4

[748] Paris, den 1sten des Eismonds,

(Frimaire) 2.


Ich kann es mir nicht versagen, m. Fr., Ihnen in diesen langen Winterabenden eine Gespenstergeschichte zu erzählen. Hören Sie mir einige Augenblicke zu. Einer von meinen Jugendfreunden, der in H... studierte, reiste auf dem Postwagen nach Berlin, und war, wie es bei dem langweiligen Fuhrwerk und im Sande leicht möglich ist, sanft eingeschlafen. Als er wieder erwachte, war es finstre Nacht; allein er sah ganz deutlich eine lange Riesengestalt neben dem Wagen hergehen. Sie war durchaus leuchtend, und verbreitete einen matten[748] Schein um sich her. Von Zeit zu Zeit schien sie sich in andre Formen zu verwandeln; bald schwebte sie einige Schritte weit voran, bald trat sie drohend näher, als wollte sie einsteigen und neben den Passagieren Platz nehmen. Mein Freund – er war ein Mediciner – wußte nicht, was er von der Sache denken sollte. Die Herren von der Fakultät pflegen sich bekanntermaßen an die handgreifliche, sichtbare Natur zu halten und vor dem Reiche der Geister keinen Respekt zu haben; in den anatomischen Heften seines Professors stand auch keine Sylbe von dem zarten Lichtkörper, Evestrum genannt, der nach dem Tode übrig bleibt und des immateriellen Geistes Hülle werden kann, wie davon weiland Herr Crusius, ingleichen mancher hochwürdige Schüler des erleuchteten Rosicrucius, des Breitern nachzulesen sind. Inzwischen machte ihn die Erscheinung doch ein wenig irre; er rieb sich etlichemal die Augen, und sah nur immer deutlicher und gewisser den furchtbaren Schatten einherschreiten, der vielleicht gar um seines Unglaubens willen nichts Gutes mit ihm im Sinne hatte. Dieser Gedanke that Wunder: der junge Mann hatte Muth, und faßte auf der Stelle den Entschluß, dem Feinde zuvorzukommen; oder – daß ich seiner Vernunft nicht Unrecht thue – er schämte sich der ersten Anwandlung eines unphilosophischen Zweifels, und wollte durch ein entscheidendes Experiment das Gespenst auf die Probe stellen und sich selbst bestrafen. Im Augenblick war sein Degen, den er zwischen den Füßen hielt, aus der Scheide; und als der leuchtende Bewohner der Unterwelt wieder in den Wagen guckte, führte unser Held einen mächtigen Hieb, der ohne Widerstand mitten durch den Lichtkörper, wie Diomedes Schwert durch einen Olympier, oder Bonnets Scheere durch einen Polypen, fuhr, und außer einem leisen Knistern weiter keine Wirkung nach sich zog. Trotziger als je, wandelte der schaurige Drache neben dem Wagen; und wer weiß, wohin es mit dem Unglauben meines neuen Celsus gekommen wäre, hätte er nicht von ungefähr einen Lichtfunken an seiner Klinge kleben sehen. Er griff zu – und siehe da! es war ein Johanniswürmchen, ein kleiner Leuchtkäfer, einer aus einem gedrängten Schwarm von vielen Myriaden, die in einer schwülen Nacht, wie Mücken an der Abendsonne, ihr luftiges Wesen trieben. –[749]

»So endigen sich die Mährchen alle!« werden Sie sagen, und ein wenig schmollen, daß ich nichts Besseres zu erzählen wußte. Haben Sie noch immer freundliche Nachsicht, und hören Sie auch den Kommentar oder die Nutzanwendung; denn, frei gestanden, bloß um dieser willen steht das Geschichtchen da. Ich möchte Sie nehmlich gern bestechen, mich noch einmal über den Gegenstand anzuhören, von dem ich Ihnen bereits so manches vorgeplaudert habe; Ihrem Verlangen nach Details und Thatsachen möcht' ich noch eine kleine Frist abgewinnen. Was hätten Sie auch davon, mein Gespenst so frühzeitig niederzusäbeln und sich und Andern die Illusion zu stören? Zu der Mikrologie, die sich mit den einzelnen Käferchen beschäftigt, bleibt es immer noch Zeit genug. Erst lassen Sie uns die Gattung als ein Ganzes betrachten; wahrhaftig, ein Ganzes, das dem Philosophen sein Concept verrückt, und wären seine Elemente nur Ameisen, verdiente doch schon als solches einige Aufmerksamkeit. Nun aber gar dieses, wovon ich Sie bisher unterhielt, das nicht bloß von einem gemeinschaftlichen Geiste getrieben wird, sondern sich desselben auch bewußt ist! Ändert das nichts an der Sache? Ist die Erscheinung, die ich vor Ihnen heraufgezaubert habe, nur noch ein bloßes Ding der Einbildungskraft, nur ein Insektenschwarm, dem die Furcht oder der Aberglaube Einheit und Seele verleiht? Gewiß, m. Fr., Sie können es nicht in Abrede seyn, daß der Geist der bürgerlichen Gesellschaft ein wahrer Geist genannt zu werden verdient; denn er ist ja der Vereinigungspunkt aller der Intelligenzen, aus denen die Gesellschaft besteht.

Was von der Gesellschaft im ruhigen Zustand gilt, das gilt auch noch von der Revolution; sie hat ihren eigenthümlichen, sich bewußten Geist, und ich halte es, Scherz bei Seite mit ihrer Beobachtung im Ganzen und Großen. Bewußtseyn ist unsere erste und letzte Kunst, worin wir täglich Fortschritte machen können, ohne sie vollständig zu erlernen, oder ganz zu erschöpfen. Auch der gährende Staat scheint nur allmählig zur Erkenntniß seiner Kräfte, und später noch, seiner Bestimmung, zu gelangen; allein am Thermometer der öffentlichen Meinung glaub' ich wahrzunehmen, daß dieses moralische Rückwirken auf sich selbst, bei dem unsrigen bereits einen[750] kleinen Anfang genommen hat. Alles in der Natur ist verwebt und verbunden, und der Einfluß der Staaten auf einander gehört zu den Wirkungen, die auch gröberen Sinnen bemerkbar sind. Es gab einen Augenblick in unserer Revolution, wo das Bewußtseyn dieser auswärtigen Verhältnisse sich ungefähr auf eben die Art wie bei Kindern äußerte, die alles was sie gewahr werden, entweder in den Mund stecken, oder zerzausen wollen. Die Wehrlosigkeit unserer Nachbaren machte das Spiel für sie gefährlich; und wenn mir irgend etwas ihre künftige Ruhe bei unserer fortdauernden Gährung verspricht, so ist es das Außerordentliche im Gange der Begebenheiten, welches sie, beinahe gänzlich ohne ihr Zuthun, gerettet hat.

Durch diese Rettung hat unsere Selbsterkenntniß einen großen Schritt vorwärts gethan. Sie ist freilich noch nicht auf dem Punkte, wo ich sie wünsche; noch ist zu viel Muthwille, und ein gewisser jugendlicher Übermuth in dem Gefühl unserer Kräfte; noch ist die Überzeugung, daß zwar Einer für den Andern, aber nicht Alle für Einen vorhanden sind, in der Anwendung auf das Verhältniß der Staaten, nicht allgemein. Indeß bringen uns die Ereignisse eines jeden Tages dieser Reife näher, und was sie jetzt noch zu verzögern scheint, sind vielleicht eben so unrichtige Vorstellungen von einer andern, Seite, die mit unausführbaren Projekten in Verbindung stehen. Dahin rechne ich, zum Beispiel, die Wiederherstellung der alten monarchischen Regierungsform, oder auch die Usurpation eines Protektors, oder desgleichen.

Mein Leuchtkäfergespenst muß mir hier gleich noch einmal Dienste leisten. Die merkwürdige Erscheinung unserer Revolution hat mit ihm auch diese Ähnlichkeit, daß ihre einzelnen Bestandtheile beinahe völlig gleichartig sind, und sich vor einander weder durch disproportionirliche Größe, noch anderweite Überlegenheit auszeichnen. Die Menschen, mit andern Worten, die man in unserer Revolution vorzüglich wirken sieht, ragen nicht wie Halbgötter in ihrer Kraft über ihre Mitbürger hervor, und unter ihnen wird man keinen gewahr, vor dessen höherem Genius die Seelen der Andern sich neigten. Man möchte daher zweifeln, ob die Revolution mehr für die Menschen, als die Menschen für die Revolution gemacht[751] sind? Beides trifft vermuthlich zusammen. Das Princip der Gleichheit hätte nicht leicht ein so entschiedenes Übergewicht erhalten, wenn eine auffallende, anerkannte Ungleichheit unter den Menschen ihm entgegengewirkt hätte; und gerade solche homogene Menschen kommen hernach mit diesem Princip am weitsten.5

Es ist wahr, in Revolutionszeiten wird den Principien öfters durch willkührliche Ausdehnung Gewalt angethan; auch bei uns hat man – wiewohl ich hier eine fremde Einwirkung in Verdacht habe – unter dem Vorwande der Gleichheit vom Ackergesetz gesprochen, alles Eigenthum aufheben, durch Herabwürdigung aller Geistesvorzüge eine wilde Barbarei herbeiführen, und ihre natürliche Folge, das Recht des Stärkern, wogegen wir eben kämpfen, wieder geltend machen wollen. Der Umweg mochte so übel nicht ausgedacht seyn; indessen gährten diese Excentricitäten hier und dort nur einen Augenblick: im nächsten vertilgte sie der allgemeine Umschwung der Revolutionskräfte, und stellte die Vernunft siegreich wieder her. Sie mußte wohl in allen Gemüthern schon rege und über gewisse Hauptwahrheiten ins Reine seyn, um so, wie es jetzt geschieht, gleich bei ihrer Erscheinung die Huldigung des ganzen Volkes zu erhalten!

Aus dieser Anregung der Verstandeskräfte, die wir der demokratischen Regierungsform verdanken, und aus der vorhin[752] erwähnten Gleichartigkeit der jetzigen Generation folgt mit der höchsten Wahrscheinlichkeit die Sicherheit und Dauer der Republik. Die Grundsätze der republikanischen Freiheit haben bei uns überall desto tiefere Wurzel geschlagen, je mehr sie simplificirt worden sind, und sich daher von jeder Fassungskraft aneignen lassen. In Frankreich wachen wenigstens fünfmalhunderttausend Menschen über die Gesinnungen eines jeden Bürgers und die Anmaßungen eines jeden öffentlichen Beamten. Wer wäre jetzt so kühn, sein Haupt über die Menge zu heben? Wer wagte es, auch nur Demuth zu heucheln und es tiefer als die Anderen zu beugen?

Die übrigen Wirkungen des Revolutionsgeistes kommen noch hinzu, um den Raub der obersten Gewalt so gut als unmöglich zu machen. Alle Oberherrschaft hat man nicht bloß hassen, sondern auch verachten gelernt; alle Götzen liegen im Staube; alle Vorurtheile sind zertrümmert; der Reichthum hat seine Reitze, die Bestechung ihre Kraft verloren; die öffentliche Meinung verurtheilt, noch schneller als das Revolutionstribunal, jeden Volksverräther; vor beiden gilt, wie unzählige Beispiele lehren, kein Ansehen der Person, und die freiwillige Aufopferung ist an der Tagesordnung. Hundert Dolche würden den neuen Cromwell durchbohren, eh' er als Protektor geschlafen, – was sage ich? – eh' er sich selbst noch recht seinen Ehrgeitz gestanden hätte!

»Es daure die Republik, und unser Nahme mag vergehen!« Dies ist die oft wiederholte Losung unserer Volksvertreter. In Dantons Munde lautete sie einst noch schwärmerischer: que la patrie soit sauvée, et que mon nom soit flétri! Man lacht und spottet in Deutschland über diese Rednerfloskeln diese Deklamationen, dieses Wortgepränge, wie man es nennt, hinter dem sich oft ein fühlloses Herz und ein schaler Kopf verbirgt. Ich gebe Ihnen willig zu, daß die Übertreibung in Worten, daß eine gewisse hohle Begeisterung im Sprechen, daß der Kitzel, sich peroriren zu hören, zum Französischen Nationalcharakter gerechnet werden müsse, und ich streite Ihnen keine einzige der üblen Folgen ab, die tausendfältig aus dieser geräuschvollen, geschwätzigen Lebhaftigkeit und Reitzbarkeit erwachsen. Wenn ich aber auch noch obendrein gestehen sollte, daß bei uns der Weg zum Herzen mehren[753] theils durch den Kopf geht, (eine vollgültige Ursache, warum fast alles bei uns auf dem halben Wege dahin stecken bleibt): so fordere ich desto zuversichtlicher von Ihnen die Anerkennung der davon unzertrennlichen Wahrheit, daß der Kopf eines Franzosen außerordentlich thätig, für Ideen empfänglich und mit ihrer Verarbeitung sehr beschäftigt ist. Bisher waren es, leider! Frivolitäten, womit unsere Landsleute, zur großen Zufriedenheit ihrer Herren, ihr Possenspiel trieben; es tanzte und pfiff beständig im Hirn eines Franzosen, wie in seinen äußern Organen. Jetzt kamen aber ernsthafte wichtige Vernunftwahrheiten in Umlauf; die Umstände gaben ihnen Nachdruck und Interesse; uns ging so manches neue Licht auf; wir nahmen das neue Thema und die neuen Ideen begierig hin, und fingen an, rascher als je unserer Einbildungs- und Denkkraft auf diesem Felde freien Lauf zu lassen. O mein Freund, huldigen Sie mit mir der Wahrheit; bekennen Sie, daß nichts so kräftig auf den Willen wirkt, als die einmal erkannte Wahrheit. Jenes video meliora, proboque; deteriora sequor, ist in der That nur die Entschuldigung eines Schwachkopfs; denn was der Verstand stark und fest ergriffen hat, dem muß das Herz folgen. Hier trete nun die Erfahrung auf, und gebe Zeugniß. Haben wir seit dem Anfange der Revolution bloß geschwatzt, oder nicht auch gethan?

Ich begegne dem Einwurf, »ob denn die Sprecher auch immer die Handelnden waren?« In einzelnen Fällen mag es sich so zusammengefunden haben; allein im Ganzen, wenn beides getrennt war, so thut es nichts zur Sache. Ist die Wirkung für die Revolution, für die Republik, nicht dieselbe? Daß man es noch immer nicht begreifen kann oder nicht begreifen will, wie unabhängig bei uns das Ganze vom Einzelnen ist! Ihre Politiker, Ihre Philosophen suchen immer noch die Republik und die Revolution in diesem oder jenem Kopfe. Lassen Sie sich diese Grille vertreiben; sie ist bei uns de l'ancien régime und völlig aus der Mode. Befragen Sie einmal einen unserer Republikaner, ob das Heil seiner Republik an Robespierre'ns, an Dantons, an Pache'ns, Heberts, oder irgend eines andern Patrioten Leben hängt? Er wird ihnen antworten, daß er Volk keines Menschen Nahmen etwas weiß, wo von dem Volk und Staat die Rede ist. So verschwinden die einzelnen Käferchen[754] vor dem Auge des Beobachters; ihr Licht gilt nur in der Masse, wo es sich mit 24 Millionen multiplicirt. Was liegt uns daran, ob dieser nur sprechen, jener nur handeln kann? Wenn dort die Vernunft hier den Arm in Bewegung setzt, so ist der Endzweck des Staats erfüllt.

»Wird aber der Arm solchergestalt nicht öfter den Privatleidenschaften, als dem gemeinen Besten dienen?« – Mir ist bei dieser und ähnlichen Fragen immer so zu Muthe, als fragte man, ob die Franzosen wirklich auch lauter Engel sind. In der That, das sind sie so wenig, als lauter Teufel. Die große Aufgabe der Staatskunst ist die gehörige Einschränkung der Leidenschaften und ihre Unterwerfung unter das Gesetz der Vernunft. Jeder einzelne Mensch reift zuerst zur physischen Vollkommenheit, zur Erfüllung des Zweckes seines physischen Lebens, und spät entwickeln sich in ihm die Früchte des Nachdenkens und der Erfahrung. Der Bürger soll daher von seiner Verbindung mit seines Gleichen über den bloßen Naturmenschen den Vortheil genießen, daß eine Macht, die mit seinen Trieben nichts zu schaffen hat, eine Macht, deren einzige Grundkräfte Vernunft und Gerechtigkeit sind, für die Entwickelung seiner sittlichen Anlagen sorgt, und sie mit der physischen Bildung Schritt halten läßt. Wem der Staat etwas anderes ist, als diese für die sittliche Vervollkommnung waltende Macht, der darf mich nicht nach der Tugend und Sittlichkeit meiner Landsleute fragen; wer hingegen mit mir hierüber einverstanden ist, wird der von dem ersten Ringen eines Volkes, das seine Vernunft frei haben will, um sich jene zur sittlichen Vervollkommnung führende Verfassung zu schaffen, schon die Wirkung verlangen, die erst die Frucht einer solchen Verfassung seyn kann?

Allerdings mußten heftige Leidenschaften bei der Revolution mit einander in Kampf gerathen, und ihrem Zwecke bald günstig, bald hinderlich seyn. Wenn man aber fragt, ob je die Revolution lediglich den Leidenschaften dieses oder jenes Ehrgeitzigen, dieser oder jener Parthei gefröhnt habe oder noch fröhnen werde? so muß ich nach der Geringfügigkeit und Gleichheit der einzelnen Personen im Verhältniß zur Größe des Staats, nach der Kleinigkeit ihrer Leidenschaften selbst, nach der redlichen Vaterlandsliebe, die wenigstens eine[755] große Menge der Einwohner Frankreichs beseelt, nach der Richtung der Revolution und dem Gange, den sie nun einmal genommen hat, nach der allgemeinen Aufklärung des Jahrhunderts, und den in unsrer Volksmasse verbreiteten geläuterten Grundbegriffen, kurz, nach der Vernunft, die von der öffentlichen Meinung, wenn nicht immer rein empfangen, doch immer rein verlangt wird – nach diesem allen muß ich schließen, daß alle die feindseligen Leidenschaften, die bei dem Umsturze verjährter Zwangsformen legionenweis hervorbrechen, sich beständig in Tugend und Weisheit so tief verhüllen müssen, daß die Verkleidung ihnen das Gehen erschwert, und ihre Befriedigung dem großen Zwecke der Revolution stets untergeordnet bleibt.

Ich will hier nur das auffallendste Beispiel, den vollkommenen Sieg der Bergparthei, erwähnen. Wenn sie in diesem Augenblicke das Ruder führen, bringt nicht jeder Tag die Überzeugung unläugbarer mit sich, daß sie es als Diener, nicht als Gebieter des Staates thun? Der Geist der Revolution, den sie selbst heraufgerufen haben, erzwingt von ihnen Tugenden und Opfer, woran einige von ihnen vielleicht bei dem Eintritt in diese Laufbahn nicht gedacht haben mögen. Sie regieren; aber sie stehen unter der wachsamsten Aufsicht, und die heiligste Verwaltung des Volksinteresse ganz allein kann ihnen die Stütze der öffentlichen Meinung sichern. Sie haben ihre Rache befriedigt; aber der Staat ist einer tödtlichen Spaltung entgangen. Sie wenden Tausende von Millionen für Staatsbedürfnisse auf; aber sie haben den Reichthum verächtlich gemacht, und müssen Muster der Selbstverläugnung und der republikanischen Sitteneinfalt seyn. Wenn sie, wie es dem Menschen so natürlich ist, ihren Zweck vor seiner Erreichung für ganz etwas anderes hielten, als die Erfahrung hernach es auswies; so müssen sie jetzt inne werden, daß die kleinste Anmaßung den Strom der öffentlichen Meinung gegen sie richtet und ihnen selbst das Schicksal ihrer Gegner bereitet. – Wer zieht nun von ihrem Ehrgeitze den Gewinn?

Leicht könnten also die ehernen Gesetze der Zeit und Nothwendigkeit jenen vorhin erwähnten Ausruf, bei dem man sich etwa nur dachte: es ist doch schön und groß gesagt! zum Princip der Handlungen derer machen, die ihn zuerst auf der[756] Rednerbühne erschallen ließen. Sobald wir aber erkennen müssen, daß die Vorsehung durch die Revolution ganz andre Zwecke, als die Befriedigung der Leidenschaften einer Handvoll Ehrgeitziger, erreichen will, – und dies ist augenscheinlich, indem die Revolution von diesen einzelnen Personen unabhängig ist –: so bald gewinnt auch diese große, und in mancher Rücksicht beispiellose Begebenheit in ihren allgemeinen Verhältnissen eine so überwiegende Wichtigkeit, und ihr Totaleindruck wird so kolossalisch, daß ich mich nie genug wundern kann, wenn Menschen mit gesunden Augen nach dem Vergrößerungsglase greifen, um in der Atmosphäre dieses Kometen Sonnenstäubchen tanzen zu sehen.

»Wer ist nun aber dieser Geist des stürmenden Frankreichs? Ists am Ende ein guter Geist oder ein feindseliger Dämon? ein Meteor, das blendend durch die Lüfte fährt, zerplatzt und keine Spur seines Daseyns hinterläßt, oder ein kräftiger Hauch des Lebens, der in den Abgrund der Zeiten hinabsteigt und die kommenden Generationen zu einer noch nie gekannten Entwickelung vorbereitet?« – O, mein Lieber! wie kann ich Ihnen antworten? Fragen Sie Ihre Weisen und Schrift gelehrten, ob jenes halsstarrige Volk, das wüthend über sich und seine Kinder das Blut des Gerechten herabrief, nicht vor den Augen des Menschengeschlechts, ein Denkmahl seiner Verblendung, unheilbar durch Jahrtausende, in der Welt hat umherirren müssen! Und alsdann fragen Sie Ihr Herz: was wird das Loos eines Volkes seyn, das allen Gräueln der innerlichen Zerrüttung und allen Schwertern Europens muthig entgegenkämpft, und bei jedem neuen Kummer, voll der edelsten Selbstverläugnung, aus allen Städten und Dörfern, in den rührenden Trostgedanken ausbricht: »es kommt unsren Kindern und Kindeskindern zu Gute!« – Doch ich will Ihnen sagen, was ich sehe. Ein helles Licht spielt um seine Locken; vom Blute der Erschlagenen trieft sein Schwert. Zürnend, wie der Fernetreffer Apoll, blickt er über seines Landes Gränzen, und ich vernehme deutlich die Donnerworte: discite justitiam moniti![757]

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 3, Leipzig [1971], S. 748-758.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon