein Buch einschreiben ließ; indem man die Ausfuhr aller Waaren, die zu den Bedürfnissen des Lebens gerechnet werden, untersagte; indem man endlich die Handwerker requirirte, daß sie für den Staat arbeiten, und die junge Mannschaft des ganzen Landes, daß sie ihren Herd verlassen und die Gränzen decken sollte: lehrte man die ganze Nation Aufopferungen machen, die dem Eigenthum einen Theil seines eingebildeten übermäßigen Werthes benahmen. Die Vorstellung, die sich dem Gemüth des Bürgers allgemein vergegenwärtigte, daß die Noth Aller von jedem Einzelnen die Beisteuer seiner Habe, seiner Kräfte, seines Blutes sogar verlange, machte ihn gewissermaßen schon von allen diesen Gegenständen los. Die kriegführenden Mächte aber dürfte es befremden, daß nichts so kräftig zu dieser moralischen Emancipation beigetragen[745] hat, als die Maßregeln, wodurch sie uns den meisten Abbruch zu thun glaubten. Der Verlust unsres auswärtigen Handels, die abgeschnittene Zufuhr von Lebensmitteln, die daraus erfolgte Brot- und Waaren-Taxirung und die strenge Bestrafung derer, die sich des Aufkaufs schuldig machen: was haben sie anders als Geringachtung des todten, unbrauchbaren und sogar gefährlichen Reichthums auf der einen, und Mäßigkeit, genauere Haushaltung, Einschränkung, Entsagungen aller Art auf der andren Seite, zuwege gebracht? Die Einfalt in den Sitten; die Verbannung alles Luxus, sogar der silbernen Löffel von den Tafeln; die auf das bloß Unentbehrliche und Unscheinbare zurückgeführte Kleidertracht; die enthusiastische Liebe zur Gleichheit, der jede Auszeichnung einen Verdacht einflößt; – alle diese durch den Drang der Umstände hervorgebrachten und von der öffentlichen Meinung geheiligten, stillschweigenden Übereinkünfte, haben vollends gegen Geld und Gut und Eigenthum aller Art einen Grad von Gleichgültigkeit erzeugt, der, ohne eine ausdrückliche Verordnung, die Menschen auch in Absicht der Glücksgüter für den Augenblick wenigstens näher rückt, und ihren Geist von den äußeren Dingen unabhängiger macht, als man es sich im Auslande vorstellen kann. Gewiß, den Reichthum unbrauchbar zu machen, war das bewährteste Mittel, ihn verachten zu lehren. Es ist beinahe buchstäblich wahr, daß Brot und Eisen noch unsre einzigen Bedürfnisse sind; und daraus folgt, wenn nicht die Weisheit aller Jahrhunderte trügt, daß wir so gut als unüberwindlich seyn müssen.
Was die öffentliche Meinung noch nicht erzwingen konnte, das ergänzt überall, wo es noch nöthig ist, die Revolutionsarmee: ein Corps, das in verschiedenen Theilen der Republik zusammenberufen wird, um den saumseligen, oder auch noch selbstsüchtigen Gutsbesitzer, den reichen Pächter, den in die Scheuren sammelnden Landmann zur Ablieferung seines Überflusses in die Stadtmagazine anzutreiben. Diese Armee, deren Detaschements von keiner großen Stärke sind, entlehnt im Grunde, wie ich ihnen schon gesagt habe, von der Entschiedenheit der öffentlichen Meinung ihren Nachdruck. Es scheint Menschen zu geben, die sich lieber die Täuschung des Zwanges machen, als freiwillig zu den Bedürfnissen ihrer[746] Mitbürger beitragen wollen: eine Erscheinung, die bei der übergroßen Liebe zum Eigenthum nicht befremdend ist. Die moralische Wirkung bleibt indeß eben dieselbe, wenn sie gleich um etwas verspätet wird: man tröstet sich endlich, wenn man sieht, daß es dem Nachbar um nichts besser ergeht, daß man nothdürftig zu leben hat, und daß niemand des Überflusses froh werden kann. Was anfänglich Ergebung in die Nothwendigkeit ist, wird durch fortgesetztes Nachdenken endlich zur Anerkennung der Gesellschaftspflicht, der Billigkeit gegen den nothleidenden Mitbürger; und auf diese Weise wird endlich der härteste Boden weich genug, um die süßen Früchte der Humanität: Aufopferung, Mittheilung, Nächstenliebe und Vaterlandsliebe, zu tragen.
Die ersten Schritte sind jederzeit die schwersten: sie waren es auch in diesem Falle. Man hielt es beinahe für unmöglich, das Agiotage zu tödten; die Strenge der Gesetze und das allgemeine Gefühl der Nation, das sich gegen den Eigennutz der Kaufleute empörte, brachten gleichwohl die Assignate bald wieder in Kredit. Jetzt blieben aber noch die vorigen ungeheuren Preise; der Verkäufer gewann nur um so viel mehr. So entstand die Nothwendigkeit der Waaren- Taxirung. Das Gesetz war anfänglich unvollständig abgefaßt; man hatte weder dem großen noch dem kleinen Verkäufer einen billigen Gewinn ausgeworfen: und dennoch bewirkte die Allgewalt der Opinion, daß selbst in Paris keine vollkommene Stockung des Handels entstand. – Jede vorhergehende Maßregel verbreitete ein neues Licht über den Zustand der Nation; und je mehr sie sich über ihr eigenes Interesse unterrichtet, je mehr sie die Ideen simplificirt und in den gehörigen Zusammenhang bringt: desto leichter und schneller folgt sie der Impulsion, welche sie von ihrem Haupte, dem National-Convent, erhält. Jetzt, da der Begriff gehörig entwickelt ist, daß die Stärke der Republik in den Aufopferungen der einzelnen Bürger besteht, jetzt darf man alles von den Franken erwarten, was die Bedrängnisse und Bedürfnisse der Zeit noch verlangen können.
Die unermüdete und beispiellose Thätigkeit des National-Convents war Anfangs nothwendig, um diese Nationalkraft zu wecken und in Schwung zu bringen. Gegenwärtig bedarf[747] er sie, um das Zutrauen der Nation, durch die zweckmäßige Anwendung der in ihm selbst unstreitig in hohem Grade vorhandenen Talente, Kenntnisse und Ressourcen aller Art beizubehalten. Es wäre wohl der Mühe werth, wenn auch nur flüchtig, doch in einigem Detail, die wissenschaftlichen Arbeiten des Convents durchzugehen, um das wichtige Resultat überzeugend darzustellen, daß die Entwickelung der Verstandeskräfte mit der Revolution Schritt gehalten hat, wenn auch die jetzige Versammlung mit der konstituirenden im Punkt des Genies und der geschmackvollen Talente sich nicht messen kann. Allein jene Arbeitsamkeit, jene Lichtmasse von Vernunft, jene nie sich verläugnende Energie im Augenblick der Gefahr, jenes vor Aller Augen aufgesteckte Beispiel der Selbstverläugnung – erhoben sie nicht auch den National-Convent auf eine Höhe der Unumschränktheit, wo sie nur die öffentliche Meinung erhalten kann? Ohne Auszeichnung, ohne irgend etwas Äußeres, das die Sinne besticht, ohne Vorzug, und selbst ohne Autorität außer ihrem Versammlungssaale, ohne prätorianische Wache, endlich noch des Vorrechts der Unverletzbarkeit beraubt, herrschen die Repräsentanten des Volkes durch die öffentliche Meinung ohne Widerrede über vier und zwanzig Millionen Menschen. Nie befolgte man ihre Dekrete mit unbedingterem Gehorsam, nie war der Nahme des National-Convents so die allgemeine Losung des Beifalls, des Zutrauens und des republikanischen Stolzes.
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